Donnerstag, 24. April 2025

SPD-Mitglieder*innenentscheid: Was bleibt uns denn noch übrig

SPD sichert Neuaufbau Mitgliederentscheid
Wieder geht es um Neuaufbau. Und wieder steht die SPD in der Pflicht.

Serhac W. aus Essen ist grundsätzlich dagegen. Gestern erst machte er seinem sozialdemokratischen Herzen Luft und er schlug den Koalitionsvertrag rundheraus zur Bank, den Union und SPD miteinander ausgehandelt haben. Zu viele schwarze Positionen. Zu wenig sozialdemokratische Handschrift, so schrieb der Heizungsmonteur, der aus einer traditionell roten Familie stammt. Rudolf Kailer aus Bautzen hat den Text gelesen. Und sich "schrecklich aufgeregt", wie er sagt.  

Unbeugsamer alter Sozi

Auch Kailer ist ein "alter Sozi", wie er selbst sagt, "unbeugsam", nennt er sich selbst. Als Gerhard Schröder damals Kanzler wurde, hat der heute 62-Jährige gefeiert, denn der soziale Neoliberalismus des Niedersachsen gefiel dem gebürtigen Ostdeutschen sehr. Leistung und Selbstbestimmung seien ihm, der im Herbst 1989 immer wieder auf der Straße war, ganz besonders wichtig. Mit dem Koalitionsvertrag habe er deshalb "auch so" seine "Probleme". Kailer sagt, es sei ihm "zu viel Merkel und zu wenig Helmut Schmidt" in dem Papier. Doch gibt es eine Alternative? Der Schalenmonteur, der seit zwei Jahren gesundheitsbedingt im Ruhestand ist, sagt nein.

"Warum ich als alter Sozi für den Koalitionsvertrag stimme (und warum ihr das auch tun solltet)" hat er seine Erwiderung an Serhan W. überschrieben. Kailer rechnet nicht damit, den "Genossen aus dem Westen" umstimmen zu können. "Der schien mir doch sehr festgefahren in seiner Kontrahaltung". Aber vielleicht erreiche er ja den einen oder anderen in der Partei. "Ich höhre ja von meinen Genossen hier, dass viele noch überlegen."

Bloß nicht verzagen

Ich bin also der Rudolf, 62 Jahre alt, früher Montagearbeiter, geboren in Bautzen, hier aufgewachsen und immer noch zu Hause. Und ich sage euch gleich zu Anfang: Verzagt nicht! Ich hab mein Leben lang für die rote Fahne gestanden – und das nicht nur, weil ich mal auf einer Maikundgebung zu tief ins Bierglas geguckt hab. Mein Opa hat schon 1919 in der SPD den ersten Betriebsrat mitgegründet, meine Mutter hat nach dem Krieg die Wohnfahrt (Arbeiterwohlfahrt, Awo) in unserer Siedlung aufgebaut, und ich hab mit elf das erste Mal vor dem Westfernsehen gesessen und Willy Brandt reden sehen. Ich war sofort auch Sozialdemokrat, obwohl wir im Osten das damals natürlich nicht sein durften.

Wer mir also erzählen will, ich hätte keine Ahnung von Sozialdemokratie, der kann gleich wieder einpacken und zur FDP gehen. Jetzt also dieser Koalitionsvertrag. Ich sag’s euch ehrlich: Ein Gedicht ist das nicht. Wenn ich den lese, hab ich nicht das Gefühl, dass Willy Brandt aus dem Grab springt und "Mehr Demokratie wagen!" ruft. Im Grunde genommen ist das ja ein Demokratieabbauplan, mit dem sie uns richtig an die Kandare nehmen wollen. Da geht es um mehr Überwachung, um mehr Betreuung und Bemutterung. Ehrlich gesagt: Ich hasse das! Wir hatten das in der DDR und ich will das nie wieder.

Warte nicht auf bess're Zeiten

Aber - und das ist für mich der entscheidende Punkt – wir leben nicht in Willy-Brandt-Zeiten. Wir leben im Jahr 2025, und draußen vor der Tür steht der Sturm. Wer jetzt glaubt, wir könnten uns in die Opposition verkriechen, eine Tasse Tee trinken und warten, bis die Sonne wieder scheint, der hat nicht verstanden, wie ernst die Lage ist. Es gibt keine Erneuerung in der Opposition, es gibt kein Luftholen, Kraftsammeln und dann stärker zurückkehren. 

Das ist alles Quatsch. Wer die Macht nehmen kann, der muss zuigreifen, das sagt mir meine ganze Lebenserfahrung. Ich hab ja schon allerlei erlebt. Der Honecker ist meiner erste Erinnerung an Staatsmacht, unter dem haben wir richtig gelitten. Was für ein Glücksgefühl, als Helmut Kohl uns da rausgeholt hat! Meiner Partei habe ich es damals sehr nachgetragen, dass sie den Osten nicht haben wollte. Zum Glück gab es die großen Alten, Brandt und Schmidt, die da nicht mitgespielt haben.

Die Rechten nicht rechts überholen

Aber was jetzt passiert, ist eine ganz andere Nummer. Die AfD steht in Umfragen bei 25 Prozent, vor der Union, sagen manche. Und die CDU versucht, die Rechten rechts zu überholen. Die sehen nicht mal dass das die FDP komplett zerstört hat. Denen ist nicht zu helfen, glaube ich. Was glauben die denn, wer von den AfD-Wählern hier bei uns auf eine billige Kopie der Blauen wartet? Und wir? Wir Sozialdemokraten stehen da wie das letzte Aufgebot der Vernunft, und alle erwarten, dass wir die Demokratie noch mal aus dem Feuer holen. 

Zu viel verlangt. Wenn die Union so weitermacht und wir nicht gegensteuern, dann platz der demokratie der letzte Lack ab. Ich weiß, was manche jetzt sagen werden: "Rudolf, das ist doch Panikmache! Die SPD muss sich treu bleiben, lieber in Würde untergehen als sich verbiegen!" Ja, Genossen, das klingt schön. 

Eine Geschichte der Verantwortung

Aber ich sag euch was: Die Geschichte der SPD ist nicht die Geschichte des Untergangs, sondern die Geschichte davon, dass wir immer dann Verantwortung übernommen haben, wenn es sonst keiner getan hat. 1918, als das Kaiserreich zusammengebrochen ist. 1949, als die Republik aufgebaut wurde. 1969, als Willy Brandt das Land modernisiert hat. Und jetzt, 2025, stehen wir wieder an so einer Schwelle. Wir werden uns verbiegen müssen, um im Rücken gerade zu bleiben!

Klar, ich hätte mir auch mehr sozzialdemokratsiche Handschrift gewünscht. Mehr Europa, weniger Grenzkontrollen, ein bisschen weniger CDU im Text und ein bisschen mehr SPD im Herzen. Aber mal ehrlich: Lars und Saskia sind nicht unbedingt die Art Sozialdemokraten, die ich bewundere. Für mich sind das blutleere Funktionäre aus dem Westen, die noch keinen Augenblick ehrlich geschuftet haben wie unsereins. 

Wir haben keine Alternative

Was ist die Alternative? Noch mal vier Jahre Blockade, während die Rechten das Land aufheizen? Eine Minderheitsregierung, die bei jedem Gesetz bibbern muss, ob sie durchkommt? Oder Neuwahlen, bei denen am Ende die AfD mitregiert und wir alle gemeinsam hoffen, dass uns alte Sozialdemiokraten und Sozialisten nicht doe Polizei abholt, morgens um fünf?

Der Koalitionsvertrag ist nicht perfekt. Aber er ist vielleicht das Beste, was in dieser Lage rauszuholen war. Und er trägt ja unsere Handschrift – auch wenn sie manchmal ein bisschen zittrig ist. Wir haben das Rentenniveau gesichert, die Grundsicherung verbessert, bei den Sanktionen eine Formulierung herausgeholt, die gar nichts ändert, wenn alles glatt geht. Es ist besser als Hartz IV, wobei ich das eigentlich gut fand. Dazu als Bonbon den Mindestlohn hochgeschraubt, Investitionen in Bildung und Brücken gesichert, neue Kredite in ungeahnter Höhe verfassungsfest vereinbart. er da sagt, das sei alles nur CDU-Politik, der hat entweder den Text nicht gelesen oder will einfach nicht sehen, was wir erreicht haben. 

Kontrollen sind Notwehr

Was die Grenzkontrollen betrifft, sehen wir Leute hier an der Grenze  da gar keinen Verrat, sondern Notwehr. Ich bin auch kein Freund davon, denn wir hier fahren alle rüber nach Polen zum Tanken, zum Einkaufen, viele auch zur Arbeit. Aber seien wir doch ehrlich: Ohne Grenzkontrollen wird es nicht gehen, wenn wir nicht wollen, dass die AfD jeden Tag neue Angstkampagnen fährt und die CDU begeistert einstimmt, um uns Linken die Schuld für irgendwelche Messerattentate zuzuschieben.

Wer glaubt, wir könnten mit einem offenen Brief an Ursula von der Leyen die Probleme an den Außengrenzen lösen, der hat die letzten Jahre im Winterschlaf verbracht. Von der Leyen tut nur, wozu sie sich gezwungen sieht. Schon immer. Wer auf Europa hofft, der ist verloren. Ehe von dort etwas kommt, hat die AfD Deutschland schon in den Dexit gezwungen. Nein, wir müssen Europa schützen – und dazu gehört eben auch, dass wir zeigen, dass wir die Kontrolle behalten. Das ist kein Verrat an Europa, das ist der Versuch, die EU zu retten, die es, das sieht doch jeder, selbst nicht schafft. 

Sanktionen bis zum Hungertuch

Dass ich bei unserer künftigen Sozialpolitik keine Bauchschmerzen habe, Bauchschmezen, von denen auch viele andere Genossinnen und Genossen berichten, will ich ja gar nicht behaupten. Ich habe sie! Aber schaut euch doch mal an, was die Union gefordert hat: Arbeitsdienst für alle, die nicht spuren, und Sanktionen bis zum Hungertuch. Für mich ist klar: Es wird sicher nicht besser werden für die Armen. Aber wir haben das Schlimmste verhindert und das Beste rausgeholt, was in dieser Situatioin möglich war. Genossen, wir haten nicht einmal 17 Prozent der Wähleer hinter uns! Was erwartet ihr denn da?

Ich sage: Die Grundsicherung bleibt sozial, die Mitwirkungspflichten sind hart, ja, aber sie sind nicht unmenschlich. Und der Mindestlohn von 15 Euro ist ein Meilenstein – das hätte es mit der Union alleine nie gegeben. Es ist ja nicht so, dass von dieser Erhöhung nur die Mindestlöhner profitieren werden. Ich sage Euch: Jeder, der jetzt 15 Euro bekommt, vielleicht als qualifizierter Bauhelfer oder als Küchenmitarbeiter in der Gastro, wird zu seinem Chef sagen, hey, Boss, ich brauch mehr Geld - wenn er spitzkriegt, dass der ungelernte und überhaupt nicht qualifizierte Nebenmann auch 15 Euro einsteckt, obwohl er viel weniger leistet.

Alle klagen seit Jahren

Wer mir erzählt, dass die SPD in der Wirtschaftspolitik nichts mehr zu melden hat, dem empfehle ich mal ein Gespräch mit einem Mittelständler aus unserer Ecke hier. Die klagen alle seit Jahren. Aber was wird das für ein Boom werden, wenn jetzt die Milliarden Investitionen in Infrastruktur, die Entlastungen für kleine Einkommen, der Industriestrompreis, wenn das alles kommt. Ich sage: Das alles sind sozialdemokratische Erfolge. Klar, einem alten Sozi wie mir tun die Steuersenkungen für Unternehmen weh. Das Geld sähe ich auch lieber woanders angelegt, in höheren Sozialleistungen und niedrigen Mieten zum Beispiel.

Aber ohne Wirtschaftswachstum gibt’s auch keine Arbeitsplätze und schon gar keine sozialen Leistungen. Wir haben das in der DDR erlebt. da wurde nichts investiert, noch länger als in der Bundesrepublik. Und so sah es am Ende dann auch aus. Fürchterlich. Alles kaputt. Alles verrostet und vom Zahn der Zeit zerstört. Das ist die Realität, und wer das nicht sehen will, der hat die letzten 60 Jahre verschlafen.

Der böse Nachbar

Als Rentner, der vor 40 Jahren Uniform anziehen musste, habe ich zur Friedenspolitik eine feste Meinung. Ich bin kein General, ich will auch keiner sein. Aber selbst ich hab verstanden, dass wir in einer Welt leben, in der Putins Panzer nicht mit Friedensgebeten aufzuhalten sind. Der Friede muss bewaffnet sein, haben sie uns in der Schule einreden wollen. Aber heute muss ich sagen, da ist was dran. Damals hielten wir das für Schwachsinn, reine Propaganda. Kein Mensch kann in Frieden leben, wenn es der böse Nachbar nicht will! Fakt.

Wir investieren in die Bundeswehr, ja, aber nicht, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir Frieden sichern müssen. Das ist kein Widerspruch zur sozialdemokratischen Tradition – das ist ihre Fortsetzung unter veränderten Bedingungen. So schwer es fällt, auch hier wieder Geld auszugeben, das woanders besser angelegt wäre - es nützt doch nichts, Genossen.

Opposition ist Mist

Ich hab nie verstanden, warum manche Genossen meinen, wir müssten uns in die Opposition zurückziehen, um unsere heilige sozialdemokratische Seele zu retten. Gar nicht, sage ich. Opposition  ist Mist, hat Franz immer gresagt! (Müntefering) Die SPD war immer dann am stärksten, wenn sie Verantwortung übernommen hat, wenn sie mutig genug war, Kompromisse zu schließen. Wir haben damals den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg zugestimmt, weil es um die Nation ging. warum also jetzt nicht?

Mein Opa zum Beispiel hat 1920 oder so gegen die Kapp-Putschisten gekämpft. Darauf bin ich stolz, daraus ziehe ich auch die Kraft, dass wir heute sagen können: Ja, wir machen das mit, aber das ist nicht das letzte Wort der Geschichte. Unser Angebot an die Menschen muss Glaubwürdigkeit sein. Die bekommen wir aber nicht,w enn wir nach wochenlangen Verhandlungen jetzt sagen, nöö, das dieser Koalitionsvertrag ist uns nicht schön genug. Ich stimme ihm deshalb zu - nicht, weil ich ihn liebe, sondern weil ich weiß, dass Deutschland uns jetzt braucht, weil es keine Alternative hat.

Die Gefahr der Rechtsregierung

Ja, jetzt sagen vielleicht mache: Gibt's doch. Lasst doch die Union versuchen, mit der AfD im Bundestag zu regieren. Dann werden alle am schnellsten sheen, wie das vor den Baum geht. Aber ich sage Euch was: Das kann auch ins Auge gehen. Was wäre denn, wenn das klappt? Wenn die CDU sich anschließend endgültig nach rechts verabschiedet? Wenn die beiden nach 2029 koalieren? Um die Sozialpolitik von gestern wieder zum Maßstab zu machen, der Wirtschaft die gemeinsam mit den EU-Partner verpassten Fesseln abnimmt und wir hier Wildwest-Zustände wie in Amerika bekommen?

Ich wills nicht erleben. Und deshalb sage ich: Lieber ein Koalitionsvertrag mit Kompromissen als ein Deutschland, in dem wir uns in ein paar Jahren fragen, warum wir nicht gehandelt haben, als es noch möglich war. Nicht, dass wir etwas Gutes bekommen, beileibe nicht. Aber wir müssen doch handeln, solange es geht. Und deshalb müssen wir jetzt Verantwortung übernehmen, nicht irgendwann morgen oder in ein paar Jahren, wenn alle aus ihrem Traum von einer neuen Fortschrittskoalition der vielen linken Parteien aufgeacht sind. Jetzt ist die Stunde, in der wir Sozialdemokraten noch da sind, dass unser Ideen mehr als Nostalgie sind und dass unser Spitzenpersonal vielleicht nicht überzeugt ist, aber doch die letzte Kraft, die dieses Land zusammenhalten kann, wenn alle anderen auseinanderlaufen.


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