Mittwoch, 16. April 2025

Feindbild Wirklichkeit: Schubsen, Schlagen, Schweigen

Gewalt gegen Journalisten Tagesschau MDR pro palästinensich
Bebilderung einer strukturell weiterhin bestehenden Hauptgefahr. Drei Viertel der Übergriffe auf Journalisten kommen dann im Kleingedruckten vor.

Wer mit Zahlen lügen will, und wer will das nicht!, der hat einige grundsätzliche Regeln zu beachten, um sich nicht sofort unmöglich zu machen. Einerseits ist es möglich, auf Studien zu verweisen, ohne den Inhalt einzuordnen. Es gilt dann, Zahlen ohne jeden Bezug zu präsentieren und als "neuen Rekordwert" einsam und verloren in der Landschaft stehenzulassen.  

Eine Mahnung für jeden, der es nicht glaubt. Und eine Warnung für alle, die aus der dürren Umschreibung "weniger als" oder "mehr als" keinen Erkenntnisgewinn zu ziehen vermögen. Nachfragen sind Zweifel. Zweifel sind schädlich. Das gute Gefühl, auf ein besonders böses Detail des Bösen gestoßen zu sein, ist es allemal wert, auf Verständnis zu verzichten.

Dümmer nach dem Lesen


Ganze Studien werden gemacht, um Material für solche Warnhinweise zu liefern. Die vom ZDF betriebene Meisterwerkstatt für mediale Manipulation (MMM) verwandelt dergleichen Rohdaten meist mit leichter Hand in irritierende Grafiken. Andere Sender, große private Medienheuschrecken und Faktenchecker-Departments einzelner Ministerien zaubern daraus Nachrichten, die es vermögen, jeden, der sie konsumiert, unwissender nach Hause gehen zu lassen als er gekommen ist. 

Manches Problem kannte mancher zuvor nicht einmal. Danach ist er dümmer, denn er hat nun davon gehört. Und alles wie gewünscht falsch verstanden.

Diesen Effekt zu erzielen, ist die Aufgabe engagierter Journalisten und aktivistischer Journalistendarsteller. Kein Verschweigen unangenehmer Nachrichten. Vielmehr und viel besser: Ihre Darbietung in Form eines zirzensischen Spektakels, in dem sich alles in sein Gegenteil verwandelt und nichts mehr übrig bleibt von einer lästigen Wirklichkeit. 

Endstadium Erkenntnisverweigerung

Der Mitteldeutsche Rundfunk, ein Zeit seiner Existenz von bizarren Skandalen geschüttelter Großkonzern mit zeitweise global angelegten Gebührengeldern, hat die Aufgabe jetzt im Fall einer Langzeitstudie des unter anderem von der Europäischen Kommission und der sächsischen Landesregierung finanzierten Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) durchgespielt. 

Darin hatten die Medienfreiheitsforscher zum neunten Mal untersucht, welche Bedeutung Journalisten als Feindbild haben: Seit der Übernahme von der frühen SPD der 30er Jahre erfundenen Beschwörung einer "Lügenpresse" durch rechte und rechtsextreme Kreise, handelt es sich bei der Frage um keine deutlich wesentlichere als vor 2015. 

Allerdings ist die Förderung einer Studie, die regelmäßig neue Rekordwerte bei der Bedrohung der Pressefreiheit zutage fördert, deutlich aussichtsreicher zu beantragen als die für eine Untersuchung, wer Barkeeper, Mindestlohn-Baristas und Tankstellenmitarbeiter bedroht und beleidigt.

Das erwartete Ergebnis

Wie erwartet hat die neue Folge von "Feindbild Journalist:in", bis vor kurzem noch als "Feindbild Journalist" selbst nicht frei von verbaler Gewalt, das Erwartete ergeben. In Deutschland hat die Zahl der tätlichen Übergriffe auf Journalisten 2024 einen neuen Rekordwert erreicht. Es habe 98 "verifizierte tätliche Übergriffe" gegeben – von "Schubsen über Schlagen und Treten bis hin zum Angriff mit Fahnenstangen". 

Ein gefährlicher Job, dieses Reportieren, denn die extreme Rechte stelle "strukturell weiterhin die größte Bedrohung für die Pressefreiheit in Deutschland dar", zitiert der MDR die Autoren. In den MDR-Fernsehnachrichten wird der Bericht darüber mit den passenden Bildern unterlegt: Nazi-Gestalten und AfD-Anhänger marodieren durch ostdeutsche Städte, augenscheinlich auf der Suche nach einem Schreiberling, der sich durch Notizblock und Kamera zu erkennen gibt.

Alles schlimmer, nur nicht warum

Der Film lässt keinen Zweifel daran, wie sich Deutschland verändert haben muss. Alles ist so viel schlimmer geworden, dass es nicht einmal die in der Studie genannte unbekannte "Dunkelziffer" braucht, um die akute Gefahr zu verdeutlichen. 98 Fälle, das sind 29 mehr als im vergangenen Jahr. Zu erkennen sei daran deutlich, wie "die Erfolge der AfD die extremen Rechten außerhalb der Politik mobilisieren".

So komme es neben tätlichen Angriffen am Rand von extrem rechten Kundgebungen auch "zu Beleidigungen und Diffamierungen im Internet sowie Bedrohungen" - Erscheinungen also, die ausdrücklich keine "körperlichen Angriffe" sind, um die es ja in der Studie eigentlich ausschließlich geht. 

Um den Inhalt herumsenden

Weshalb sie trotzdem ausdrücklich angeführt werden und weshalb rechte Schläger nur als "strukturell weiterhin" größte Bedrohung vorkommen, zeigt sich erst beim Blick auf die Studie selbst, um deren eigentlichen Inhalt der MDR vorsichtig herumsendet. Danach stammten im vergangenen Jahr nur 20 Gewalttäter, die Journalisten angriffen, aus dem rechten Spektrum. Drei schlugen den Studienautoren zufolge aus linker Gesinnung zu. 75 aber werden in der Tortengrafik der Leipziger Wissenschaftler als "unbekannt" geführt. Obwohl im Kleingedruckten dann eingeräumt wird: 57 von - hier abgerundeten - 74 Fällen hätten sich bei "pro-palästinensischen Veranstaltungen" ereignet.

Das sind drei Viertel aller Vorkommnisse - 62 davon spielten sich in Berlin ab, zehn in Sachsen, sieben in Bayern. Wie viele wo wie motiviert waren, so weit steigt die Studie nicht in die Materie ein. Wer weiß, was dabei herausgekommen wäre. Journalistische Gewaltforschung ist keine exakte Wissenschaft, sondern ein Gefühl, das 20 "strukturell weiterhin" Bedrohungen ganz anders zu werten weiß als 74, 75 oder 79 "physische Angriffe" (ECPMF), die sich aus unbekannten Gründen bei "pro-palästinensischen Veranstaltungen" zugetragen haben.

Würde also jemand wirklich wissen wollen, wie der neue Rekord zustande kommen konnte, er würde selbst in dieser schütteren Studie den einen oder anderen Hinweis finden können. Wer aber vermeiden will, einen richtigen Eindruck zu vermitteln, der falsch ankommen könnte, verwurstet sie so. Und wundert sich weiter, warum er wohl als "Lügenpresse" beschimpft wird.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

3 von links, 20 von rechts und 75 von unbekannt ? Unternimmt jemand was gegen diese politisch rätselhafte Mehrheit? Jemand zuhause beim VerfSch?
Wie ich aber sehe, werden die journalistischen Standards (Verdrehen, Weglassen, Lügen) beim MDR ohne Abstriche hochgehalten.