Mittwoch, 23. April 2025

SPD-Mitgliederentscheid: Genosse in Gewissensnot

Jetzt ist unsere Zeit: Serhac K. (r.) würde sich eine Fortsetzung der Regierungsbeteiligung der SPD wünschen. Doch ihre Grundwerte sollte sich seine Partei deshalb nicht abhandeln lassen, sagt er.


Dass wir wieder dabeisein werden, das hat mich schon gefreut. Ich bin SPD-Mitglied, aber eins aus Überzeugung. Also eins von denen, die noch wissen, was ein rotes Parteibuch ist, und die sich sonntags um 10 Uhr im Ortsverein den Filterkaffee in die Tasse kippen, während sie sich fragen, ob unsere Partei jetzt links, rechts oder einfach nur geradeaus in den Abgrund marschiert. Was haben wir nicht alles an Kompromissen gemacht! Die ganzen Jahre, auf die ich sehr stolz bin, kam hinten nie SPD raus, wo wir Genossen vorn Herzblut reingesteckt haben. 

Ein stolzer Sozialdemokrat

Ich war auch stolz darauf, dass wir sagen konnten, wir haben länger mitregiert als irgendwer anders, wir haben am meisten  dafür gesorgt, dass Deutschland heute ist, wie es ist. Uns entgegenzuhalten, was wir alles nicht geschafft haben, Frieden, Gerechtigkeit, soziales Glück und die soziale Spaltung ab, das ist billig. Was wäre denn, hätten wir nicht ab und an mal die Regierung geführt? Und in der restlichen Zeit mitregiert?

Es ist für mich schon wichtig, festzustellen, dass wir es nicht wissen. Villeicht wöäre die Infrastruktur noch kaputter? Das Bildungssystem vollkommen erledigt? Die Wirtschaft ganz weg? Richtig optimistisch bin ich auch nicht, das gebe ich zu. Es war mehr drin. aber nun liegt wieder mal ein Koalitionsvertrag auf dem Tisch bei uns in der Stube, und wieder darf ich als einfacher Genosse abstimmen. Und mein Gefühl ist, es geht diesmal darum, ob wir uns diesmal endgültig selbst abschaffen oder noch ein paar Jahre auf Sparflamme weiterwursteln.

Besser weiterwursteln

Ich meine schauen Sie doch zurück. Da war Olaf Scholz, ein Mann, ein Wort, wir hatten Führung bestellt und er wollte Fortschritt liefern. Was rausgekommen ist, haben Sie sicher auch mitbekommen. Nichts mit Führung, nichts mit Fortschritt. Hohngelächter. Selbst wir an der Parteibasis hatten keine Lust mehr, den Bockmist zu verteidigen, den die in Berlin zusammenregiert haben. 

Aber Blut ist dicker als Wasser. Dass wir bei der Wahl einen Dämpfer bekommen, war zu erwarten gewesen, dass danach die Chance besteht, alles besser zu machen, hat mich aber trotzdem gefreut.Es fiel riesige Last von uns allen ab, als klar wurde, dass sich meine Parteiführung schließlich mit denen geeinigt hat, mit denen wir alle kurze Zeit zuvor nie wieder an einem Tisch hatten sitzen wollen. Demokraten können aber eben über ihren Schatten springen, wenn es um wichtigere Dinge als die Brandmauer und den Kapmf gegen rechts geht.

Ich lag immer richtig

Jetzt also Mitgliederentscheid. Ich habe mehrere mitgemacht und es hat immer bedeutet, dass es letztenendes auf mich ankam. Ich verate Ihnen mal was: Die Mehrheit hat immer so abgestimmt wie ich! Auch diesmal steht es Spitze auf Knopf, denke ich. Die Jungen in der Partei sind wohl weitgehend dagegen, die Pragmatiker und Funktionäre mehr dafür. Wir Älteren sind froh, eine weitere Legislaturperiode obendran zu bleiben, ich sage immer, Regierungsbeteiligung ist nicht Champions League, aber Pokalsiegercup oder wie das heute heißt. 

Trotzdem ist es schwer. Ich habe den Koalitionsvertrag gelesen, richtig wie früher im Parteilehrjahr mit Stift und Notizblock. Aber was das Gefühl betrifft, stehe ich nun mitten dazwischen und weiß nicht, was ich denken soll. Dagegen? Dafür? Ich würde meine Hand gern führen lassen vom glücklichen Gefühl, zu wissen, dass wir die nächsten vier Jahre weiterhin oben mitspielen. Aber der Gedanke, was wir dafür preisgeben, der lähmt mich richtig. 

Erschrocken über Zugeständnisse

Also ganz ehrlich:Ich bin erschrocken über die Zugeständnisse an CDU und CSU, die Lars und Saskia gemacht haben. Brutale Zurückweisungen an den Grenzen? Vielleicht mit Waffengewalt? Zustimmung zum neuen europäischen solidarischen Asylsystems mit sicheren Herkunftsländern wie Tunesien und Ägypten? Ich war dort schon im Urlaub und ich weiß, da liegt sehr vieles im Argen! Wir bekommen weiter keine Reichensteuer, keine Regeln zum Abschöpfen von Übereinkommen, keine Anpassung des Mindestlohns an die Rente und kein bedingungsloses Grundeinkommen. Wenn ich rückhaltlos offen und ehrlich bin, muss ich Ihnen sagen, Herz und Hirn schreien nach Ablehnung.

Ich will nicht, dass dieses Land keine offenen Arme mehr! Ich will nicht, dass wir uns weigern, am Bahnhof Applaus zu spendieren und unseren Wohlstand zu teilen. Ich bin auch eher ein Freund des Friedens und der Völkerverständigung, würde es also gern sehen, wenn wir ein Abkommen mit Putin treffe, um den Krieg zu beenden - und zwar am besten, bevor das Trump macht. Dessen Gesicht würde ich nämlich gern sehen! 

Es grummelt im Bauch

Aber dazu steht nichts im Koalitionsvertrag. Deshalb grummelt es mir im Bauch. Ich habe die letzten Wochen alles gelesen: Koalitionsvertrag, Kommentare, Facebook-Posts von Leuten, die ich nicht kenne, aber die trotzdem wissen, was für die SPD gut ist. Und ich habe gelernt: Egal, wie ich abstimme, die AfD regiert danach sowieso spätestens ab 2029, die SPD wird einstellig und Olaf Scholz und unsere anderen Spitzenleute landen vor Gericht. Ich glaube das nicht. Aber ich sehe auch nicht, wie es anders kommen soll.

Denn offen gesagt: Groß geredet wurde zuletzt in der Partei nicht mehr. Früher, als ich ein ganz junger Genosse war, da gab’s bei uns noch richtige Debatten. Da wurde gestritten, da wurde gerungen, da wurden notfalls auch mal die Stühle gerückt. Heute gibt es Ansgaen von oben. Und Warnungen, dass die Einheit der Partei das Wichtigste ist. Bloß keine Fehlerdiskussion! Sogar Drohungen kann man sich abholen. Mir hat ein Genossevon Kreisvorstand geschrieben: !"Wenn du gegen die GroKo stimmst, ist die SPD tot." Ein anderer hat mich gewarnt: "Wenn du für die GroKo stimmst, ist die SPD tot." Ich habe also die Wahl zwischen Pest und Cholera. Demokratie, wie sie leibt und lebt.

Dann kommt die AfD


Ich sehe ja die verfahrene Lage. Wenn wir jetzt nicht mit der Union koalieren, kommt die AfD an die Macht, weil es dann Neuwahlen gibt oder der Merz sich vorher einen schlanken Fuß macht und eine Minderheitsregieurng von der weidel tolerieren lässt. Aber wissen wir es denn wirklich? Ich frage mich manchmal, ob wir noch Politik machen oder schon Astrologie betreiben. Könnte es nicht sein, dass bei Neuwahlen endlich viele verstehen, wie wichtig und bedeutsam eine starke SPD ist? Und wir wieder 30 oder 40 Prozent holen? 

Für mich ist das nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin nicht grundsätzlich gegen eine Große Koalition. Ich bin ja auch nicht grundsätzlich gegen Zahnarztbesuche oder Überstunden. Aber irgendwann ist doch mal gut. 

Ich träume von Angela Merkel

Wir haben jetzt schon so oft mit der Union regiert, dass mir nachts manchmal Angela Merkel im Traum erscheint, wie sie mir das Parteibuch wegnimmt und durch einen CDU-Mitgliedsausweis ersetzt. Und jetzt, wo Merz die Union endgültig zur AfD light umgebaut hat, sollen wir noch mal mitspielen? Vielleicht gleich mit Parteifusion, dann sparen wir uns wenigstens die doppelten Mitgliederbeiträge.

Alles, was wir immer wollten, will diese Regierung abwickeln. Keine rede mehr von den Vereinigten Staaten von Europa! Stattdessen Grenzkontrollen! Ich dachte immer, auch die CDU ist die Europapartei. "Für ein Europa ohne Grenzen", stand auf deren Plakaten, als ich noch jung war und die Haare dichter. Jetzt wollen sie Grenzkontrollen, als wären wir wieder 1985 und Helmut Kohl hätte gerade den Schlagbaum in den Kofferraum gepackt. Und mit Nancy Faeser hat der Merz auch das richtige Personal: Die ist noch stolz darauf, Menschen zu trennen! 

Kein Rechtsruck mit mir

Klar, wir müssen die AfD bemämpfen, damit sie nicht zu viel Zustimmung bekommt. Aber muss ich dafür gleich die europäische Einigung beerdigen? 75 Jahre erfolgreiche Friedenspolitik in die Tonne hauen? Von Bürokratieabbau schwärmen wie Donald Trump? Und den demokratischen  Rundfunk insgesamt infragestellen? Ich sehe schon die Schlagzeile: "SPD hilft CDU beim Rechtsruck – Europa schaut traurig zu." Dann würde ich doch lieber bei den Grünen eintreten. Einfach fürs Herz.

Im Koalitionsvertrag steht das mit den Zurückweisungen an der Grenze definiv drin, zum Glück aber nicht so, dass es nach einer geplanten Umsetzung klingt. Sie wollen da mit den anderen Ländern reden, also genau wie bisher eigentlich. Aber mich störts dennoch. Wenn man Neuankömmlingen kein freundliches Gesicht mehr zeigt, sondern erst mal eine Sicherheitsüberprüfung anordnet, eine Wartefrist und einen Stapel Formulare überreicht, dann ist das nicht mehr mein Land.

Gegen Umfragewertepolitik

Ich frage mich, wie wir das unseren europäischen Nachbarn erklären wollen. "Sorry, wir machen jetzt wieder dicht, aber nur ein bisschen. Ist ja nur vorübergehend. Also vielleicht auch für immer. Mal sehen, wie die Umfragewerte sind." Ernsthaft? Und dann die Sozialpolitik! Bürgergeld umbenennen,  Sanktionen verschärfen. Wer zweimal nicht zum Termin kommt, kriegt das Geld gestrichen. Wer dreimal nicht kommt, ist raus. 

Haben wir kein Grundgesetz mehr, das jedem das Existenzminumum sichert, ob er nun arbeitet oder nicht? Ich dachte, wir sind die Partei der sozialen Gerechtigkeit? Jetzt sind wir die Partei der Arbeitsvermittler mit erhobenem Zeigefinger. "Fördern und fordern" hieß das mal. Jetzt heißt es nur noch: "Fordern, fordern, fordern – und wenn du nicht spurst, gibt’s nix mehr."

Neoliberalismus in reinster Form


So geht das nicht. Das ist Neoliberalismus in reinster Form. Und dann die Aufrüstung! Wie damals beim Kaiser und bei Helmut Schmidt sind Kriegskredite wieder sozialdemorkatische Herzenssache. Wir stärken die Verteidigungsfähigkeit, hat Lars gesagt. Ich habe ja auch nichts gegen eine starke Bundeswehr. 

Aber mir war es doch lieber, als unsere Partei so konsequent gegen den Krieg war, dass sie sogar mit Gruselgestalten wie Breshnew, Honecker und Jaruzelski im Gespräch gebliben ist. Was haben wir damals nicht gegen Aufrüstung demonstriert! Gegen den eigenen Kanzler waren wir für den Frieden! Heute wollen wir ein Koalitionsvertrag unterschrieben, der die NATO bestimmen lässt, wie viel Geld künftig noch für die Armen, die Alleinstehenden und die Wohnungssuchenden übrig bleibt.

Ich war lieber für den Frieden


Das konsterniert mich. Ein guter Genosse fragte neulich, wann der Vorstand wohl den ersten SPD-Bundeswehrsong aufnimmt. "Panzer vorwärts, nie zurück, Panzer fahren für das Glück." Und gegen die AfD noch die Wehrpflicht obendrauf. Bisher haben wir ja Billionen für Waffen, aber wohl noch keine Leute in Aussieht, die schießen. wer nicht will, der bekommts wie beim Bürgergeld: Zweimal nicht in der Kaserne erschienen, kriegt die Grundsicherung gestrichen.

Das ist mir zu viel Zwang für eine freiheitliche Gesellschaft. Serhac, halt den Mund, sagen dann manche Genossen, zu überziehst. Natürlich, aber ist es denn nicht wirklich alles ganz beschissen? Dann könnten wir doch genausogut gleich jede Kritik an der Regierung verbieten, mehr Überwachung anordnen, Meinungen behördlich erlauben lassen und jeden Widerspruch als Hohn unter Erlaubnisvorbehalt zu stellen. Wo leben wir denn!

SPD-Politik für Überreiche

Mich haben Saska und Lars verloren. Körperschaftsteuer runter, Bürokratie runter, Stromsteuer runter und ein extra Strompreis für Großkonzerne, damit sie hier mit KI mehr Arbeitsplätze vernichten können. Und für uns? Steuersenkungen in zwei Jahren, wenn es die Kassen zulassen. Aber auf jeden Fall höhre Krankenbeiträge. Also wie immer alles runter, außer die Preise und die Mieten, die gehen natürlich weiter rauf. Ist das sozialistische Politik? Können wir uns damit im nächtsen Landtagswahlkampf auf der Straße sehen lassen?

Ich sehe es nicht. Und mir leutet auch das Argument nicht ein, dass all das alternativlos ist, weil sonst kommt die AfD. Ich weiß nicht, wie oft ich das schon gehört habe. Wenn ich jedes Mal einen Euro bekommen hätte, könnte ich die SPD alleine retten. Wissen Sie, was ich da sage? Das ist ein Popanz. Die kommt nicht. Die hat nicht die Leute. Und wenn sie kommt, geht sie auch ganz schnell wieder. Und mal ehrlich: Wenn wir alles mitmachen, was die Union will, nur damit die AfD nicht gewinnt, sind wir dann noch SPD? Oder sind wir dann nur noch die Union mit sozialdemokratischem Anstrich?

Erneuerung in der Opposition

Ich habe manchmal das Gefühl, wir Sozialdemokraten sind wie der Typ, der beim Poker immer mitgeht, egal, was auf dem Tisch liegt. Am Ende ist das Geld weg, die Freunde auch, und der Kellner fragt, ob wir wenigstens das Trinkgeld bar zahlen können. Nicht mit mir.

Ich werde gegen den Koalitionsvertrag stimmen. Nicht, weil ich die Große Koalition grundsätzlich ablehne. Nicht, weil ich die Union nicht mag. Sondern weil ich glaube, dass wir irgendwann mal wieder für etwas stehen sollten, statt immer nur gegen etwas. Für Europa, für soziale Gerechtigkeit, für eine Politik, die nicht nur auf Umfragewerte schielt. 

Wenn das bedeutet, dass wir bei der nächsten Wahl einstellig werden, weil Wähler*nnen noch nicht verstehen, was wir wollen, dann ist das eben so. Dann erneuern wir uns in der Opposition und ich kann wenigstens sagen, wir haben dem Verlangen nicht nachgegeben, um der Macht willen Abschied von unseren Werten zu nehmen. Nein, wir sind anständig geblieben und den Preis dafür haben wir gern gezahlt.


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

vielleicht ein wenig OT, aber immerhin Wiedervorlage

Die mit Steuergeld (a.k.a Bundesmittel) geschmierte Truppe von Jungforschern bzw. Forschenden von der Kölschen Uni gekommt auf der Achse die Hintern versohlt.
https://www.achgut.com/artikel/immunsystem_geschaedigt_forscher_begeistert_unfertig_dm

'Follow the money' erweist sich wiedermal als erfolgreiche wissenschaftliche Methode.

Anonym hat gesagt…

Im ersten Satz des letzten Abschnittes ist das ganze Dilemma enthalten. Die Politik hat zu tun was der Wähler will und nicht was die Partei sich wünscht. Wer ist der Souverän in 'unserer Demokratie'. Die Politikkaste ist einfach zu abgehoben und bürgerfeindlich. Alle Altparteien gehören weggefegt.

Anonym hat gesagt…

Alle Altparteien gehören weggefegt.
Nicht eben falsch, nur eben: Wie denn?