Freitag, 25. April 2025

Abschied vom Aufschwung: Die Null muss stehen

Robert Habeck Pappschild Konjunktur
So werden ihn die Wähler vermissen. Robert Habeck mit einem der Schilder aus der Bundespappschildabteilung des BMWK, die künftig im Haus der Deutschen Geschichte aufbewahrt werden. Abb.: Kümram, Öl auf Pappe

So wird er also in Erinnerung bleiben. Das weiße Hemd am Kragen aufgeknöpft, der Blick entschlossen, ein Schild in der Hand, immer mit einer Linie, die von links oben nach rechts unten weist. So hat sich Robert Habeck seinen Wählern und Wählerinnen als Wirtschaftsminister vorgestellt, als er 2022, noch kaum im Amt, "Zeichen für leichte Belebung" in der Wirtschaft sah. So trat er auf, als er später den Klimapfad aufzeigte, auf dem Deutschland in die richtige Richtung unterwegs war. Und so war er zusehen, als im vergangenen Jahr "mit etwas mehr Wachstum" rechnete.

Schwungholer und Gesundbeter

Die Pappschildabteilung im Bundesklimawirtschaftsministerium hatte immer gut zu tun. Der Minister, der als Philosoph kam, um die langen Linien zu malen, begriff sich von Anfang an auch als Welterklärer für die einfachen Leute, die  vielleicht noch begreifen können, was sie selbst erfahren. Nicht aber, was es bedeutet und wieso es so ist. Dafür war er da, der Schwungholer und Gesundbeter,  der im Niedergang den Höhenflug schnupperte und immer, wenn er dann doch nicht kam wie vorhergesagt, genau sagen konnte, weshalb es gar nicht anders sein konnte.

Diesmal ist natürlich Donald Trump schuld. Der seit Monaten scheidende Bundeswirtschaftsminister hat die Handelspolitik und die vom US-Präsidenten verhängten, zurückgenommen, wieder verhängten und vorläufig ausgesetzten Zölle dafür verantwortlich gemacht, dass die Bundesregierung ihre ohnehin bescheidene Konjunkturprognose einmal mehr nach unten korrigieren muss. 

Ursachen immer anderswo

Anders kennt es der frühere Grünen-Chef nicht. Seit er das frühere Wirtschaftsministerium übernommen und zum Klimawirtschaftsministerium gemacht hat, steckt Deutschlands Wirtschaft in einer Rezession, die inzwischen länger andauert als jede zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Glücklicherweise liegen die Ursachen dafür immer anderswo. 

Nach dem Krieg kam die Energiekrise. Dann drückte die Inflation auf die Konsumlaune der Deutschen. Dann investierten die Unternehmen weniger. Dann nahmen die Insolvenzen zu. Dann verbot das Bundesverfassungsgericht der Ampelregierung auch noch die Nutzung der alten Merkelkredite aus der Corona-Zeit für den geplanten Klimaumbau. 

"Belebende Wachstumsdynamik"

Und jetzt ist Trump der externe Schock, der die hübsche Herbstprognose mit der "sich allmählich belebenden Wachstumsdynamik" durch "Auftriebskräfte im Zuge einer Belebung des privaten Konsums, einer Erholung der Nachfrage nach Industrieerzeugnissen aus dem Ausland und einer Trendwende bei der Investitionstätigkeit" zerstört hat. 

Der einzige Mensch weltweit, der nichts dagegen machen konnte, war Robert Habeck, ein Geworfener in den großen Weltenlauf. Ihm bleibt nur, immer wieder ein Schild hochzuhalten, die Linie steil nach unten. Habeck ist damit beinahe so machtlos wie Olaf Scholz, der Kanzler, der fast auf den Tag genau vor zwei Jahren ein neues Wirtschaftswunder nahen sah.

Kein Lichtstreif am Horizont

Damals "lag" das Land, wie Scholz sagte, "vor einer Phase großen Wirtschaftsaufschwungs". Heute liegt diese schwierige Phase der großen Erwartungen hinter ihm. Habeck, von drei Jahren im Amt sichtlich gezeichnet, hat diesmal nicht einmal mehr versucht, fürs Publikum einen Lichtstreifen an den Horizont zu malen. Seit selbst die dem Minister und seinem Kanzler gewogenen Medien schamlos das Wort "Rezession" verwenden, statt weiterhin mit "Flaute" und "Schwäche" drumherumzuschreiben, ist es für die Ausrufung von "konjunkturellen Wendepunkten" (Habeck, April 2024) eh zu spät. 

Nur ganz, ganz wenige halten noch zur Stange. Keiner aber glaubt mehr wirklich, was so lange Konsens war. Kann kommen, was will. Kann er auch tun, worauf niemand käme. Dass Habeck "nicht schuld" (Taz) ist, sondern die Umstände, der Russe, die AfD, die CDU und die "starke Exportorientierung der deutschen Unternehmen", das war Heizungsgesetz. Beste Idee! Gleich nach E-Auto-Prämie und E-Auto-Prämienstopp. Dass es nicht zu mehr gereicht hat, tja, niemand ist darüber trauriger als Robert Habeck. Dessen Stimmung sei "durchwachsen", reportiert die "Tagesschau" gewohnt kritisch. 

Die Null muss stehen

Aber wenigstens die Null muss stehen. Das dritte Jahr hintereinander wird Deutschland nicht wachsen, soweit hat Robert Habeck eingestanden, was kaum mehr zu leugnen ist. Die mit der offiziell als "Konjunkturprognose" bezeichneten Rezessionvorhersage verkündeten null Prozent Wachstum wären allerdings noch deutlich besser als die minus 0,2 und minus 0,3 Prozent der letzten beiden Jahre. Dass das ehrgeizige Ziel sich erreichen lassen wird, ist zu bezweifeln. Am Tag der nächsten Abrechnung aber wird Habeck aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr da sein, um dafür verantwortlich gemacht zu werden.

Der Pate: Die Welt ist sein Feld

Klaus Schwab WEF Vorwürfe Gemälde
Klaus Schwab wurde lange vorgeworfen, dass er die Welt regiere. Gemälde: Kümran, Ölfarbe auf Leinen

Er war der, an dessen Fäden die Welt zu tanzen schien. Ein Weltkriegskind aus Ravensburg, das erst Maschinenbau machte und dann den globalen Umbau anging. Klaus Schwab, Sohn eines Fabrikanten, studierter Techniker und später Doktor der Wirtschaftswissenschaften, war 60 Jahre alt, als er beschloss, mit dem Social Entrepreneurship eine gänzlich neue Industriebranche zu gründen. Ins Deutsche kaum adäquat übersetzbar, ist das soziale Unternehmertum seitdem zu einem Milliardengeschäft geworden.  

Hauptprodukt Gutes

Kein Online-Gigant kann sich ohne soziales Engagement sehen lassen. Kein fossiler Dinosaurier kommt ohne Spenden für den guten Zweck aus. Und das sind nur die kleinen Fische. Klaus Schwab empfahl das Gutsein nicht als Abfallprodukt der Güterherstellung oder Ablasszahlung für angerichtete Schäden an Natur, Umwelt, Klima und Gesellschaft. Sondern als Hauptprodukt: Social Entrepreneure handeln mit guten Gewissen, sie beaufsichtigen die im ganz normalen Alltag gefangenen Firmen, Behörden und Einzelpersonen und lenken die Zivilisation auf diese Weise in die richtige Richtung.

Die Pioniere der Schwabschen Schule begannen ihr Werk noch als Freiwillige. Ehrenamtlich engagierten sie sich nach besten Kräften und so lange das Geld reichte. Sie schufen durch Entsagung und Hartnäckigkeit die Grundlagen dafür, dass die Staaten später zu Hilfe kamen: Je mehr Gutes getan wurde, desto deutlicher wurde, dass überall noch nicht genug Gutes getan war. Aus kleinen Hinterhofbüros mit Möbeln vom Schutt wurden schicke NGOs mit Etats wie kleine Fürstentümer. 

Die Erfindung der Sozialindustrie

Heute ist die von Klaus Schwab erfundene Sozialindustrie ein weltweites Phänomen. In Deutschland haben  staatlich finanzierte Start-ups wie die Amadeu-Antonio-Stiftung, das Medienportal Correctiv und der Verein HateAid eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben. Wobei beispiellos nur richtig ist, so lange Schwabs eigene Laufbahn nicht zum Vergleich herangezogen wird.

 Denn der heute 87-Jährige baute seine kleine Geschäftsidee im dritten Lebensdrittel zu einem Welterfolg aus: Mit dem World Economic Forum, 1971 als European Management Conference gegründet und 1987 in Weltwirtschaftsforum umgenannt, schuf der Visionär eine Machtmaschine, deren jährliche Treffen im schweizerischen Davos zu Hochämtern des Menschheitsmanagements wurden.

Nicht unter fünf Milliarden

1.000 Unternehmen sind Mitglied, keine Klitschen, sondern jedes nicht unter fünf Milliarden Jahresumsatz. Schwabs Truppe, ursprünglich eine Schweizer Stiftung, finanziert Studien, es vergibt Preise, fördert unter der Überschrift "Global Shapers" Menschen zwischen 20 und 30 Jahren, denen die WEF-Experten Potenzial für zukünftige Führungsrollen in der Gesellschaft zubilligen. Aus dem Treffen in Davos sind dauernde Veranstaltungen überall auf dem Globus geworden, darunter das "Jahrestreffen der New Champions", das stets in China stattfindet. 

Schwab missioniert für den "Great Reset", den Druck auf eine Taste, nach dem mehr Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und weniger Klima hergestellt sein soll. Und er fordert das "Great Redesign", einen kapitalismuskritischen Umbau der Zivilisation für die Masse, gelenkt von Vordenkern wie ihm, der sich ein Jahressalär von rund einer Million Schweizer Franken zahlt. Doch das Geld ist ja da, das WEF erhält hohe öffentliche Zuschüsse und muss in der Schweiz keine Bundessteuern zahlen.

Der Beichtvater der Elite

Schwabs Klientel ist die Elite. Ohne nach demokratischer Legitimation zu streben oder sie auch nur vorzuspielen, gelang es dem globalen Kommunikator, das jährliche Bilderberg-Treffen selbst in den Augen von Verschwörungstheoretikern wie das Klassentreffen einer sächsischen Vorschulklasse aussehen zu lassen. Beim WEF wurden die großen Dinge besprochen, die großen Pläne geprüft, die langen Linien gezogen. Klaus Schwab war die Personifizierung einer Rettung der Welt durch eine Führungspersönlichkeit aus der internationalen Wirtschaft, der nie ein Unternehmen selbst geleitet, aber zahlreiche Orden, Ehrenzeichen und Ehrenprofessorenwürden erhalten hat.

Dass der Großvater der in der Schweiz seit 2014 als "anderes internationales Organ" im Sinne des Gaststaatgesetzes geführten Weltberatungsorganisation jetzt überraschend seinen Rücktritt einreichte, ausgerechnet am Tag, an dem der Papst starb, lässt die Weltplanung für einen Moment kopflos zurück. Erst vor einem Jahr war Schwab auf den Posten des Executive Chairman auf den Vorsitz des Kuratoriums gewechselt, nur Ehefrau Hilde und Sohn Oliver halten als "Seele des WEF" (Schwab) und Statthalter in China die Familie im Spiel bei der "Gelddruckmaschine" (Süddeutsche Zeitung) für den guten Zweck. Und nun ist er ganz weg, beiseitegedrückt von "Anschuldigungen, dass er und seine Frau Geld abgezweigt hätten" (Die Welt). 

Schock in der Helfergemeinschaft

Geld wovon? Wozu? Wessen? Das WEF hat eine Untersuchung angekündigt, doch die globale Helfergemeinschaft steht unter Schock. Schwab, der das Familienunternehmen WEF seit mehr als einem halben Jahrhundert unumschränkt und mit Finanzberichten geführt hatte, die weder Einnahmen noch  Ausgaben aufschlüsseln, ging so eilig, dass er - anders als es für deutsche Ministerpräsidenten vorgeschrieben ist - nicht einmal seinen Nachfolger noch aussuchen und ernennen konnte. Das Ende kam plötzlich, es kam auch für den rüstigen Greis als so harter Schlag, dass Klaus Schwab 48 Stunden brauchte, ehe er die inzwischen öffentlich gewordenen Vorwürfe entschieden zurückwies.

Der Vize-Chef des Gremiums, Peter Brabeck-Letmathe, ein 80-jähriger EX-Chef des Lebensmittelkonzerns Nestlé, muss vorerst einspringen. Brabeck-Letmathe war öffentlich zuvor kaum jemals als Weltvordenker aufgefallen. Jetzt schlägt seine Stunde. Es gilt, zu retten, was von Schwabs Lebenswerk noch übrig ist. Beim WEF, das zuletzt nicht einmal mehr die früher gewohnten leidenschaftlichen Proteste hervorrief, geht es ums Überleben. 

Das Charisma des Gründers

Wie jedes Familienunternehmen lebt auch das "Forum" von der patriarchischen Figur im Mittelpunkt, vom Charisma eines Gründervaters, der aus einer fantastischen Vision einen zuverlässig schnurrenden Weltkonzern gemacht hat. Schwab füllte diese Rolle aus, in rätselhaften Kostümen und mit Forderungen wie der, "dass wir den Kapitalismus neu definieren müssen". Wer "wir" ist und ob der Kapitalismus durch eine neue Definition abgeschafft oder fit für höhere Profite gemacht werden soll - Schwab genoss und schwieg.

Das machte einen Teil seines Erfolges aus, der auch ein finanzieller ist. Das Stiftungskapital des WEF, öffentlich nicht näher beziffert, liegt nach Schätzungen heute bei mindestens 30 Millionen Schweizer Franken. Dazu kommen erhebliche und noch stillere Reserven von mehr als 130 Millionen Euro. Das Unternehmen machte im Geschäftsjahr Juli 2023 bis Juni 2024 440 Millionen Franken Umsatz. Genug, um sich zuletzt sogar deutlich stärker als früher mit einem symbolischen Beitrag an der Finanzierung der Sicherheitsmaßnahmen rund um das Treffen in Davos zu beteiligen. 

Sturz der Weltregierung

Einen solchen Giganten mit einem anonymen Brief auszuhebeln, in dem ein Whistleblower offenbar so glaubwürdige und nachvollziehbare Vorwürfe erhebt, dass das WEF seinem Gründer inzwischen Hausverbot erteilt hat, ist ein starkes Stück. Dass Regierungen zuweilen über die eigenen Füße stolpern wie die Ampel oder Imperien auseinanderbrechen, weil die Fliehkräfte das Zentrem auseinanderreißen, ist aus der Geschichte hinlänglich bekannt. Doch dass auch eine der Weltregierungen auf diese Weise in die Bredouille gerät, hätte bis vor einigen Tagen wohl niemand für möglich gehalten.

Plötzlich zählt nicht mehr, dass es Schwab war, der die damals noch ganz frische Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu inspirierte, auf dem Treffen der Weltelite die Schaffung einer "Charta des nachhaltigen Wirtschaftens" zu fordern, die damals noch nicht vorbestrafte EZB-Chefin Christine Lagarde inspirierte, vor sozialen Unruhen in Europa zu warnen, und den Präsidenten der Europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet 2013 beklatschte, als er erklärte, dass dem Euro durch die Finanzkrise keine Gefahr drohe.

Angriffe auf den Paten

Undank ist der Welten Lohn. Ähnliche Vorwürfe wie jetzt hatte Klaus Schwab schon im vergangenen Jahr entschieden zurückgewiesen. Sie waren so sanft vorgebracht worden, dass sie das ehemalige Nachrichetnmagazin "Der Spiegel" nur in seinem Supplement "Manager Magazin" veröffentlichte - und auch erst mit einem Monat Verspätung, als der Pate sie wohlbehalten überstanden hatte. Eine Klage gegen das WEF war später zurückgezogen worden. 

Jetzt aber geht es nicht mehr nur um Belästigung und Diskriminierung von Mitarbeitern aufgrund ihrer Rasse und ihres Geschlechts, sondern um Geld, dass Schwab und seine Frau "für persönliche Zwecke verwendet" haben soll. So habe Schwab Mitarbeiter veranlasst, für ihn "tausende Dollar" in bar abzuheben. Seine Frau Hilde soll  Luxusreisen "aus Anlass von WEF-Treffen" über das Forum abgerechnet haben. 

Gegen Schwabs Warnung

Nichts, was nicht überall dort üblich ist, wo öffentliche Gelder ohne Kontrolle verschwendet werden können. Doch weil die Schweizerische Stiftungsaufsicht sich in der Causa einmal mehr als unabhängiges Kontrollorgan inszenieren will, musste das WEF-Kuratorium eine interne Untersuchung einleiten. Klaus Schwab selbst soll sich noch dagegen ausgesprochen haben. Vergeblich - die Machtbasis des Mannes, in dessen legendärem Adressbuch die Privatnummern aller eingeschworenen Angehörigen der globalen Machtelite stehen sollen, war schon zu sehr erodiert. Die seit einem Jahr über dem Erbe des sympathischen Gesichts des WEF kreisenden Geier schlugen gnadenlos zu.

Schwab wurde vor die Tür gesetzt. Ein Lebenswerk in Minuten zermalmt. Ungeachtet dessen, hieß es aus dem Leitungsgremium der Weltregierung, bleibe das WEF "seinen Grundsätzen voll und ganz verpflichtet" - eine Anspielung auf die von Klaus Schwab verkündete Mischung von Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und moralischer wie intellektueller Integrität, die die private NGO über Jahrzehnte befähigt hat, großen Wert auf den Schutz von menschlichen Werten und die Wahrung von Ethik und Integrität zu legen. 

Donnerstag, 24. April 2025

Bundesmeinungsaufsicht: So gesetzlos ist das Internet wirklich

Ursula von der Leyen hat Europa ide Freheit gebracht
Nicht die US-Truppen, sondern Ursula von der Leyen und ihre Kommissare waren es, die den Europäern mit dem DSA die Freiheit gebracht haben.

Kaum ein anderes Problem beschäftigt die Politik so sehr wie die häufig überschwappende Meinungsfreiheit im Internet. Seit die US-amerikanischen  Netzwerke die frühere Rolle der Leitmedien als debattenprägende Orte des Meinungsaustauschs übernommen haben, hadern rechte wie linke Parteien mit einem Übermaß an "Meinungsfreiheit", wie das aus Artikel 5 Grundgesetz abgeleitete Recht, "seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten" selbst von seriösen Medienhäusern und Parteivertretern meist irrtümlich genannt wird.  

Meinungen sind faktisch nicht nachweisbar

Gemeint ist die dabei eigentlich die Meinungsäußerungsfreiheit, die durch alle Umstände bedingt allein im Bereich möglicher staatlicher Regulierung liegt. Meinungen selbst sind innere Angelegenheiten jedes Individuums. Sie lassen sich faktisch nicht nachweisen und damit auch nicht staatlich kontrollieren. 

Im alten Volkslied "Die Gedanken sind frei" findet dieser Umstand höhnischen Ausdruck: Textdichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, von der preußischen Regierung wegen seiner liberalen Ansichten gecancelt, mit Berufsverbot belegt und seiner Pension beraubt, kitzelte die damalige Staatsmacht mit seinen demonstrativen Zeilen "Ich denke was ich will und was mich beglücket, doch alles in der Still und wie es sich schicket". Staat, hieß das, dagegen kannst du gar nichts tun. 

Der Gedanke innerer Allmacht

Von Fallersleben entzückte der Gedanke innerer Allmacht. "Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei", glaubte er, weil er sicher war, dass die Äußerung von Meinungen kann Gegenstand staatlicher Regelungen sein kann. Zu seiner Zeit mangelte es weitgehend an Äußerungsmöglichkeiten. Dank umfassender Medienregulierung blieben nur Kneipenrunden für Hetze, Hohn und Zweifel, wie der Dichter mit der Zeile "Ich sitz' nicht alleine bei einem Glas Weine" andeutet. 

Das änderte sich grundlegend erst mit dem Aufkommen von Internet und sozialen Netzwerken, die deshalb in den zurückliegenden zehn Jahren zunehmend in den Fokus politischer Aufmerksamkeit rückten. Hier machten sich Widerspruch und Witze über die Mächtigen unkontrolliert breit. Hier maßten sich einfache Bürgerinnen und Bürger an, die Leistungen der Regierenden nach eigenem Gusto zu bewerten. Der Ruf, dass das Internet "kein rechtsfreier Raum" sei, erschallte je lauter, desto geringer die Glaubwürdigkeit von Kanzler, Ministern und Parteichefs ausfiel.

Ansichtenangriffe und Attacken 

Eine Institution wie die EU-Kommission, die schon in ihren guten Jahren nicht mehr Vertrauen genoss als ihre selbstausgedachten Umfragen, litt besonders unter Ansichtenangriffen und aggressive Attacken von Meinungsgegnern. Sie war es deshalb aber auch, die mit dem Digital Service Act (DSA) das weltweite erste umfassende Regulierungspaket für eine Einhegung der verwilderten Sitten vorlegte. Die neue Norm für Freiheit macht die 27 Mitgliedsstaaten der Europäische Union als wertes Gebiet weltweit zu einem einheitlichen Meinungsraum. 

Das Gesetz über digitale Dienste, wie es auf Deutsch heißt, hat den im Jahr 2000 beschlossenen rechtlichen Rahmen für Online-Plattformen an die Gegebenheiten des Plattformkapitalismus angepasst. Dabei wurden einerseits die Grundsätze eines gewissermaßen freien Internets berücksichtigt. Aber andererseits ist es gelungen, ein europaweites System von Meinungsaufsichtsstellen, freiwilligen Helfern der Gesinnungspolizei und Schwerpunktstaatsanwaltschaften zur Durchsetzung des geltenden Rechts aufzubauen. 

Die Sitten der Mitgliedsstaaten

Das ist plural und je nach den Sitten der einzelnen Mitgliedsstaaten vollkommen unabhängig. Die in Deutschland von staatliche finanzierten Freiwilligenorganisationen getragenen Trusted Flagger etwa, nach EU-Definition "zertifizierte Akteure im Kampf gegen illegale Inhalte im Netz", werden im benachbarten Frankreich von ganz anderen Ministerien mit Geld versorgt als in die Faktenchecker in Griechenland

Erfolgreich aber arbeiten sie alle und aktuelle Zahlen aus der Koordinierungsstelle für digitale Dienste in der Bundesnetzagentur (BNetzA) zeigen, wie dringend nötig gerade Deutschland ein koordiniertes Vorgehen gegen mögliche Verstöße gegen den DSA hatte. Die Jahresbilanz über eingegangene Beschwerden, die BNetzA und Bundesblogampelamt (BBAA) im mecklenburgischen Warin vorgelegt haben, hat es in sich: 747 Eingänge von Beschwerden verzeichneten die Behörden allein im Verlauf des Jahres 2024. Nach einer Bereinigung um Irrläufer und Spam blieben 703 konkrete Beschwerden übrig, denen nachgegangen werden musste.

Zwei Beschwerden pro Tag

"Das sind beinahe zwei Beschwerden pro Tag", umreißt BBAA-Chef Herrnfried Hegenzecht die Dimension der möglichen Verstöße gegen den Digital Services Act, die auch aus einer Antwort der Bundesregierung (20/14432) auf eine Kleine Anfrage der Unionsfraktion (20/14037) hervorgeht. 

Angesichts von rund 67 Millionen Internetnutzern in Deutschland, die teilweise gleich bei mehreren Hassnetzwerken angemeldet sind und häufig nebenher noch weitgehend unregulierte russisch-arabische Messengerdienste nutzen, ist das eine wahre Flut von eingehenden Hinweisen auf mutmaßliche Meinungsfreiheitsverstöße. "Sie zeigt", sagt Hegenzecht, "wie dringend notwendig der rasche Aufbau einer Infrastruktur zur Beobachtung und Prüfung bekannter Treffpunkte von Meinungsäußerern ist".

Der Aufbau kommt gut voran

Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes über digitale Dienste kommen die Behörden eigenen Angaben nach gut voran. In der Koordinierungsstelle der Bundesnetzagentur für Verdachtsfälle konnten seit Geltungsbeginn des Durchsetzungsrahmens nach dem DSA 22,5 Planstellen besetzt werden. 

Diese sogenannten Meinungsfreiheitsschützer schauen den bisher behördlich als Very Large Online Platforms (VLOPs) und Very Large Online Search Engines (VLOSEs) eingestuften 17 Online-Plattformen und zwei Online-Suchmaschinen ganz genau auf die Finger. Halten die VLOPs und VLOSEs sich an ihre Löschpflichten? Bekämpfen sie abweichende Meinungen oder nutzen sie ihre Algorithmen, um Wahlen illegal zu beeinflussen?

Behörde mit Außenstellen

Vom Hauptsitz in Bonn aus, aber auch aus den regionalen Nebenstellen an den Standorten Berlin und Mainz lenken und leiten die Meinungsbeamten der BNetzA gemeinsam mit den Mitarbeitenden der Meinungsfreiheitsschutzabteilungen und der Hassmeldestelle beim BBAA in Warin die Einleitung und Umsetzung von Prüfermittlungen zur Bestätigung eines Verstoßverdachtes. Haben VLOPs und VLOSEs schnell genug auf vertrauliche Hinweise von Trusted Flaggern reagiert und Hetze, Hohn und Hass beseitigt? Oder lassen sie herabwürdigende Memes, Witze und Falschbegriffe widerrechtliche stehen?

Nach Bewertung der aus zuverlässigen Quellen und später während der fortlaufenden Überwachung verdächtiger Portale erlangten Informationen können die Aufsichtsbeamten zum Schluss kommen, dass der Verdacht eines Verstoßes begründet ist. Dann übernimmt die europäische Verfolgungsstruktur mit ihren weitergehenden rmittlungsbefugnissen: Die verdächtigen Plattformen müssen sich außergerichtlich zu den Vorwürfen erklären.

Ankläger und Gericht

Gelingt es ihnen nicht, ihr Verhalten ausreichend zu begründen, leitet die EU-Kommission ein förmliches Verfahren ein, bei dem sie selbst als Ankläger und Gericht agiert. Dadurch ermöglicht sie es den Beschuldigten, sich vor Erlass einer Entscheidung über die Verhängung von Geldbußen oder einer Entscheidung über die Verhängung von Zwangsgeldern noch einmal zu äußern. Erst danach teilt die Kommission mit, mit welcher Begründung sie diese Einwände verworfen hat und welche Maßnahmen sie angesichts der festgestellten Verstöße zu ergreifen gedenkt.

Für die Gemeinschaft ist das nicht nur  eine reine Formsache, die dazu dient, die mangels eigener großer VLOPs und VLOSEs nicht vorhandene digitale Souveränität symbolisch zu verteidigen, sondern auch eine verlässliche Quelle hoher Zusatzeinnahmen. Schon lange vor Inkrafttreten der neuen Regulierungsrichtlinien hatte die EU-Kommission Strafen wegen diverser Verstöße gegen europäische Vorgaben regelmäßig genutzt, um Milliardenstrafen zu verhängen. 

Erste Erfolge bei der Verfolgung

Mit dem DSA, so hofft man in Brüssel, lässt sich dieses Geschäftsmodell weiter ausbauen. Erste Erfolge gibt es - gerade hat die Kommission gegen Facebook-Mutter Meta und Apple strenge Strafen ausgesprochen. Perspektivisch lasse sich daraus vielleicht sogar eine regelrechte Online-Steuer machen. Die würden EU-Bürger zahlen, nach einer Idee der scheidenden Bundesaußenministerin Annalena Baerbock aber mit so kleinen Beträgen, dass es dem Einzelnen angesichts der allgemeinen Preissteigerungen kaum auffallen würde.

Die Entwicklung aber steht insgesamt noch am Anfang. Die bisher von der Koordinierungsstelle bei der BNetzA angestoßenen förmlichen Verfahren gegen die Plattformen X (Verfahrenseröffnung am 18. Dezember 2023), TikTok (Verfahrenseröffnung am 19. Februar 2024) und AliExpress (Verfahrenseröffnung am 14. März 2024) sind vielversprechende erste Pflänzchen auf einem Beet, aus dem eines Tages ein sauberes Meinungsbiotop wachsen wird.

Erste zarte Pflänzchen europäischer Selbstbestimmung

Das will gehegt und gepflegt werden, etwa durch die Koordinierungsstelle der EU-Kommission, die im Rahmen einer Abfrage in der Working Group 4 "Online Market Places and Consumer Protection" des Europäischen Gremiums für digitale Dienste Informationen zu den sehr großen Online-Plattformen sammelt und übermittelt. Zugleich unterstützt die Koordinierungsstelle die Digital Services Coordinators (DSC) anderer EU-Mitgliedstaaten bei ihren Ermittlungen zu gemeldeten Verstößen. 

Die US-Unternehmen, die sich zuletzt demonstrativ einer Neudefinition des Begriffs fälschlichen Meinungsfreiheit durch den US-Präsidenten Donald Trump unterworfen hatten,  haben die Botschaft aus Brüssel unterdessen empfangen. Meta beklagt, die EU-Kommission versuche, erfolgreiche Geschäftsmodelle aus dem Ausland mit "milliardenschweren Zöllen" zu behindern. Auch die US-Regierung sieht sich schwer getroffen. Der Republikaner Andrew Ferguson mumaßt inzwischen, dass der Digital Markets Act (DMA) "eine Form der Besteuerung amerikanischer Unternehmen" sei.

SPD-Mitglieder*innenentscheid: Was bleibt uns denn noch übrig

SPD sichert Neuaufbau Mitgliederentscheid
Wieder geht es um Neuaufbau. Und wieder steht die SPD in der Pflicht.

Serhac W. aus Essen ist grundsätzlich dagegen. Gestern erst machte er seinem sozialdemokratischen Herzen Luft und er schlug den Koalitionsvertrag rundheraus zur Bank, den Union und SPD miteinander ausgehandelt haben. Zu viele schwarze Positionen. Zu wenig sozialdemokratische Handschrift, so schrieb der Heizungsmonteur, der aus einer traditionell roten Familie stammt. Rudolf Kailer aus Bautzen hat den Text gelesen. Und sich "schrecklich aufgeregt", wie er sagt.  

Unbeugsamer alter Sozi

Auch Kailer ist ein "alter Sozi", wie er selbst sagt, "unbeugsam", nennt er sich selbst. Als Gerhard Schröder damals Kanzler wurde, hat der heute 62-Jährige gefeiert, denn der soziale Neoliberalismus des Niedersachsen gefiel dem gebürtigen Ostdeutschen sehr. Leistung und Selbstbestimmung seien ihm, der im Herbst 1989 immer wieder auf der Straße war, ganz besonders wichtig. Mit dem Koalitionsvertrag habe er deshalb "auch so" seine "Probleme". Kailer sagt, es sei ihm "zu viel Merkel und zu wenig Helmut Schmidt" in dem Papier. Doch gibt es eine Alternative? Der Schalenmonteur, der seit zwei Jahren gesundheitsbedingt im Ruhestand ist, sagt nein.

"Warum ich als alter Sozi für den Koalitionsvertrag stimme (und warum ihr das auch tun solltet)" hat er seine Erwiderung an Serhan W. überschrieben. Kailer rechnet nicht damit, den "Genossen aus dem Westen" umstimmen zu können. "Der schien mir doch sehr festgefahren in seiner Kontrahaltung". Aber vielleicht erreiche er ja den einen oder anderen in der Partei. "Ich höhre ja von meinen Genossen hier, dass viele noch überlegen."

Bloß nicht verzagen

Ich bin also der Rudolf, 62 Jahre alt, früher Montagearbeiter, geboren in Bautzen, hier aufgewachsen und immer noch zu Hause. Und ich sage euch gleich zu Anfang: Verzagt nicht! Ich hab mein Leben lang für die rote Fahne gestanden – und das nicht nur, weil ich mal auf einer Maikundgebung zu tief ins Bierglas geguckt hab. Mein Opa hat schon 1919 in der SPD den ersten Betriebsrat mitgegründet, meine Mutter hat nach dem Krieg die Wohnfahrt (Arbeiterwohlfahrt, Awo) in unserer Siedlung aufgebaut, und ich hab mit elf das erste Mal vor dem Westfernsehen gesessen und Willy Brandt reden sehen. Ich war sofort auch Sozialdemokrat, obwohl wir im Osten das damals natürlich nicht sein durften.

Wer mir also erzählen will, ich hätte keine Ahnung von Sozialdemokratie, der kann gleich wieder einpacken und zur FDP gehen. Jetzt also dieser Koalitionsvertrag. Ich sag’s euch ehrlich: Ein Gedicht ist das nicht. Wenn ich den lese, hab ich nicht das Gefühl, dass Willy Brandt aus dem Grab springt und "Mehr Demokratie wagen!" ruft. Im Grunde genommen ist das ja ein Demokratieabbauplan, mit dem sie uns richtig an die Kandare nehmen wollen. Da geht es um mehr Überwachung, um mehr Betreuung und Bemutterung. Ehrlich gesagt: Ich hasse das! Wir hatten das in der DDR und ich will das nie wieder.

Warte nicht auf bess're Zeiten

Aber - und das ist für mich der entscheidende Punkt – wir leben nicht in Willy-Brandt-Zeiten. Wir leben im Jahr 2025, und draußen vor der Tür steht der Sturm. Wer jetzt glaubt, wir könnten uns in die Opposition verkriechen, eine Tasse Tee trinken und warten, bis die Sonne wieder scheint, der hat nicht verstanden, wie ernst die Lage ist. Es gibt keine Erneuerung in der Opposition, es gibt kein Luftholen, Kraftsammeln und dann stärker zurückkehren. 

Das ist alles Quatsch. Wer die Macht nehmen kann, der muss zuigreifen, das sagt mir meine ganze Lebenserfahrung. Ich hab ja schon allerlei erlebt. Der Honecker ist meiner erste Erinnerung an Staatsmacht, unter dem haben wir richtig gelitten. Was für ein Glücksgefühl, als Helmut Kohl uns da rausgeholt hat! Meiner Partei habe ich es damals sehr nachgetragen, dass sie den Osten nicht haben wollte. Zum Glück gab es die großen Alten, Brandt und Schmidt, die da nicht mitgespielt haben.

Die Rechten nicht rechts überholen

Aber was jetzt passiert, ist eine ganz andere Nummer. Die AfD steht in Umfragen bei 25 Prozent, vor der Union, sagen manche. Und die CDU versucht, die Rechten rechts zu überholen. Die sehen nicht mal dass das die FDP komplett zerstört hat. Denen ist nicht zu helfen, glaube ich. Was glauben die denn, wer von den AfD-Wählern hier bei uns auf eine billige Kopie der Blauen wartet? Und wir? Wir Sozialdemokraten stehen da wie das letzte Aufgebot der Vernunft, und alle erwarten, dass wir die Demokratie noch mal aus dem Feuer holen. 

Zu viel verlangt. Wenn die Union so weitermacht und wir nicht gegensteuern, dann platz der demokratie der letzte Lack ab. Ich weiß, was manche jetzt sagen werden: "Rudolf, das ist doch Panikmache! Die SPD muss sich treu bleiben, lieber in Würde untergehen als sich verbiegen!" Ja, Genossen, das klingt schön. 

Eine Geschichte der Verantwortung

Aber ich sag euch was: Die Geschichte der SPD ist nicht die Geschichte des Untergangs, sondern die Geschichte davon, dass wir immer dann Verantwortung übernommen haben, wenn es sonst keiner getan hat. 1918, als das Kaiserreich zusammengebrochen ist. 1949, als die Republik aufgebaut wurde. 1969, als Willy Brandt das Land modernisiert hat. Und jetzt, 2025, stehen wir wieder an so einer Schwelle. Wir werden uns verbiegen müssen, um im Rücken gerade zu bleiben!

Klar, ich hätte mir auch mehr sozzialdemokratsiche Handschrift gewünscht. Mehr Europa, weniger Grenzkontrollen, ein bisschen weniger CDU im Text und ein bisschen mehr SPD im Herzen. Aber mal ehrlich: Lars und Saskia sind nicht unbedingt die Art Sozialdemokraten, die ich bewundere. Für mich sind das blutleere Funktionäre aus dem Westen, die noch keinen Augenblick ehrlich geschuftet haben wie unsereins. 

Wir haben keine Alternative

Was ist die Alternative? Noch mal vier Jahre Blockade, während die Rechten das Land aufheizen? Eine Minderheitsregierung, die bei jedem Gesetz bibbern muss, ob sie durchkommt? Oder Neuwahlen, bei denen am Ende die AfD mitregiert und wir alle gemeinsam hoffen, dass uns alte Sozialdemiokraten und Sozialisten nicht doe Polizei abholt, morgens um fünf?

Der Koalitionsvertrag ist nicht perfekt. Aber er ist vielleicht das Beste, was in dieser Lage rauszuholen war. Und er trägt ja unsere Handschrift – auch wenn sie manchmal ein bisschen zittrig ist. Wir haben das Rentenniveau gesichert, die Grundsicherung verbessert, bei den Sanktionen eine Formulierung herausgeholt, die gar nichts ändert, wenn alles glatt geht. Es ist besser als Hartz IV, wobei ich das eigentlich gut fand. Dazu als Bonbon den Mindestlohn hochgeschraubt, Investitionen in Bildung und Brücken gesichert, neue Kredite in ungeahnter Höhe verfassungsfest vereinbart. er da sagt, das sei alles nur CDU-Politik, der hat entweder den Text nicht gelesen oder will einfach nicht sehen, was wir erreicht haben. 

Kontrollen sind Notwehr

Was die Grenzkontrollen betrifft, sehen wir Leute hier an der Grenze  da gar keinen Verrat, sondern Notwehr. Ich bin auch kein Freund davon, denn wir hier fahren alle rüber nach Polen zum Tanken, zum Einkaufen, viele auch zur Arbeit. Aber seien wir doch ehrlich: Ohne Grenzkontrollen wird es nicht gehen, wenn wir nicht wollen, dass die AfD jeden Tag neue Angstkampagnen fährt und die CDU begeistert einstimmt, um uns Linken die Schuld für irgendwelche Messerattentate zuzuschieben.

Wer glaubt, wir könnten mit einem offenen Brief an Ursula von der Leyen die Probleme an den Außengrenzen lösen, der hat die letzten Jahre im Winterschlaf verbracht. Von der Leyen tut nur, wozu sie sich gezwungen sieht. Schon immer. Wer auf Europa hofft, der ist verloren. Ehe von dort etwas kommt, hat die AfD Deutschland schon in den Dexit gezwungen. Nein, wir müssen Europa schützen – und dazu gehört eben auch, dass wir zeigen, dass wir die Kontrolle behalten. Das ist kein Verrat an Europa, das ist der Versuch, die EU zu retten, die es, das sieht doch jeder, selbst nicht schafft. 

Sanktionen bis zum Hungertuch

Dass ich bei unserer künftigen Sozialpolitik keine Bauchschmerzen habe, Bauchschmezen, von denen auch viele andere Genossinnen und Genossen berichten, will ich ja gar nicht behaupten. Ich habe sie! Aber schaut euch doch mal an, was die Union gefordert hat: Arbeitsdienst für alle, die nicht spuren, und Sanktionen bis zum Hungertuch. Für mich ist klar: Es wird sicher nicht besser werden für die Armen. Aber wir haben das Schlimmste verhindert und das Beste rausgeholt, was in dieser Situatioin möglich war. Genossen, wir haten nicht einmal 17 Prozent der Wähleer hinter uns! Was erwartet ihr denn da?

Ich sage: Die Grundsicherung bleibt sozial, die Mitwirkungspflichten sind hart, ja, aber sie sind nicht unmenschlich. Und der Mindestlohn von 15 Euro ist ein Meilenstein – das hätte es mit der Union alleine nie gegeben. Es ist ja nicht so, dass von dieser Erhöhung nur die Mindestlöhner profitieren werden. Ich sage Euch: Jeder, der jetzt 15 Euro bekommt, vielleicht als qualifizierter Bauhelfer oder als Küchenmitarbeiter in der Gastro, wird zu seinem Chef sagen, hey, Boss, ich brauch mehr Geld - wenn er spitzkriegt, dass der ungelernte und überhaupt nicht qualifizierte Nebenmann auch 15 Euro einsteckt, obwohl er viel weniger leistet.

Alle klagen seit Jahren

Wer mir erzählt, dass die SPD in der Wirtschaftspolitik nichts mehr zu melden hat, dem empfehle ich mal ein Gespräch mit einem Mittelständler aus unserer Ecke hier. Die klagen alle seit Jahren. Aber was wird das für ein Boom werden, wenn jetzt die Milliarden Investitionen in Infrastruktur, die Entlastungen für kleine Einkommen, der Industriestrompreis, wenn das alles kommt. Ich sage: Das alles sind sozialdemokratische Erfolge. Klar, einem alten Sozi wie mir tun die Steuersenkungen für Unternehmen weh. Das Geld sähe ich auch lieber woanders angelegt, in höheren Sozialleistungen und niedrigen Mieten zum Beispiel.

Aber ohne Wirtschaftswachstum gibt’s auch keine Arbeitsplätze und schon gar keine sozialen Leistungen. Wir haben das in der DDR erlebt. da wurde nichts investiert, noch länger als in der Bundesrepublik. Und so sah es am Ende dann auch aus. Fürchterlich. Alles kaputt. Alles verrostet und vom Zahn der Zeit zerstört. Das ist die Realität, und wer das nicht sehen will, der hat die letzten 60 Jahre verschlafen.

Der böse Nachbar

Als Rentner, der vor 40 Jahren Uniform anziehen musste, habe ich zur Friedenspolitik eine feste Meinung. Ich bin kein General, ich will auch keiner sein. Aber selbst ich hab verstanden, dass wir in einer Welt leben, in der Putins Panzer nicht mit Friedensgebeten aufzuhalten sind. Der Friede muss bewaffnet sein, haben sie uns in der Schule einreden wollen. Aber heute muss ich sagen, da ist was dran. Damals hielten wir das für Schwachsinn, reine Propaganda. Kein Mensch kann in Frieden leben, wenn es der böse Nachbar nicht will! Fakt.

Wir investieren in die Bundeswehr, ja, aber nicht, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir Frieden sichern müssen. Das ist kein Widerspruch zur sozialdemokratischen Tradition – das ist ihre Fortsetzung unter veränderten Bedingungen. So schwer es fällt, auch hier wieder Geld auszugeben, das woanders besser angelegt wäre - es nützt doch nichts, Genossen.

Opposition ist Mist

Ich hab nie verstanden, warum manche Genossen meinen, wir müssten uns in die Opposition zurückziehen, um unsere heilige sozialdemokratische Seele zu retten. Gar nicht, sage ich. Opposition  ist Mist, hat Franz immer gresagt! (Müntefering) Die SPD war immer dann am stärksten, wenn sie Verantwortung übernommen hat, wenn sie mutig genug war, Kompromisse zu schließen. Wir haben damals den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg zugestimmt, weil es um die Nation ging. warum also jetzt nicht?

Mein Opa zum Beispiel hat 1920 oder so gegen die Kapp-Putschisten gekämpft. Darauf bin ich stolz, daraus ziehe ich auch die Kraft, dass wir heute sagen können: Ja, wir machen das mit, aber das ist nicht das letzte Wort der Geschichte. Unser Angebot an die Menschen muss Glaubwürdigkeit sein. Die bekommen wir aber nicht,w enn wir nach wochenlangen Verhandlungen jetzt sagen, nöö, das dieser Koalitionsvertrag ist uns nicht schön genug. Ich stimme ihm deshalb zu - nicht, weil ich ihn liebe, sondern weil ich weiß, dass Deutschland uns jetzt braucht, weil es keine Alternative hat.

Die Gefahr der Rechtsregierung

Ja, jetzt sagen vielleicht mache: Gibt's doch. Lasst doch die Union versuchen, mit der AfD im Bundestag zu regieren. Dann werden alle am schnellsten sheen, wie das vor den Baum geht. Aber ich sage Euch was: Das kann auch ins Auge gehen. Was wäre denn, wenn das klappt? Wenn die CDU sich anschließend endgültig nach rechts verabschiedet? Wenn die beiden nach 2029 koalieren? Um die Sozialpolitik von gestern wieder zum Maßstab zu machen, der Wirtschaft die gemeinsam mit den EU-Partner verpassten Fesseln abnimmt und wir hier Wildwest-Zustände wie in Amerika bekommen?

Ich wills nicht erleben. Und deshalb sage ich: Lieber ein Koalitionsvertrag mit Kompromissen als ein Deutschland, in dem wir uns in ein paar Jahren fragen, warum wir nicht gehandelt haben, als es noch möglich war. Nicht, dass wir etwas Gutes bekommen, beileibe nicht. Aber wir müssen doch handeln, solange es geht. Und deshalb müssen wir jetzt Verantwortung übernehmen, nicht irgendwann morgen oder in ein paar Jahren, wenn alle aus ihrem Traum von einer neuen Fortschrittskoalition der vielen linken Parteien aufgeacht sind. Jetzt ist die Stunde, in der wir Sozialdemokraten noch da sind, dass unser Ideen mehr als Nostalgie sind und dass unser Spitzenpersonal vielleicht nicht überzeugt ist, aber doch die letzte Kraft, die dieses Land zusammenhalten kann, wenn alle anderen auseinanderlaufen.

Mittwoch, 23. April 2025

Erfolgsmodell Euro: Bilanz des Schreckens

Euro Verschuldung EU-Staaten EU-27
Eine Bilanz des Schreckens: Der Euro lädt zu höherer Verschuldung ein, produziert aber weniger Wachstum.

Niemals eine große Krise ungenutzt verstreichen lassen, sich niemals irritiert zeigen, wenn wieder einmal ein Plan nicht funktioniert hat. Ursula von der Leyen hat "Europa freier gemacht" (CDU, nicht nur ihr allein aber haben 440 Millionen Europäer es zu verdanken, dass die Staatsschulden in der Eurozone sind im Jahr 2024 einmal mehr leicht gestiegen sind. Und einmal mehr deutlich mehr als in dem Teil Europas, der zur EU gehört, die Einführung der Gemeinschaftswährung aber immer noch hinhaltend verweigert.  

Ein großer Plan

Dahinter steckt langfristige Arbeit, die Arbeit von Generationen. Seit den Geheimgesprächen zum Abschluss des Hades-Planes an jenem 27. September 1991, der die Weichen für das heutige Europa stellte, haben mehrere Kommissionen, eine ganze Reihe von EZB-Chefs und zahllose Regierungen in der EU alles getan, um den Euro zu dem Erfolg zu machen, der er heute ist. Zahlen lügen nicht: Der öffentliche Schuldenstand der Euro-Länder erhöhte sich zuletzt  auf 87,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die sieben Nicht-Euro-Länder in der EU eingerechnet, liegt er die Staatsschuldenquote im Durchschnitt nur bei 81,0. 

Eurostat, die EU-Statistikbehörde, weist den Schuldenstand der sieben Nicht-Euro-Staaten nicht eigens aus. Die Gesamtschau aber zeigt, dass er deutlich niedriger liegt als der der Euro-Staaten. Ein Phänomen, das eine lange Geschichte hat: Staaten ohne Euro hatten schon immer im Durchschnitt niedrigere Schulden als Staaten, die den Euro bei sich eingeführt hatten. Sie haben eigene und oft unabhängige Zentralbanken und damit kaum die Möglichkeit, Schulden auf Kosten anderer Schuldner aufzunehmen.

Es kostet nichts

Ist der Euro erst Landeswährung, erlaubt es die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, auch mal was anschreiben zu lassen, das eine nichts kostet. Dadurch wird der Spielraum kleiner, auch fehlt die Möglichkeit, die eigene Währung abwerten zu lassen. Aber der Zugang zu Krediten ist einfacher. Ein Tausch Souveränität gegen Fremdfinanzierung, bei dem sich 20 von 27 Staaten für die zweite Variante entschieden haben. Eigentlich müssten alle, abgesehen von Dänemark. Nur wollen tun sie nicht. 

Es gibt keinen Zwang für Mitgliedstaaten der, den Euro einzuführen. Aber eine bindende Verpflichtung: Alle EU-Staaten müssen den Euro einführen, sobald sie die Konvergenzkriterien erfüllen.  Die meisten der Länder, die es könnten und damit zwingen müssten, vermeiden es jedoch tunlichst. Seit 2007 traten nur sieben weitere Staaten bei, alle zwei Jahre eins. Zuletzt kam Kroatien hinzu, acht Jahren, nach Litauen, das das Schwundgeld 2015 eingeführt hatte.

Polen, Ungarn, Tschechien, aber auch Schweden und Dänemark, vier echte Wachstumsraketen im Blindgängerarsenal der Gemeinschaft, scheuen schon länger jedes Gespräch über ihre Verpflichtung aus den Maastricht-Verträgen. Die EU meidet jede Erwähnung der Frage mindestens ebenso streng, denn frühere Ankündigungen, dass Bulgarien (2021) und Rumänien (2022) wären jetzt so weit und bereit, haben sich als Falschmeldungen herausgestellt.

Die Euro-Musterschüler haben keinen

 Bulgarien, mit einer Schuldenquote von nur 24 Prozent ein EU-Musterschüler, wird wissen, weshalb.  Denn auffälligerweise sind nicht nur unter den sechs am wenigstens verschuldeten EU-Staaten drei ohne Euro -  neben Bulgarien Dänemark (31,3 Prozent), Schweden (33,5 Prozent). Sondern unter den am höchsten verschuldeten auch ausschließlich Euro-Zahler: Griechenland (153,6 Prozent), Italien (135,3 Prozent), Frankreich (113,0 Prozent), Belgien (104,7 Prozent) und Spanien (101,8 Prozent). 

Sie alle reißen wie sieben weitere Euro-Staaten die Maastricht-Kriterien, die für einen Beitritt zur Euro-Zone Voraussetzung sind. Deutschland (62,5 Prozent) tut das seit Jahren auch, damit ist das Problem vom Tisch: Die Minderheit der 13 Staaten, die heute noch um eine Zulassung zur Gemeinschaftswährung bitten dürften, besteht aus Kleinstaaten, Nicht-Euro-Ländern, Steueroasen und Google-Kolonien. 

Unlust und Erschrecken


Die größeren darunter - etwa Schweden, Ungarn und Polen - wollen nicht. Die EU aber kann nicht. In Erwartung, dass der Euro ein Selbstläufer wird, der wie ein Magnet Mitgliedsstaaten anzieht, war vergessen worden, Strafen für die Verweigerung der Einführung vorzusehen. Der legendäre EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Junckers hatte das öffentlich eingeräumt: Er könne ja Länder nicht "in den Euro zu zwingen, die nicht in den Euro wollen oder können". 

Die große Stärke der europäischen Gemeinschaft zeigt sich vor allem darin, dass sie unbeirrt am Kasperletheater um die "Konvergenzberichte" fest. Kommissionen bescheinigen den Beitrittskandidaten darin etwas, dass "Schweden das Kriterium der Preisstabilität" erfülle, Bulgarien, Tschechien und Schweden sogar das "für die langfristigen Zinssätze" und dass die Vorfreude auf den Euro überall groß ist

Vorfreude schönste Freunde

Sie vergeht allerdings rasend schnell: Kroatien hat mit der Euro-Einführung sofort den Spitzenplatz in der Inflationstabelle erklommen. Am Wachstum kann es nicht liegen, denn traditionell liegt das in den Staaten ohne Euro höher als in denen mit. So zuverlässig sich die Staatsverschuldung der Länder in der Euro-Zone sich immer weiter vom 60-Prozent-Ziel entfernte, so stur lagen die Wachstumsraten in den Euro-Ländern unter denen ohne. Selbst das Licht am Horizont, wenn es schon mal scheint, ist draußen heller: Geht es mal abwärts, dann dort schneller, wo der Euro Landeswährung ist.

SPD-Mitgliederentscheid: Genosse in Gewissensnot

Jetzt ist unsere Zeit: Serhac K. (r.) würde sich eine Fortsetzung der Regierungsbeteiligung der SPD wünschen. Doch ihre Grundwerte sollte sich seine Partei deshalb nicht abhandeln lassen, sagt er.


Dass wir wieder dabeisein werden, das hat mich schon gefreut. Ich bin SPD-Mitglied, aber eins aus Überzeugung. Also eins von denen, die noch wissen, was ein rotes Parteibuch ist, und die sich sonntags um 10 Uhr im Ortsverein den Filterkaffee in die Tasse kippen, während sie sich fragen, ob unsere Partei jetzt links, rechts oder einfach nur geradeaus in den Abgrund marschiert. Was haben wir nicht alles an Kompromissen gemacht! Die ganzen Jahre, auf die ich sehr stolz bin, kam hinten nie SPD raus, wo wir Genossen vorn Herzblut reingesteckt haben. 

Ein stolzer Sozialdemokrat

Ich war auch stolz darauf, dass wir sagen konnten, wir haben länger mitregiert als irgendwer anders, wir haben am meisten  dafür gesorgt, dass Deutschland heute ist, wie es ist. Uns entgegenzuhalten, was wir alles nicht geschafft haben, Frieden, Gerechtigkeit, soziales Glück und die soziale Spaltung ab, das ist billig. Was wäre denn, hätten wir nicht ab und an mal die Regierung geführt? Und in der restlichen Zeit mitregiert?

Es ist für mich schon wichtig, festzustellen, dass wir es nicht wissen. Villeicht wöäre die Infrastruktur noch kaputter? Das Bildungssystem vollkommen erledigt? Die Wirtschaft ganz weg? Richtig optimistisch bin ich auch nicht, das gebe ich zu. Es war mehr drin. aber nun liegt wieder mal ein Koalitionsvertrag auf dem Tisch bei uns in der Stube, und wieder darf ich als einfacher Genosse abstimmen. Und mein Gefühl ist, es geht diesmal darum, ob wir uns diesmal endgültig selbst abschaffen oder noch ein paar Jahre auf Sparflamme weiterwursteln.

Besser weiterwursteln

Ich meine schauen Sie doch zurück. Da war Olaf Scholz, ein Mann, ein Wort, wir hatten Führung bestellt und er wollte Fortschritt liefern. Was rausgekommen ist, haben Sie sicher auch mitbekommen. Nichts mit Führung, nichts mit Fortschritt. Hohngelächter. Selbst wir an der Parteibasis hatten keine Lust mehr, den Bockmist zu verteidigen, den die in Berlin zusammenregiert haben. 

Aber Blut ist dicker als Wasser. Dass wir bei der Wahl einen Dämpfer bekommen, war zu erwarten gewesen, dass danach die Chance besteht, alles besser zu machen, hat mich aber trotzdem gefreut.Es fiel riesige Last von uns allen ab, als klar wurde, dass sich meine Parteiführung schließlich mit denen geeinigt hat, mit denen wir alle kurze Zeit zuvor nie wieder an einem Tisch hatten sitzen wollen. Demokraten können aber eben über ihren Schatten springen, wenn es um wichtigere Dinge als die Brandmauer und den Kapmf gegen rechts geht.

Ich lag immer richtig

Jetzt also Mitgliederentscheid. Ich habe mehrere mitgemacht und es hat immer bedeutet, dass es letztenendes auf mich ankam. Ich verate Ihnen mal was: Die Mehrheit hat immer so abgestimmt wie ich! Auch diesmal steht es Spitze auf Knopf, denke ich. Die Jungen in der Partei sind wohl weitgehend dagegen, die Pragmatiker und Funktionäre mehr dafür. Wir Älteren sind froh, eine weitere Legislaturperiode obendran zu bleiben, ich sage immer, Regierungsbeteiligung ist nicht Champions League, aber Pokalsiegercup oder wie das heute heißt. 

Trotzdem ist es schwer. Ich habe den Koalitionsvertrag gelesen, richtig wie früher im Parteilehrjahr mit Stift und Notizblock. Aber was das Gefühl betrifft, stehe ich nun mitten dazwischen und weiß nicht, was ich denken soll. Dagegen? Dafür? Ich würde meine Hand gern führen lassen vom glücklichen Gefühl, zu wissen, dass wir die nächsten vier Jahre weiterhin oben mitspielen. Aber der Gedanke, was wir dafür preisgeben, der lähmt mich richtig. 

Erschrocken über Zugeständnisse

Also ganz ehrlich:Ich bin erschrocken über die Zugeständnisse an CDU und CSU, die Lars und Saskia gemacht haben. Brutale Zurückweisungen an den Grenzen? Vielleicht mit Waffengewalt? Zustimmung zum neuen europäischen solidarischen Asylsystems mit sicheren Herkunftsländern wie Tunesien und Ägypten? Ich war dort schon im Urlaub und ich weiß, da liegt sehr vieles im Argen! Wir bekommen weiter keine Reichensteuer, keine Regeln zum Abschöpfen von Übereinkommen, keine Anpassung des Mindestlohns an die Rente und kein bedingungsloses Grundeinkommen. Wenn ich rückhaltlos offen und ehrlich bin, muss ich Ihnen sagen, Herz und Hirn schreien nach Ablehnung.

Ich will nicht, dass dieses Land keine offenen Arme mehr! Ich will nicht, dass wir uns weigern, am Bahnhof Applaus zu spendieren und unseren Wohlstand zu teilen. Ich bin auch eher ein Freund des Friedens und der Völkerverständigung, würde es also gern sehen, wenn wir ein Abkommen mit Putin treffe, um den Krieg zu beenden - und zwar am besten, bevor das Trump macht. Dessen Gesicht würde ich nämlich gern sehen! 

Es grummelt im Bauch

Aber dazu steht nichts im Koalitionsvertrag. Deshalb grummelt es mir im Bauch. Ich habe die letzten Wochen alles gelesen: Koalitionsvertrag, Kommentare, Facebook-Posts von Leuten, die ich nicht kenne, aber die trotzdem wissen, was für die SPD gut ist. Und ich habe gelernt: Egal, wie ich abstimme, die AfD regiert danach sowieso spätestens ab 2029, die SPD wird einstellig und Olaf Scholz und unsere anderen Spitzenleute landen vor Gericht. Ich glaube das nicht. Aber ich sehe auch nicht, wie es anders kommen soll.

Denn offen gesagt: Groß geredet wurde zuletzt in der Partei nicht mehr. Früher, als ich ein ganz junger Genosse war, da gab’s bei uns noch richtige Debatten. Da wurde gestritten, da wurde gerungen, da wurden notfalls auch mal die Stühle gerückt. Heute gibt es Ansgaen von oben. Und Warnungen, dass die Einheit der Partei das Wichtigste ist. Bloß keine Fehlerdiskussion! Sogar Drohungen kann man sich abholen. Mir hat ein Genossevon Kreisvorstand geschrieben: !"Wenn du gegen die GroKo stimmst, ist die SPD tot." Ein anderer hat mich gewarnt: "Wenn du für die GroKo stimmst, ist die SPD tot." Ich habe also die Wahl zwischen Pest und Cholera. Demokratie, wie sie leibt und lebt.

Dann kommt die AfD


Ich sehe ja die verfahrene Lage. Wenn wir jetzt nicht mit der Union koalieren, kommt die AfD an die Macht, weil es dann Neuwahlen gibt oder der Merz sich vorher einen schlanken Fuß macht und eine Minderheitsregieurng von der weidel tolerieren lässt. Aber wissen wir es denn wirklich? Ich frage mich manchmal, ob wir noch Politik machen oder schon Astrologie betreiben. Könnte es nicht sein, dass bei Neuwahlen endlich viele verstehen, wie wichtig und bedeutsam eine starke SPD ist? Und wir wieder 30 oder 40 Prozent holen? 

Für mich ist das nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin nicht grundsätzlich gegen eine Große Koalition. Ich bin ja auch nicht grundsätzlich gegen Zahnarztbesuche oder Überstunden. Aber irgendwann ist doch mal gut. 

Ich träume von Angela Merkel

Wir haben jetzt schon so oft mit der Union regiert, dass mir nachts manchmal Angela Merkel im Traum erscheint, wie sie mir das Parteibuch wegnimmt und durch einen CDU-Mitgliedsausweis ersetzt. Und jetzt, wo Merz die Union endgültig zur AfD light umgebaut hat, sollen wir noch mal mitspielen? Vielleicht gleich mit Parteifusion, dann sparen wir uns wenigstens die doppelten Mitgliederbeiträge.

Alles, was wir immer wollten, will diese Regierung abwickeln. Keine rede mehr von den Vereinigten Staaten von Europa! Stattdessen Grenzkontrollen! Ich dachte immer, auch die CDU ist die Europapartei. "Für ein Europa ohne Grenzen", stand auf deren Plakaten, als ich noch jung war und die Haare dichter. Jetzt wollen sie Grenzkontrollen, als wären wir wieder 1985 und Helmut Kohl hätte gerade den Schlagbaum in den Kofferraum gepackt. Und mit Nancy Faeser hat der Merz auch das richtige Personal: Die ist noch stolz darauf, Menschen zu trennen! 

Kein Rechtsruck mit mir

Klar, wir müssen die AfD bemämpfen, damit sie nicht zu viel Zustimmung bekommt. Aber muss ich dafür gleich die europäische Einigung beerdigen? 75 Jahre erfolgreiche Friedenspolitik in die Tonne hauen? Von Bürokratieabbau schwärmen wie Donald Trump? Und den demokratischen  Rundfunk insgesamt infragestellen? Ich sehe schon die Schlagzeile: "SPD hilft CDU beim Rechtsruck – Europa schaut traurig zu." Dann würde ich doch lieber bei den Grünen eintreten. Einfach fürs Herz.

Im Koalitionsvertrag steht das mit den Zurückweisungen an der Grenze definiv drin, zum Glück aber nicht so, dass es nach einer geplanten Umsetzung klingt. Sie wollen da mit den anderen Ländern reden, also genau wie bisher eigentlich. Aber mich störts dennoch. Wenn man Neuankömmlingen kein freundliches Gesicht mehr zeigt, sondern erst mal eine Sicherheitsüberprüfung anordnet, eine Wartefrist und einen Stapel Formulare überreicht, dann ist das nicht mehr mein Land.

Gegen Umfragewertepolitik

Ich frage mich, wie wir das unseren europäischen Nachbarn erklären wollen. "Sorry, wir machen jetzt wieder dicht, aber nur ein bisschen. Ist ja nur vorübergehend. Also vielleicht auch für immer. Mal sehen, wie die Umfragewerte sind." Ernsthaft? Und dann die Sozialpolitik! Bürgergeld umbenennen,  Sanktionen verschärfen. Wer zweimal nicht zum Termin kommt, kriegt das Geld gestrichen. Wer dreimal nicht kommt, ist raus. 

Haben wir kein Grundgesetz mehr, das jedem das Existenzminumum sichert, ob er nun arbeitet oder nicht? Ich dachte, wir sind die Partei der sozialen Gerechtigkeit? Jetzt sind wir die Partei der Arbeitsvermittler mit erhobenem Zeigefinger. "Fördern und fordern" hieß das mal. Jetzt heißt es nur noch: "Fordern, fordern, fordern – und wenn du nicht spurst, gibt’s nix mehr."

Neoliberalismus in reinster Form


So geht das nicht. Das ist Neoliberalismus in reinster Form. Und dann die Aufrüstung! Wie damals beim Kaiser und bei Helmut Schmidt sind Kriegskredite wieder sozialdemorkatische Herzenssache. Wir stärken die Verteidigungsfähigkeit, hat Lars gesagt. Ich habe ja auch nichts gegen eine starke Bundeswehr. 

Aber mir war es doch lieber, als unsere Partei so konsequent gegen den Krieg war, dass sie sogar mit Gruselgestalten wie Breshnew, Honecker und Jaruzelski im Gespräch gebliben ist. Was haben wir damals nicht gegen Aufrüstung demonstriert! Gegen den eigenen Kanzler waren wir für den Frieden! Heute wollen wir ein Koalitionsvertrag unterschrieben, der die NATO bestimmen lässt, wie viel Geld künftig noch für die Armen, die Alleinstehenden und die Wohnungssuchenden übrig bleibt.

Ich war lieber für den Frieden


Das konsterniert mich. Ein guter Genosse fragte neulich, wann der Vorstand wohl den ersten SPD-Bundeswehrsong aufnimmt. "Panzer vorwärts, nie zurück, Panzer fahren für das Glück." Und gegen die AfD noch die Wehrpflicht obendrauf. Bisher haben wir ja Billionen für Waffen, aber wohl noch keine Leute in Aussieht, die schießen. wer nicht will, der bekommts wie beim Bürgergeld: Zweimal nicht in der Kaserne erschienen, kriegt die Grundsicherung gestrichen.

Das ist mir zu viel Zwang für eine freiheitliche Gesellschaft. Serhac, halt den Mund, sagen dann manche Genossen, zu überziehst. Natürlich, aber ist es denn nicht wirklich alles ganz beschissen? Dann könnten wir doch genausogut gleich jede Kritik an der Regierung verbieten, mehr Überwachung anordnen, Meinungen behördlich erlauben lassen und jeden Widerspruch als Hohn unter Erlaubnisvorbehalt zu stellen. Wo leben wir denn!

SPD-Politik für Überreiche

Mich haben Saska und Lars verloren. Körperschaftsteuer runter, Bürokratie runter, Stromsteuer runter und ein extra Strompreis für Großkonzerne, damit sie hier mit KI mehr Arbeitsplätze vernichten können. Und für uns? Steuersenkungen in zwei Jahren, wenn es die Kassen zulassen. Aber auf jeden Fall höhre Krankenbeiträge. Also wie immer alles runter, außer die Preise und die Mieten, die gehen natürlich weiter rauf. Ist das sozialistische Politik? Können wir uns damit im nächtsen Landtagswahlkampf auf der Straße sehen lassen?

Ich sehe es nicht. Und mir leutet auch das Argument nicht ein, dass all das alternativlos ist, weil sonst kommt die AfD. Ich weiß nicht, wie oft ich das schon gehört habe. Wenn ich jedes Mal einen Euro bekommen hätte, könnte ich die SPD alleine retten. Wissen Sie, was ich da sage? Das ist ein Popanz. Die kommt nicht. Die hat nicht die Leute. Und wenn sie kommt, geht sie auch ganz schnell wieder. Und mal ehrlich: Wenn wir alles mitmachen, was die Union will, nur damit die AfD nicht gewinnt, sind wir dann noch SPD? Oder sind wir dann nur noch die Union mit sozialdemokratischem Anstrich?

Erneuerung in der Opposition

Ich habe manchmal das Gefühl, wir Sozialdemokraten sind wie der Typ, der beim Poker immer mitgeht, egal, was auf dem Tisch liegt. Am Ende ist das Geld weg, die Freunde auch, und der Kellner fragt, ob wir wenigstens das Trinkgeld bar zahlen können. Nicht mit mir.

Ich werde gegen den Koalitionsvertrag stimmen. Nicht, weil ich die Große Koalition grundsätzlich ablehne. Nicht, weil ich die Union nicht mag. Sondern weil ich glaube, dass wir irgendwann mal wieder für etwas stehen sollten, statt immer nur gegen etwas. Für Europa, für soziale Gerechtigkeit, für eine Politik, die nicht nur auf Umfragewerte schielt. 

Wenn das bedeutet, dass wir bei der nächsten Wahl einstellig werden, weil Wähler*nnen noch nicht verstehen, was wir wollen, dann ist das eben so. Dann erneuern wir uns in der Opposition und ich kann wenigstens sagen, wir haben dem Verlangen nicht nachgegeben, um der Macht willen Abschied von unseren Werten zu nehmen. Nein, wir sind anständig geblieben und den Preis dafür haben wir gern gezahlt.

Dienstag, 22. April 2025

System stürzen, Gras essen: Lob des Kriegskommunismus

Stylisch inszeniert, gibt Kohei Saito den an Selbstgeißelung interessierten Eliten im Westen den kompromisslosen Stichwortgeber für die Abschaffung von Demokratie und Marktwirtschaft. Dafür lieben sie ihn.

Die Klima kommt, und in Europa kommt es mit aller Macht. Der  Kontinent, der sich am eifrigsten bemüht, die Klimafolgen der eigenen Existenz zu bekämpfen, leidet am stärksten unter dem Versagen bei der Erfüllung seiner Aufgaben. Nur hier blockierten mutige junge Menschen massenhaft die Straßen, um den Verkehr zu stoppen und vom Bundeskanzler ein Überlebensversprechen zu bekommen. Nur hier wird Klimastabilität von Grundgesetz und den europäischen Verträge als Kinderrecht geschützt.  

Traum von weniger Wohlstand

Doch nicht nur hier träumen Menschen von weniger Wohlstand, sondern auch am anderen Ende der Welt. In Japan denkt der Philosoph Kohei Saito schon lange über eine Welt am Abgrund des Klimakollapses nach, die unbeirrt weitermacht mit ihren Versuchen, noch mehr Menschen aus Armut, Hunger und medizinischer Unterversorgung zu holen. Kohei Saito ist 38 Jahre als, ein "Vordenker der Degrowth-Bewegung" und gerade um den halben Globus gereist, um Europa die Vorzüge des auf Minuswachstum geeichten Kriegskommunismus zu predigen. Nur der, so sagt er, könne wieder in bessere Zeiten führen. 

Es ist ein erneuter Versuch, die Menschheit zur Umkehr zu bewegen. Viele sind schon unternommen worden, von deutschen Vordenkerinnen und Wirtschaftsministern, von Think Tanks wie dem Denkwerk Demokratie und Wirtschaftswissenschaftlernden wie Marcel Fratzscher. 

Abbau des Wohlstandes kommt voran

Deutschland steht am Ende aller Anstrengungen vergleichsweise gut da: Zum dritten Mal hintereinander wird die immer noch größte europäische Wirtschaftsnation in diesem Jahr nicht wachsen, sondern schrumpfen. Die Corona-Zeit mitgerechnet, gelang es sogar in vier der letzten fünf Jahre weniger zu produzieren und zu konsumieren als früher.

Zwar stiegen die Staatseinnahmen im selben Zeitraum noch kräftig, aber die Mehreinnahmen reichen nur noch für deutlich weniger als die geringeren Mittel, die früher zur Verfügung standen. Etwas ist erreicht worden, aber es ist zu wenig, sagt Kohei Saito, ein Spezialist für staatliche Planung und Öko-Kommunismus, der das als "Postwachstum" bezeichnete Gesundschrumpfen der Menschheit mit demokratischen Mitteln als nicht erreichbar ansieht.

Echter Zwang und brutaler Druck

Es braucht härtere Bandagen, echten Zwang und brutalen Druck, um die Menschen auf Linie zu bringen und der Natur zum Sieg über den Kapitalismus zu verhelfen, hat er jetzt in Hamburg empfohlen, wo der Professor der Universität Osaka beim Geisteswissenschaftlichen Zentrum  "Zukunft der Nachhaltigkeit" der dortigen Universität vorrechnete, dass "der kapitalistische Weg von kontinuierlichem Wachstum und Akkumulation" nicht mit der Endlichkeit der irdischen Ressourcen vereinbar ist. "Wir können kein weiteres Wachstum dulden", schlussfolgert der Degrowth-Marxist aus der "biophysikalischen Tatsache, dass unsere Ressourcen endlich sind, unsere Welt begrenzt ist".

Nicht jeder kann alles haben, wenn alle aber nichts beanspruchen, dann haben dennoch alle genug. Saito ist kein normaler Klimabewegter, der Menschen zutraut, gemeinsam zu lernen und langsam Fortschritte zu erreichen. Er will seine neue Welt aufbauen, indem er zu Verzicht zwingt, Bürgerinnen und Bürger entmündigt und dem Staat wieder die Macht zurückgibt, die er unter Stalin, Mao und Hitler hatte.

Zurück zum Kriegskommunismus

Er wolle "das Konzept des Kriegskommunismus wiederbeleben", sagt Saito, den augenscheinlich die Vorstellung fasziniert, alle verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen nach dem Vorbild der Pandemiezeit außer Kraft zu setzen. Das müsse so, sagt er, denn die Welt steuere "auf eine sich immer weiter verstärkende, weltumspannende Krise zu". Damit ist alles erklärt und alles entschuldigt.

Was früher der Sozialismus, der Kommunismus oder der abstammungsreine Volksstaat war, ist heute die CO2-neutrale Klimagesellschaft. Der kommende Klimakollaps zwinge "uns, das aufzugeben, was als business as usual" gilt, sagt er, ganz im kollektiven Duktus aller Weltenretter. "Wenn wir einfach so weitermachen, bedeutet das weniger Freiheit und mehr Chaos." Und um das zu vermeiden, muss die Freiheit vorbeugend neu definiert werden, denn "eine radikale Neukonzeption von Freiheit ist die erste Voraussetzung für eine Transformation".

Das Konzept Zwangsgefolgschaft

Frei soll nicht mehr sein, wer tun kann, was er will. Frei ist der, dem gesagt wird, was er wollen soll.  Weniger produzieren, weniger konsumieren, weniger privat, noch mehr Staat. In der totalitären Vorstellungswelt des japanischen Wanderpredigers für weniger von allem und für alle steht ein allwissender, alles vorausahnender und planender guter Staat als zentraler Mechanismus parat. Er teilt von oben herab Ressourcen zu, bestimmt über zulässige Bedürfnisse und sorgt für die "Kontingentierung und Konzentration auf die essenziellen Güter" (Saito).

Eine totalitäre Dystopie, die der Wissenschaftler stylisch inszeniert verkündet als handele es sich um ein Erlösungsversprechen. Bei den an Selbstgeißelung interessierten Eliten in Deutschland ist der Verfechter eines totalen Staates, der im Dienst einer dräuenden Klimagefahr alle Freiheiten unter Erlaubnisvorbehalt stellt, ein beliebter Guru.

Geht es nach Saito, darf es auch in der zusammenschrumpfenden, untergehenden Welt der Zukunft weiter privatwirtschaftliche Unternehmen geben. Aber es wird der Staat selbst sein, der lebenswichtige Güter und Dienstleistungen bereitstellt. Für alles andere gibt er Anweisungen: Unternehmen anweisen, mehr Elektrofahrzeuge und Solarmodule zu produzieren. Oder es ihnen verbieten.

Eine faschistische Fantasie

Subjektive Bedürfnisse kennt der Japaner so wenig wie die kommunistischen, sozialistischen und faschistischen Führer sie kannten. Wer vom anstehenden Klimakollaps ausgeht und sich selbst im Besitz des großen Rettungsplanes wähnt, denkt nicht anders als Lenin, Mao, Stalin, Pol Pot oder Hitler. Nach seinem Verständnis ist "die Art von Freiheit, die wir heute im Kapitalismus als selbstverständlich erachten" ohnehin schon verloren. Besser also jetzt, von oben und ohne falsche Rücksicht alles abschaffen, was zwischen den Rettern und der Rettung steht.

So verrückt das alles klingt, so ernst wird es genommen. Kohei Saito wird ganz ernsthaft nach seinen Ideen zur Abschaffung von Demokratie und Marktwirtschaft gefragt. Er wird von der "Tagesschau" als "Star-Philosoph" gefeiert. Sein Buch "Systemsturz", im Original von einem britischen Großverlag vertrieben, haben Hunderttausende gekauft. Alle wohl verzweifelt auf der Suche nach jemandem, der ihnen erklärt, warum sie nur in der Lage sind, von Konsum und Götzendienst am Goldenen Kalb abzulassen, wenn es ihnen ein knallhartes Klimaregime verbietet.

Der Irrwitz der Freiheit

Selten nur ist der Irrwitz der freiheitlichen Gesellschaften des Westen, Saito hat sich die Anregungen für seine übergriffigen Ideen beim Studium in Berlin geholt, deutlicher vorgeführt worden als durch diesen Mann. Der Umstand, dass sich der von der Profitmaschine Marktwirtschaft unterhaltene Wissenschaftsbetrieb einen Extremisten hält, der ernsthaft fordert, acht Milliarden Menschen sollten sich "auf eine Form der Selbstversorgung zubewegen", spricht für eine gewisse Grundverunsicherung. Dass der Mann  mit den faschistischen Fantasien überall Beifall bekommt für die Vorstellung, "Degrowth Communism can save the Earth", zeigt, dass der Amerikaner Chris Korda mit seiner Idee seiner Selbstmordkirche Church of Euthanasia nur zu früh dran war, um die ihm eigentlich zustehende Anerkennung zu bekommen.

Die Aberkennung gleicher Rechte 

Saito ist schicker und geschickter als der Verfechter eines freiwilliges Aussterben der gesamten Weltbevölkerung zum Schutz des Weltklimas. Der Bestsellerautor beteuert, dass seine Aberkennung gleicher Rechte für die meisten Menschen nicht auf Verboten und Verzicht basiert, sondern auf einer Neubewertung von Wohlstand und Glück jenseits ökonomischer Maßstäbe. 

Jedes Dorf, in das ein Prediger mit dieser Botschaft  in den zurückliegenden 10.000 Jahren gekommen wäre, hätte den Botschafter dieses Blödsinns entweder in Decken gewickelt, bis sein Fieber wieder sinkt, oder ihn schlicht aus der Gemeinde geprügelt. Fortschritt ist, wenn Quatsch mit ernsten Mienen betrachtet und im Kern faschistische Vorschläge mit großer Bewunderung bestaunt werden.

Regulieren als Freiheitsersatz

Keiho Saitos kruden Thesen mangelt es an Ernsthaftigkeit, nicht aber an dreister Umdeutung aller Grundwerte. In der Geschichte habe es genügend Beispiele für Epochen gegeben, in denen "Regulieren und Begrenzen als Freiheit galten", hat er der Taz verraten, wie sich Zwang in ein Gefühl von Freiwilligkeit verwandelt. Sein totalitärer Staat werde natürlich planen, einschränken und regulieren müssen. Aber das klinge nur "sehr nach autoritärer Verneinung von Freiheit". Sei aber eine Chance, die "eher philosophische Definition von Freiheit in der Tradition der Aufklärung" zu erkennen. Dann müsse "man eigentlich nicht so viel Angst vor Begrenzung und Regulierung haben".

Historische Tatsachen scheren den Star-Philosophen wenig. "Für die Mehrheit der Menschen bedeutet der Fortbestand des heutigen Kapitalismus den Verlust von Wohnraum und Arbeitsplätzen", schwatzt er daher und er prophezeit: "Es wird weniger von all den guten Dingen geben, die die Menschen genießen." Doch dafür sei nicht das geringer gewordene Wachstums verantwortlich, sondern der  Kapitalismus: Während der Sozialismus mit Planwirtschaft, Unfreiheit und Bevormundung verhindert habe, dass "Wohnraum der Finanzspekulation zugänglich" gemacht wird, schaffe das Wirtschaftssystem, das ihn besiegte, "mehr Unsicherheit, mehr Verluste und mehr Instabilität".

Lob des Kommunismus

Von alldem ist nicht einmal das Gegenteil wahr. Saitos Warnung, dass "Preise für Lebensmittel und Energie steigen" würden und "ebenso die Inflation", zeigt, dass der Philosoph des Anti-Konsumismus nicht einmal die grundlegenden Zusammenhänge des Wirtschaftlebens verstanden hat. Er versuche gerade, herauszufinden, dass "Kapitalismus Knappheit schafft", denn das wäre ein gutes Argument für den Kommunismus, der nachgewiesenermaßen König in der Disziplin der Knappheitsschaffung ist. Noch istb der Beweis nicht erbracht. Aber die Therapie dagegen hat Keiho Saito schon fertig: "Wir dürfen kein weiteres Wachstum mehr dulden."


Elitenwechsel: Die Austauschschüler

Wie hier im Vatikan ist auch auf der Weltbühne gerade ein großes Kommen und Gehen.

Der Papst ist tot, Klaus Schwab hat beim World Economic Forum mit sofortiger Wirkung gekündigt. Noch ein paar Tage nur, dann müssen auch Olaf Scholz und Robert Habeck Platz machen. Und um die Nachfolge des erfolgreichen Bundespräsidenten Walter Steinmeier, über die in zwei Jahren dringlich entschieden werden muss, gibt es heute schon Gerangel.  

Nur zwei

Eine Frau soll es machen, rufen die, die am überkommenden Konzept von den angeblich nur zwei existierenden Geschlechtern festhalten. Als Papst komme am ehesten ein Kirchenfürst aus Afrika infrage. 

Kanzler wird mit Friedrich Merz ein Mann, der frisch aus der Opposition kommt und noch nie eine Verwaltung geleitet hat. Das Wirtschaftsministerium würde ein studierter Soziologe besetzen, er folgt auf einen Germanisten und Philosophen, der so vieles richtig gemacht hat, dass seine Nachfolger beschlossen haben, seine Ideen endlich umzusetzen.

Die Welt steht vor dem Wandel, ein Elitenwechsel steht an. Namen werden noch nicht gehandelt, aber die Marschrichtung ist klar. Beim WEF übernimmt kommissarisch Peter Brabeck-Letmathe, ein früherer Nestlè-Chef, der seinen ökonomischen Sachverstand zuletzt mit einer Investition in eine Kaviarfarm unter Beweis stellte. 

Brabeck-Letmathe ist acht Jahre jünger als der 88-jährige Schwab, doch nicht nur wegen der beim letzten Treffen der konkurrieren Sicherheitskonferenz in München offenbar gewordenen Spaltung des Westens braucht die geheime Weltregierung für den geplanten "Great Reset" frisches Blut.

Keine Sanierung

Nicht anders sieht es im Vatikan aus, den der verschiedene Papst Franziskus renoviert, aber nicht grundlegend saniert hat. Zugeständnissen an den Zeitgeist, wie er sie in seiner Enzyklika "Laudato si" formulierte, als er der Welt mit dem Satz "Es gibt keine Ökologie ohne eine angemessene Anthropologie" den richtigen Weg wies, widersprach Franziskus selbst häufig. 

Der "mutige Erneuerer" (Bayrischer Rundfunk) warnte seine Bischöfe vor "Schwuchtelei" und er nannte Homosexuelle behandlungsbedürftig, um konservative Kreise bei der Stange zu halten. Und nahm alles zurück, um sein progressives Image zu polieren. Die päpstliche Unfehlbarkeit war diesem Amtsinhaber weniger wichtig als eine gute Presse. 

Der Volkspapst

Der "Volkspapst", als der sich Jorge Mario Bergoglio gern feiern ließ, scheiterte bei der Aufklärung der Verbrechen seiner Kirche an Hunderttausenden Kindern, bereute das aber immer wieder gern. Er entschuldigte sich demonstrativ für den Kolonialismus, verschwieg aber wohlweislich die zentrale Rolle, die der institutionalisierte Katholizismus mit seiner Wahnvorstellung von einer unerlässlicher Missionierung zu gottgewollten Rettung ungetaufter Seelen dabei spielte. 

Ausweichen, abwiegeln, ablenken. Auf der großen Klaviatur der Kompromisse spielte Franziskus das hohe C. Kostümiert als großer Mahner für Frieden und Versöhnung forderte er die Ukraine auf, die weiße Fahne zu hissen. Der "Meister der Gesten" zeigte sich als Zweifler und Grübler (Die Zeit), hielt aber trotzig am reaktionären katholischen Geschlechterbild fest, das Frauen vom Priesteramt ausschließt. 

Ein Reaktionär auch in der modernen Geschlechterfrage: Geschlechtsangleichende Operationen seien wie die gesamte "Gender-Theorie" "ernsthafte Verstöße gegen die von Gott gegebene Würde des Menschen" ließ Gottes Stellvertreter auf Erden verkünden. Ein Mensch, der "über sich selbst verfügen" wolle, falle der uralten Versuchung anheim, "sich selbst zu Gott zu machen". 

Wiederauferstehung

Franziskus sammelte Freunde, mehr noch als der berühmte Benedikt, den die junge Generation mit "Benedetto"-Gesängen gefeiert hatte. Politiker aller Farben, getauft und ungetauft, machten ihm die Aufwartung, um sich mit Kalendersprüchen speisen zu lassen. 

Olaf Scholz führte mit dem Argentinier ein "wichtiges Gespräch in schwierigen Zeiten" und US-Vizepräsident J.D. Vance machte ihm nur wenige Stunden vor seinem Tod die Aufwartung. Einzig Annalena Baerbock wagte es überhaupt, das Oberhaupt von 1,4 Milliarden Katholik*innen an seine Verantwortung zu erinnern.  

Dank für seine Positionen

Baerbock war nun aber auch unter den ersten, die dem Verstorbenen "für seine Positionen in sozialen und kirchlichen Debatten" dankte. Wie von Geisterhand war der Tote im Moment seines Ablebens nicht mehr der erzkonservative CEO des ältesten, größten und reichsten Unternehmens der Welt, sondern der unerschrockene Kämpfer für "eine arme Kirche für die Armen". Er werde fehlen, hieß es, er sei überdies unersetzlich.

Einen adäquaten Nachfolger zu finden, wird schwer. Klaus Schwab steht wohl entgegen anderslautender Gerüchte nicht zur Verfügung, obwohl der Vatikan mit Deutschen gute Erfahrungen gemacht hat. 

Annalena Baerbock steht bei der Uno im Wort, Olaf Scholz hätte zwar Zeit und wäre als evangelisch getauft Konfessionsloser eine ökumenische Wahl, die erstmals nicht mehr nur Christen, sondern in Ansätzen auch Atheisten repräsentieren könnte. 

Anstehender Elitenwechsel

Ohnehin trifft der erforderliche Elitenwechsel auch in Deutschland auf eine ausgedünnte Personaldecke.  Viele wollen, aber wer kann? Fehlende Erfahrung in der Regierungsführung galt eben noch als Ausschlusskriterium für höhere Ämter. Selbst wenn der Heilige Stuhl derzeit noch nicht zwingend paritätisch besetzt werden muss, wird es kompliziert werden, überhaupt einen Kandidaten zu finden, der bei Christen und Nichtchristen allgemein Akzeptanz findet. 

Der Neue darf nicht erzkatholisch sein, aber auch kein reiner Popstar. Er muss Brücken bauen, aber auch deutlich Stellung beziehen. Schon wieder einen Südamerikaner zu nehmen, verbietet sich.

 Ein Italiener wie es lange üblich war - geht nicht. Ein Europäer aber darf es nach 35 Jahren unter einem Polen und einem Deutschen auch nicht sein. Asien oder Afrika, das ist die Frage. Zwei Kontinente mit wachsendem Glauben, die jubeln würden, dürfte einer ihrer Kardinäle nach Rom ziehen.

Abstammung und Geschlecht

Wie weit der Weg bis dahin noch ist, das zeigt sich im seit Wochen andauernden Gerangel um die Posten im künftigen Merz-Kabinett. Auch da geht es zuvörderst um Abstammung und Geschlecht, um Parteibuch und Prestige, auch da wird gehandelt und gepokert - neuerdings unter Einbeziehung des erst in zwei Jahren vakant werdende Amt des Bundespräsidenten. 

Als sei Walter Steinmeier schon nicht mehr da, werden die ersten Steine aufs Feld gesetzt: Immer Männer, einmal sogar ein Ostdeutscher. Konsens besteht darüber, dass es nun eine Frau sein muss - als hätte es nicht eben noch hunderte weiterer Geschlechter gegeben, die durchweg alle noch nie berücksichtigt wurden.

Bei den Ministerposten sieht es nicht besser aus. Nach Parteibuch ist alles aufgeteilt, wegen der gerechteren Vergabe nach Wahlergebnis wird sogar eigens ein 18. Ministerium neu gegründet. 

Die Diskussion darüber aber, wie viele Frauen, wie viele Queerpersonen, wie viele Ostdeutsche und wie viel ostdeutsche Frauen einen Sitz am Kabinettstisch abbekommen, ist nach einer kurzen Aufwallung bereits wieder verstummt. Um diese Frage ist es jetzt so still wie um die, welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen welchen Anwärter für welches Amt qualifizieren.