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Die ehemalige PDS startete als Pariapartei mit extremistischen Forderungen. Inzwischen ist sie als eine der Parteien der Mitte anerkannt. |
Vor 31 Jahren war Rita Süssmuth die einzige, die ihre Hände bewegte und klatschte. Hinter dem Rednerpult im Deutschen Bundestag stand Stefan Heym, ein Schriftsteller, der 1945 mit den US-Truppen zurück nach Deutschland und 1952 in die DDR gekommen war. Nach dem Ende des Staates, den er hatte als sozialistische Alternative zum Raubtierkapitalismus bis zum letzten Moment retten wollen, kandidierte der greise Autor für die einzige Partei, der er zutraute, sogenannte "Errungenschaften" aus dem kleineren Deutschland auch für die Brüder und Schwestern im Westen erlebbar zu machen.
Damals zählte noch das Alter
Heym wurde gewählt. Und nach dem ersten Durchzählen der neuen Abgeordneten war klar. Der gebürtige Chemnitzer war der älteste Parlamentarier und folglich der prädestinierte Alterspräsident, der die erste Sitzung des neuen Hauses eröffnen würde.
Deutschlands Demokratie war seinerzeit noch jung. Auf die smarte Idee, die Hausregeln zu ändern, um fragwürdige Reden zum Start einer neuen Legislaturperiode ausschließen zu können, kamen die Parteien der demokratischen Mitte erst viele Jahre später. Heym war schon verstorben, als es 2017 gelang, im Abwehrkampf gegen die rechtspopulistische AfD die seit 68 Jahren geltende Regelung zur Bestimmung des Alterspräsidenten zu ersetzen. Nicht mehr der älteste anwesende Abgeordnete, sondern der dienstälteste Parlamentarier leitet seitdem die konstituierende Sitzung eines neuen Bundestages, bis der von den Parteien im Hinterzimmer vereinbarte neue Bundestagspräsident*in auch förmlich gewählt ist.
Unaufgeregte Eröffnungen
Zweimal ging das sehr gut. Statt des AfD-Greises Alexander Gauland sprang der Liberale Hermann Otto Solms ein. Da Gauland noch einmal kandidierte und noch einmal ein Mandat gewann, war es 2021 an Wolfgang Schäuble, als dienstältestes Mitglied zu verhindern, dass jemand sprach, den niemand hören wollte. Beide Male ging die Eröffnung unaufgeregt über die Bühne.
Solms, dessen Partei damals noch nicht als gelber Arm der Braunen galt, ernannte den Deutschen Bundestag zu "einem der einflussreichsten demokratischen Parlamente der Welt". Er "wählt seine Regierung, nicht die Regierung ihr Parlament", mahnte der Weggefährte des früheren Parteichefs und Außenministers Hans-Dietrich Genscher.
Das passende Parlament
Solms ahnte nicht, dass auch diese Tradition endlich sein würde, so endlich sogar, dass es später nicht einmal mehr eine Regierung brauchen würde, um das passende Parlament für wichtige Entscheidungen auszuwählen. Schäuble dagegen, das Schlossgespenst der Berliner Republik, das die Legislaturperiode nicht überlebte, empfahl in seiner Ansprache, man "müsse das Gemeinwohl im Blick behalten", er forderte "eine offene Debattenkultur mit Vorbildcharakter" und er empfahl, "bei allem politischen Elan das Private zu schützen".
Keine Gefahr für die Demokratie, denn Schäubles Mahnung, man müsse auch mal überlegen, "ob wir, ob unsere Parteien der Vielfalt an Interessen und Meinungen genügend Gehör verschaffen und auch ob die Erwartung der Bevölkerung, an Gestaltungsprozessen selbst teilhaben zu können, ausreichend erfüllt wird", verstanden nur Übelmeinende als Aufruf zum Sturm auf die Brandmauer. Gemeint hatte Helmut Kohl früherer Kofferträger nur "ein selbstbewusstes Parlament", das weiß, dass es sich auch mal mit Bürgerräten und Mitsprache beschäftigen muss, um den Eindruck zu vermitteln, auf alle zu hören.
Steinerne Mienen
Heym war der letzte Alterspräsident, der das Parlament spaltete. Hier der ehemalige GI, dort die Fraktionen. Nur seine Linkspartei, damals noch als PDS unterwegs, rührte die Hände, abgesehen von Rita Süssmuth, die sich wohl auch aus persönlichen Gründen nicht an die Anweisung Helmut Kohls hielt, das ganze mutmaßlich sozialistische Spektakel mit "steinernen Mienen" über sich ergehen zu lassen.
Die übrigen "selbstbewussten Parlamentarier", die Schäuble später forderte, führten sich auf eine "Veranstaltung von 672 Demonstranten" (Spiegel). Die Sozialdemokraten übten sich in Distanz. Die FDP demonstrierte Gleichgültigkeit, die Grünen freuten sich, wieder dabei sein zu dürfen. Und die CDU zeigte sich absichtlich desinteressiert, obwohl der neue Abgeordnete Heym dann doch darauf verzichtete, den "kleinen Knilchen aus dem kapitalistischen Lager unbequeme Wahrheiten" ins Gesicht zu schleudern.
Aufgenommen in die Gemeinde
Ein ideologischer Kampf, den Gregor Gysi nicht wird ausfechten müssen, wenn er morgen als zweiter linker Alterspräsident vor das Hohe Haus tritt. Seit die AfD auf der politischen Bühne aufgetaucht ist, hat die Linkspartei ihren Ruf als Organisation eingeschworener Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verloren. Die Linke, von Friedrich Merz persönlich vom Totenbett gehoben, gehört mittlerweile fast fest zu jener "bisher noch nie dagewesenen Koalition der Vernunft", die zu bilden Stefan Heym 1994 angeregt hatte.
Der Mann, der die von großen Teilen der Partei angestrebte Selbstauflösung der SED in einer dramatischen Dezembernacht des Jahres 1989 gemeinsam mit dem Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, dem Dresdener SED-Bezirkschef Hans Modrow und dem früheren Stasi-Generalmajor Markus Wolf mit knapper Not verhindern kann, muss keine Proteste gegen seinen Auftritt mehr fürchten. Die SED-PDS-Linke ist endlich akzeptiert und etabliert. Die Konkurrenz erwartet von ihm weise Worte von großer Tragweite. Es wird zweifellos auch applaudiert werden.
Vergessene Vermögen
Längst vergessen sind die Bemühungen des heute 77-Jährigen, das in 40 Jahren DDR zusammengeraffte Milliardenvermögen der SED beiseite zu schaffen. Das gelang nur zum Teil. Und Gysi, damals Parteivorsitzender, gelang es, nichts mit dem Putnik-Deal und den millionenschweren Überweisungen des der DDR-Bevölkerung abgepressten Geldes auf norwegische und niederländische Konten zu tun gehabt zu haben. Die Verpuppungen und Häutungen der DDR-Staatspartei, begonnen mit ihrer von Gysi selbst erfundenen Umbenennung in "Partei des Demokratischen Sozialismus", haben ihr Ziel erreicht.
Auch, weil viele ehemals als extrem und schädlich abgelehnte Forderungen der Linkspartei heute Konsens sind: Den Mindestlohn haben die Genossen erfunden. Die "soziale Gerechtigkeit" ungewisser Natur war ihr erster unique selling point. Den Hass auf Reiche zu schüren, auf dem Rücken des Drachens Neid zu fliegen und gegen "Überreichtum" mit Enteignungen und immer höheren Steuern vorgehen zu wollen, würden heute auch SPD, Grüne und große Teile der Union unterschreiben.
Allen Reichtum besteuern
Es muss "Reichtum für alle" geben, insoweit können sich alle Lager ideologiefrei auf eine alte Gysi-Parole einigen, damit man "Reichtum besteuern" kann, wie der Berliner Rechtsanwalt später einmal gefordert hat. Gregor Gysi ist damit der passende Mann zum passenden Parlament. Seine Partei, eben noch halbtot und allein von der Hoffnung im Spiel gehalten, drei ostalgische Silberlocken könnten ihr das Überwintern im Bundestag noch einmal sichern, darf sich freuen: So freundlich ist mit den roten Socken seit 35 Jahren nicht umgegangen worden.
Gysi erlebt mit 77 Jahren seinen Mauerfall. Seit der lustigste Kommunist seit Walter Ubrichts Klimmzugübungen die Sozialistische Einheitspartei trotz der Neugründung der Ost-SPD und dem Austritt von mehr als 97 Prozent ihrer Mitglieder vor dem Untergang bewahrt hatte, gilt der gebürtige Berliner aus alten Funktionärsadel als das sympathischste Gesicht der Diktatur. Gysi ist über alle Parteigrenzen hinweg als amüsanter Plauderer bekannt. Mit ihm als Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzendem gäbe es die DDR wahrscheinlich heute noch, glauben viele - und angesichts der Krisen, die den Westteil des Vaterlands immer schwerer und in immer kürzeren Abständen schütteln, wäre das Land mit der eisernen Mietbremse, den Fünf-Pfennig-Brötchen und dem Übermaß an sozialer Gerechtigkeit durch allgemeine Armut für viele eine echte Alternative.
Immer rechtzeitig zurückgetreten
Gregor Gysi, der schon mehr als einmal von Ämtern zurückgetreten ist, die ihm zu anstrengend erschienen, hat es geschafft, ein Bild von sich zu vermitteln, das ihn als kritischen Geist zeigt, der in jede Richtung skeptisch blickt. Seit 35 Jahren macht er professionell Politik, unterbrochen von Lesereisen zu jeweils neuen Büchern mit alten Weisheiten aus einem langen Leben. Und jetzt kommt er als Alterspräsident des Bundestages für einen Augenblick so nahe an all die Ämter, die er als Mitglied jeder anderen Partei längst schon lange gehabt hätte.
Gysi im Glück. Wäre er damals zur SPD gewechselt, hätte er Bundeskanzler werden können, ja, er wäre es vermutlich geworden. So aber, Gysi kommt das sicherlich sehr entgegen, ist die Nähe zur Macht nur ein Moment, den der am längsten gediente Bundestagsabgeordnete zu einer Warnung nutzt. Junge Abgeordnete müssten sich "vor dem Verlust von Bürgernähe" fürchten. Wer ganz jung ins Parlament einziehe, sollte aus seiner Sicht nach acht Jahren wieder rausgehen und etwas ganz anderes machen. "Auf dem Friedhof oder in der Pflege arbeiten zum Beispiel oder in der sogenannten Dritten Welt", sagt Gysi im Rückblick auf sein Leben, das ihn mit 42 in die Politik führte und bis heute nicht mehr hinaus.
Warnung an die Enkel
Tragisch. Er habe auch dem 32 Jahre alten Philipp Amthor von der CDU geraten, das Parlament wieder zu verlassen, sagte Gysi, ohne zu fordern, die Amtszeit von Abgeordneten generell auf vier oder acht oder zwölf Jahre zu begrenzen. . „Selbstverständlich hört er nicht auf mich“, sagte der Linken-Politiker. An sich selbst hat der frühere SED-Vorsitzende bemerkt, dass man "irgendwann glaube, dass die Drucksachen des Bundestags das Leben widerspiegeln". Man verliere die Beziehung zu den Bürgerinnen und Bürgern, weil man sich regelmäßig in kleineren politischen Kreisen aufhalten. "Sie denken aber, sie drücken die Meinung des Volkes aus. Der Höhepunkt ist, am Ende sehen sie selbst aus wie eine Drucksache“, warnt Gysi seine Branche im Versuch, den "kleinen Knilchen aus dem kapitalistischen Lager" nun doch noch Heyms "unbequeme Wahrheiten"zu vermitteln.
5 Kommentare:
Eins meiner Lieblingszitate zu Gysi stammt vom zu früh abberufenen Zettel: Gysi hat nicht für die Stasi gearbeitet, die Stasi hat für Gysi gearbeitet,
Gröl! Kreisch! Den kannte ich noch gar nicht.
Der hieß einkich Helmut Flieg (so, wie Alberto Moravia einkich Aron Pinkerle hieß), und hat 2001 von Hieroschalyma aus die Reise in den Scheol angetreten.
Den (((Teufel))) spürt das Völkchen nie, und wenn er sie beim Kragen hätte.
Wenn man nur genug Geistertanz macht, kehren die Büffel und die Arbeitsplätze zurück.
re Nr.1 : so ist es . nur habe das die stasis nie begriffen . siehe auch schlackkolagofski und die ca. 800 mio DM Valuta in CH via wien . Immerhin dürfte die viele Kohle inzwischen für deutsche Bluechips arbeiten . die Ostzone war ein Arbeitslager - leider begreifen das die brd Intellektuellen nicht
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