Samstag, 8. März 2025

Zitate zur Zeit: Nicht wollen sollen

Nichts zu wollen, das war Gottes Wille. 

Der Staatsstreich: Schulden bis zum Mond

Es gab schon viele Angriffe auf den Verfassungsstaat, etwa durch eien Gruppe rechter Rentner. Die Grundgesetzänderung durch ein abgewähltes Parlament aber dürfte langfristig am wirksamsten sein.

Es ist vorbei, es ist erledigt, der Traum ist ausgeträumt. In einem Handstreich, so planen es Union und Sozialdemokraten, soll der abgewählte alte Bundestag an seinem letzten Sitzungstag die Geldschleusen öffnen, um Deutschland kriegsfest und die neue Bundesregierung dauerhaft handlungsfähig zu machen. Panik war in den letzten Tagen in allen Blicken. Panik wie zuletzt vor fünf Jahren, als ein neuartiges Lungenvirus aus China kam. Was jetzt tun, um so zu tun, als könne man etwas tun?

Der erste Weg deutscher Politiker führt in solchen Momenten immer zum Geldautomaten. Der wirft die Rettung aus, dieser irrationale Grundglaube beherrscht alle, die meinen, führen zu können. Fehlt es Ideen, an Konzepten, an einer Vorstellung dazu, warum eigentlich alles schiefgeht, hilft frisches immer. Diesmal wird eine Billion Euro gezogen, die Geheimnummer soll der alte Bundestag noch schnell herausgeben, ehe die leidige Demokratie mit der unglücklichen letzten Wahlentscheidung des Souveräns alles verdirbt.

Eine runde Billion

Ein Billion Euro neue Schulden entsprechen etwa 40 Prozent der Kreditlast, die Deutschland bisher in 76 Jahren aufgenommen hat. Den derzeit bekannten Plöänen nach wird die unfassbare Summe in zwei neuen Schattenhaushalten versteckt, um sie vor dem verfassungsmäßig vorgesehenen Verbot struktureller, also von der Konjunktur unabhängiger, staatlicher Verschuldung von mehr als 0,35 Prozent des nominellen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu verbergen. Dieser Angriff auf die verfassungsmäßigen Grundlagen, die als Reaktion auf wachsende Sorgen über die Tragfähigkeit der deutschen Staatsfinanzen beschlossen worden waren, ist nicht der erste, aber der umfassendste und bedrohlichste. 

Zwar ist es den deutschen Bundesregierungen auch mit der Schuldenbremse nur ein einziges Mal in den vergangenen 15 Jahren gelungen, die eigenen Vorgaben einzuhalten. Doch zumindest wurde über dieses komplexe Versagen schamhaft geschwiegen und jeder einzelne Verstoß mit einer ganz besonderen, einmaligen und außerordentlichen Notlage begründet. Man müsse jetzt gerade. Die Zeiten seien so. Der schlimmste überhaupt seit. Angela Merkel entwickelte diese Art Ausrede zur Kunstform.

Donald Trump als Grund

Auch diesmal ist das natürlich so. Als Begründung dient ein Gespräch zwischen Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj, in dem der letztere sich geweigert hatte, die amerikanischen Bemühungen um einen schnellen Friedensschluss mit Russland zu unterstützen - whatever it takes. US-Präsident Donald Trump hatte daraufhin die US-Hilfe für die Ukraine für beendet erklärt. Selenskyj könne gern wiederkommen, wenn er bereit sei, statt Forderungen nach Sicherheitsgarantien die Bereitschaft mitzubringen, den Realitäten ins Auge zu schauen: "Ihr habt keine guten Karten", hatte ihm Trump klarzumachen versucht.

In Europa aber fand der Brüskierte Trost. Europas Spitzenpolitik überbot sich gegenseitig mit Unterstützungs- und Aufrüstungsschwüren. Bis zum letzten Ukrainer werde man kämpfen, sich den USA niemals beugen, sondern sie vielmehr zwingen, die einem schnellen Frieden kritisch gegenüberstehenden Europäer mit an den Verhandlungstisch zu bitten. Ein eigener Plan wurde vorgelegt. Er bestand aus dem Vorschlag, irgendwer solle irgendwie einen Waffenstillstand organisieren, der, soviel stand fest, einen Monat zu dauern habe. 

Dementiere Idee aus Europa

Kaum war die peinliche Idee nach Washington übermittelt, wurde sie auch schon dementiert. Alles ist im Fließen, alles ist im Gehen, nur einer kommt und das mit Wumms: Deutschlands neuer Kanzler Friedrich Merz sprach mitten in den Abfall Amerikas seinen "whatver it takes"-Satz: Was auch immer es kosten mag, wie schwer es auch gegen den gesunden Menschenverstand, gegen jede Berechnung von Militärstrategen und gegen jedes Wahlversprechen von vorletzter Woche verstößt. Deutschland wird die Gelegenheit nutzen, wieder Rüstungs- und Militärmacht zu werden wie in den großen Jahren, als die Welt vor deutschen Waffen und deutschen Soldaten zitterte. 

Die SPD, bei der Wahl vernichtend geschlagen, stimmte schnell zu, eingekauft mit einem eigenen Schattenschuldenposten von einer halben Billion, auszugeben für Brücken, Straßen, Schulen und was sonst noch so gut ankommt beim Volk. Um die Grünen zu überreden, die Linken oder die Reste der FDP, wird sich auch noch etwas finden. Und für den Bundesrat sind schon 100 Milliarden beiseitegelegt. Die werden die Länder auf eigene Faust verbraten dürfen.

 Der Aufstand der Abgewählten

Alle, die da beschließen, sind erstens abgewählt und zweitens in einem Alter, in dem ihr Leben vorbei sein wird, wenn die neue Schulden richtig zu drücken beginnen. Es ist, wenn auch gewaltfrei, nichts weniger als ein Staatsstreich. Die offiziell ausgewiesene Staatsverschuldung in Höhe von 2,6 Billionen Euro steigt in einer explosionsartigen Bewegung auf 3,6 Billionen. Dazu kommt eine in 29 verschiedenen alten Sondervermögen versteckte weitere Billion - eine Summe, die bei normalen Wirtschaften irgendwann um das Jahr 2055 erreicht worden wäre. Damit ist Deutschland, ein Land, dem immer vorgeworfen wird, es komme zu spät, richtig viel früher dran.

Als der Bundestag an jenem historischen 29. Mai 2009 nach jahrelangen Verhandlungen mehrheitlich die Hände hob, um dem Grundgesetz eine Schuldenbremse einzuschreiben, glaubten die Parlamentarier von damals, sie könnten ihre Nachfolger auf diese Art davon abhalten, immer wieder und immer tiefer in die Kasse zu greifen. Eine Hoffnung, die sich sichtlich nicht erfüllt hat, denn jedes neue Parlament hat selbstverständlich das Recht, sich die Dinge so zusammenzubiegen, dass es selbst am besten klarkommt. 

Eine kleine Klüngelrunde reicht 

Die kleine Vorkoalitionsklüngelrunde von SPD und CDU/CSU hat nun festgestellt, dass es für künftige Regierungsbemühungen recht günstig wäre, wenn die seinerzeit von SPD und Union beschlossenen Grenzen knallhart weitergelten. Aber, so handhabt die Europäische Union den Umgang mit der völkerrechtlich bindenden Verschuldungsgrenze für die Mitgliedsstaaten seit Jahren mit großem Erfolg, Verstöße dagegen keinerlei Konsequenzen haben. 

Manuela Schwesig, ausgebildete Finanzbeamtin, Gründerin der berühmten Nord-Stream-Stiftung und Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, hat die neue Rechtslage etwa so beschrieben: Im Haushalt seien bisher 1,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung veranschlagt worden, das sei erlaubt. Wenn der Verteidigungshaushalt aber nun auf zwei Prozent und vielleicht weit darüber hinaus steige, dann würden künftig einfach alle Schulden, "also alles, was über ein Prozent ist" nicht mehr als Schulden gerechnet. Das Konzept ist aus der Behandlung von Alkoholkranken bekannt: Es wird dabei kontrolliert so viel getrunken, dass es dem Patienten so schlecht wird, dass er zumindest kurzzeitig einfach nicht mehr weitertrinken kann. 

Die Magie der großen Zahl

Der "Deutschlandplan", wie ihn Schwesig nach einer Idee ihrer Partei aus dem Jahr 1959 nennt, ist eine Mischung aus klassischem Rettungspaket der Marke Merkel, Beschwörung der Magie der großen Zahl und Versuch, grundgesetzliche Regelungen mit einem Augenzwinkern auszumanövrieren. Die Dringlichkeit der Wiederbewaffnung Deutschlands dient als Vorwand für den Versuch, mit noch mehr staatlichen Ausgaben wenigstens wieder ein bisschen Wirtschaftswachstum zu erzeugen - von Schwesig als "Stärkung der Wirtschaft" bezeichnet.

Das Rezept, nach dem gekocht werden soll, wenn der scheidende Bundestag erst seine letzte vaterländische Pflicht erfüllt und die Kriegskredite durchgewunken hat, ist bekannt. Die Ankündigung von "Investitionen in die Infrastruktur, vor allem in Straßen, Brücken, Krankenhäuser, Kitas und Schulen" kamen bereits 2019 prima an, 2020 war der "erhebliche Investitionsbedarf dann "Konsens", 2021 wurden sie greifbare Realität und 2023 sollte alles sogar noch schneller gehen mit den "leistungsstarken Straßen, Brücken, Schienen und Mobilfunknetzen", für deren Aufbau der Deutsche Gewerkschaftsbund schließlich 2024 600 Milliarden Euro veranschlagte. 

Neue monetäre Dimensionen

Eine Summe, die bei der SPD niemand kleinlich nachrechnete.  In solchen monetären Dimensionen kommt es auf die Million nicht an, jeder Cent ist ein Zeichen, dass etwas getan wird, unabhängig davon, ob jemand genau weiß, was genau getan werden müsste. Kleinlich, wer wie die Grünen jammert, sie hätten schon immer gesagt, "Klotzen statt Kleckern", wie es Hitlers Panzergeneral Heinz Guderian einst so vortrefflich ausgedrückt hatte.  

Niemand kennt jetzt mehr Partialinteressen, die Summen, die im Schwange sind, werden für alles reichen. Schwesig etwa würde gern auch in die Strompreise investieren, denn "die sind für alle teuer und steigen immer mehr, obwohl wir grünen Strom längst sehr preiswert produzieren". Wenn den Netzausbau, damit der viele Strom nicht ungenutzt versickert, nicht mehr auf alle umlege, sondern als Schuldenlast in die Zukunft verschiebe, werde alles für alle billiger. "Und gerade die Energiekosten sind ein ganz wichtiger Baustein für die wirtschaftliche Entwicklung." 

Das bisschen Verfassung

Das bisschen Verfassung, das dazu geändert werden muss, schaffen sie locker noch im alten Bundestag. Nörgelei an der hastigen Terminierung der Abstimmung auf den 13. und 18. März und der Hinweis auf das Desaster, dass die Ampel mit ihrem ähnlich eiligen Versuch erlitten hatte, das Heizungsgesetz flott durchzudrücken, ist die Vorstufe zu Staatsfeindlichkeit.

Nur weil das Bundesverfassungsgericht seinerzeit per einstweiliger Anordnung eine Abstimmung untersagt hatte, um sicherzustellen, dass "allen Abgeordneten die wesentlichen Textpassagen des für die zweite Lesung maßgeblichen Gesetzentwurfs mindestens 14 Tage vorher zugegangen sind" , heißt es nicht, dass die diesmal nicht schneller lesen können: Es geht um "ein großes Finanzpaket" (Klingbeil)! Das über Wohl und Wehe der westlichen Welt entscheiden wird, abzüglich der Vereinigten Staaten.

Mit wem denn, wenn nicht jetzt

Eine Zweidrittelmehrheit ist nötig, um wenigstens erstmal vorübergehend raus aus den Kartoffeln zu kommen, die die Zweidrittelmehrheit von SPD, CDU und CSU 2009 im Bundestag angesetzt hatte. Auf den vom Wähler und der Wählerin so unklug zusammengestellten neuen Bundestag darf Friedrich Merz nicht hoffen: Mit der AfD zusammen geht es ja nicht,das hat er geschworen. Die Linkspartei aber, der die Union mit einem Unvereinbarkeitsschwur ebenso eng verbunden ist, wird sich schwer tun, gegen die alten Genossen im Kreml aufzurüsten.

Nach der Entscheidung der schwarz-roten Klüngelrunde ist also vor der Entscheidung darüber, ob das ganze gewagte Manöver klappt. Olaf Scholz aber hatte die funkelnagelneuen Billionen trotzdem schon in der Aktentasche, als er beim Krisengipfel in Brüssel erneut vor einem "Diktatfrieden" mit Russland warnte, wie ihn Zar Alexander I. 1807 über die Köpfe Deutschlands hinweg mit Frankreich geschlossen hatte. Scholz lobte die Bereitschaft Volodomyr Selenskyjs, mit Europa, Russland und den USA über einen Waffenstillstand zu sprechen. 

Dass weder die USA noch die Russen sich von Europa oder der Ukraine in ihre Gespräche hereinreden lassen werden, ist ein Detail, mit dem Nachfolger Merz wird arbeiten müssen.

Freitag, 7. März 2025

Stabile Renten: Ein bisschen Schwund ist immer

Wie versprochen: Stabile Renten hat Olaf Scholz auch geliefert.

Es war eines der zentralen Versprechen, mit denen Olaf Scholz seinerzeit hoffnungsfroh in das "eigentliche Projekt" startete, wie es sein erfolgsverwöhnter Gesundheitsminister Karl Lauterbach wenig später stolz nannte. "Stabile Renten" hatte Scholz den 21 Millionen Seniorinnen und Senioren versprochen.  

Scholz packte das an. Im ersten Jahr unter seiner Verantwortung kletterten die Renten in Ost und West um 6,1 und 5,35 Prozent. Das war beinahe genug, um die Inflation von 7,9 Prozent auszugleichen. Und gemeinsam mit seinem Arbeitsminister Hubertus Heil, einem Schwergewicht der Sozialpolitik, blieb Scholz auf Kurs. 2023 gab es im Westen schon fast 4,4 Prozent mehr, im Osten immerhin 5,85. Da die Inflationsrate auf 5,9 Prozent gefallen war, entsprach das beinahe wieder einer stabilen Auszahlung, gemessen in Kaufkraft. 

Die deutsche Renteneinheit

Der Schluck, der 2024 ausgegeben wurde, war dann auch etwas kleiner, wenn auch erstmals endlich einheitlich in Ost und West: 4,4 Prozent mehr für alle. Die Inflation war nun auf offizielle 2,2 Prozent gefallen. Jeder konnte sich wieder mehr leisten. Seit 2021 hat der Euro in Deutschland etwa 18 Prozent an Kaufkraft verloren, die Renten aber stiegen um fast 16 Prozent. Genau das meint Stabilität, wie sie der von so vielen unterschätzte Bundeskanzler immer meinte. 

Allen etwas nehmen, aber nicht zu viel, dieser Weg hat sich im zurückliegenden Vierteljahrhundert als goldrichtig erwiesen. Zwischen 2000 und 2024 stiegen die Verbraucherpreise um fast 60 Prozent. Die Brutto-Standardrente humpelte im gleichen Zeitraum zumindest für West-Rentner und -Rentnerinnen mit einem Anstieg von etwa 54 Prozent hinterher. Oder wie es Gundula Roßbach, die Präsidentin Deutsche Rentenversicherung Bund knapp zusammenfasst: "In der Vergangenheit sind die Renten zudem im Durchschnitt stärker gestiegen als die Verbraucherpreise". 

Ein besseres Leben

So ein besseres Leben in einer besseren Welt gibt es freilich nicht umsonst. Es braucht Vorbereitung, es braucht die großen Linien, die einer zieht und zwischen denen die anderen sich bewegen. Olaf Scholz, der den Unmut vieler einfacher Bürger zu spüren bekam, als die Preise sich vom Boden lösten und die Politik scheinbar ratlos danebenstand, hat die Erhöhung der Bezüge für die vielen alten, ehemals fleißigen Menschen in einer Regierungserklärung unumwunden als "einen richtigen Schritt" und "ein Zeichen der Sicherheit" bezeichnet. 

Zwar ist es ein gesetzlich festgeschriebener Automatismus, der über die Rentenhöhe bestimmt, aber Scholz war trotzdem stolz auf seine Leistung und sein Ohr, das immer noch so nahe am Volk ist. Er schätze, dass bei einer Volksabstimmung 80 bis 90 Prozent der Deutschen für eine Rentenerhöhung stimmen würden, wagte der selbst kurz vor dem Ruhestand stehende Niedersachse sich mit einer Vermutung weit vor.

Automatisierte Bescheidenheit

Es ist fast anzunehmen, dass er auch damit richtig liegen würde. Der Deutsche Bundestag etwa, der sich vor Jahren zur Vermeidung unnötig aufgeheizter Diskussionen um die Vergütung der Anstrengungen der Abgeordneten einen Mechanismus hatte einfallen lassen, nach dem die Diäten automatisch im selben Maße steigen wie der Nominallohnindex. Rein theoretisch könnten die Diäten sinken, dazu müssten allerdings die Löhne in Deutschland rein numerisch fallen. Das tun sie jedoch nie, weil für das Sinken die Geldwertverluste zuständig sind, die in der Politik gern als eine Art Naturgewalt namens "Inflation" beschrieben werden.

Der Wechsel vom öffentlich zelebrierten Selbstbedienungsmodell am Steuerzahlerbüfett zur vermeintlich bescheidenen Automatenausgabe höherer Diäten war für die Bundestagsabgeordneten ein Geschenk. Die leidige Debatte um die Angestellten der Wählerinnen und Wähler, die sich einmal im Jahr selbst die Gehälter erhöhen, ist verstummt. Und zugleich hat der kluge Schachzug dazu geführt, dass ein Anstieg der Diäten um rund 76 Prozent in nur zehn Jahren möglich wurde: 2013 musste ein Bundestagsabgeordneter noch mit schmalen 8.252 Euro im Monat auskommen. Derzeit bekommt er im Monat bereits Höhe 14.558 Euro.

Der Index will es

Und die nächste Erhöhung um sechs Prozent, der Nominallohnindex will es nun mal so, dagegen kann niemand etwas machen, steht unmittelbar bevor. Sie folgt auf eine von sechs Prozent im vergangenen Jahr, der Erhöhungen von 3,1 und 2,6 Prozent in den Jahren 2022 und 2023 vorausgingen. Summiert freuen sich die Abgeordneten heute über 17,3 Prozent Entgeltsteigerung in vier Jahren. Der Langzeitvergleich zeigt echte Wohlstandsgewinne: Die Renten kletterten um 54 Prozent, die Preise um 60, die Diäten um stolze 76.

Rentnerinnen und Rentner kamen mit ihren fast 16 Prozent nicht ganz so gut weg, aber auch beim ZDF zeigt sich eine solidarische neue Bescheidenheit: Statt der 3,74 Prozent mehr Rente, einer Erhöhung, die erstmals seit fünf Jahren über der offiziellen Inflationsrate liegt, gibt es beim ehemaligen "Zweiten" Lohn- und Gehaltserhöhungen von knapp fünf Prozent. 

Die als „lineare Anhebung der Grundvergütung um 4,71 Prozent“ bezeichnete Gehaltserhöhung bekommen auch "außer- wie übertariflich Beschäftigte des Senders", als die Mitglieder der Geschäftsleitung, der Intendant, die vier Direktoren und der Justitiar. Wenn nun Regierungsjahre ins Haus stehen, in denen andere Prioritäten gesetzt und viele Entscheidungen der Bundesregierung noch viel besser erklärt werden müssen, wird beim ZDF mit Sicherheit weiterhin gute Arbeit im Dienst der guten Sache geleistet werden.

Festung Europa: In Mauern aus Illusionen

Festung Europa: In Mauern aus Illusionen
Ein Hufeisen aus Sehnsucht: Früher träumten die Identitären von einer "Festung Europa", heute sieht der "Spiegel" es aus Aufgabe an, Europa zur Festung auszubauen.


Was war das für eine grausame Vorstellung. Hohe Zäune, womöglich bewaffnete Wachen. Streifen Tag und Nacht. Mauern, Gräben wie rund um den Deutschen Bundestag. Rechtsextreme und Rechtsextremisten träumten diesen totalitären Fiebertraum von der "Festung Europa", einer fürchterlichen Vision, in der Praxis schon allein daran scheitern musste, dass die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel offen und frei gestanden hatte: Deutschland habe Grenzen mit 3.000 Kilometern Länge. Die ließen sich in der Praxis einfach nicht schützen.  

Der Traum von der sicheren Grenze

Identitäre, Sachsen und Ausländerfeinde aller Colour ließen dennoch nicht ab von Verlangen nach Abschottung und Grenzbefestigungen. Geduldig hielten Wissenschaft, Politik und Medien dagegen. "Je härter die Grenzen, desto begrenzter die Demokratie", argumentierten sie. Als sich Rechtspopulisten aus Deutschland und Österreich in Potsdam zu einer neuen Wannsee-Konferenz trafen, um das künftige Zusammenleben in jener mythischen "Festung Europa" zu verhandeln, blieb das Geheimnis nicht lange geheim: Die „Festung Europa“, während des Zweiten Weltkriegs Synonym für Hitlers Atlantikwall, der das Dritte Reich vor Angriffen der Alliierten schützen sollte, stand für Entmenschlichung, Brutalität und einen Rückfall in die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte.

Plötzlich aber hat sich das Image des verpönten Begriffes für ein verpöntes Vorhaben gewandelt.  Die "Festung Europa" ist kein rechtsextremes Schreckgespenst mehr, dessen sacht angetäuschte Verwirklichung durch europäische Bürokratieregeln mit härtestem Widerstand zu bekämpfen waren. Sondern eine politische Wunschvorstellung, die umzusetzen alle Anstrengungen erlaubt sind.

Der Kontinent als Festung

Denn so ist die Lage, hat ein Reporterteam des "Spiegel" ermittelt: "Europa erlebt historische Zeiten: Es gilt, die Ukraine zu retten und den Kontinent zur Festung auszubauen". Es das große Vorhaben, vergleichbar nur mit dem Bau der Brandmauer im Bundestag und den Länderparlamenten, sei "ein Wettrennen gegen die Zeit", von dem noch offen sei, ob "die Europäer es gewinnen" könnten.

Von wegen"
Vieles an dieser Beschreibung ist unklar. So wird nicht erwähnt, ob die Russen und die ehemaligen Weißrussen, mittlerweile in Belorussen umgetauft, mitbauen an der Festung, weil es sich ja bei ihnen auch um Europäer handelt. Noch viel weniger weiß man nicht, ob der titelgebende "Mut der Verzweifelten" ausreichen wird, die Seegrenzen zu sichern, über die jeder halbwegs verschlagene Usurpator in den vergangenen zehn Jahren ungestört ganze Schläferheere an den Küsten der EU hätte anlanden können. 

Die Vereinigten Staaten von E

Sicher ist nur: Es drängt die Zeit und "im Angesicht der Raubtiere Putin und Trump erscheint manchem Europa als "ein großartiger Kontinent", der wieder einmal schnellstens zu den "Vereinigten Staaten von Europa" umgebaut werden muss, deren Gründung der heute als Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung abgeparkte frühere SPD-Vorsitzende Martin Schulz eigentlich bereits auf den 1. Januar diesen Jahres terminiert hatte. 

Jetzt soll es, nach Demonstranten, die die Spiegel-Reportergruppe in 20 Städten Italiens aufspüren konnten, "sofort" geschehen. Wenn die USA nicht mehr "die Führungsmacht des Westens sein" wollen, sondern US-Präsident "jetzt lieber mit Wladimir Putin" spricht wie damals Nixon mit Breschnew und später Reagan mit Gorbatschow, obwohl der Russe einen völkerrechtswidrigen Krieg in Afghanistan führte , dann müssen die Verbündeten, die im "Spiegel" "die Verbündeten von einst" genannt werden, Konsequenzen ziehen.

Zur Not auch nuklear

Europa muss sich selbst verteidigen, zur Not auch nuklear. Um ein Zeichen zu setzen, hatte Deutschland die jüngsten UN-Verhandlungen zur Überprüfung des Atomwaffenverbotsvertrags demonstrativ geschwänzt. Litauen hatte den internationalen Vertrag über das Verbot von Streumunition verlassen. Die Briten, mit denen sich die EU seit fünf Jahren nicht auf von beiden Seiten akzeptierte Nachbarschaftsregeln einigen kann, haben sich in die besten Freunde verwandelt, die die EU noch hat. Frankreich lässt erkennen, dass es bereit wäre, seine "Force de dissuasion nucléaire française" nach Osten zu verschieben, vielleicht dorthin, wo die Bundesregierung heute noch US-Kernwaffen vermutet. Aber Deutschland ist souverän, seine Regierung kann sich entschließen, es bei einer Vermutung zu belassen.

Ob Deutschland, seit Italiens Kehrtwende das Kernland des Ausstiegs aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie, eigene Atombomben braucht, ob es sie selbst herstellen wird, wo dann angereichert werden soll und auf welche Raketen die Sprengköpfe geschraubt werden, ist noch nicht entscheiden. Die französische Lösung hätte den Charme, dass es schnell gehen könnte, und um Geschwindigkeit geht es. Ständig trifft Trump derzeit Entscheidungen, die Europa zu Reaktionen nötigen, die schon wieder halb hinfällig sind, ehe sie mit allen Partnern besprochen wurden.

Die Dystopie als Zukunftsversprechen

Die Festung Europa wird in dieser Situation von der rechtsextremen Dystopie zur leuchtenden Zukunftsvision aller aufrechten Demokraten. Zieht Trump alle in Europa stationierten US-Truppen ab, werden genug Kasernen und Truppenübungsplätze frei, um die Lücken mit Landeskindern zu füllen, die das dann wieder "starke abwehrbereite Europa" mit seiner "liberalen, weltoffenen Demokratie ohne die amerikanische Schutzmacht verteidigen" (Spiegel). Vor ein paar Monaten hätte man diese Vorstellung noch als Spinnerei irgendwelcher Freier Sachsen oder der Reuß-Rentnerarmee abgetan. Inzwischen aber steht das Szenario als "Plan" im ehemaligen Nachrichtenmagazin aus Hamburg. Er sein ein "verzweifelter", aber in Europa sei eben auch "der Ernstfall eingetreten". 

Die Europäer bräuchten "dringend Antworten auf die Parallel-Attacken aus Moskau und Washington", ein Miesmacher, Verhöhner und Schwachkopf, wer hier eine Gleichsetzung der russischen Diktatur und der - nach San Marino - ältesten Demokratie der Welt sieht. Alle, die schon immer skeptisch auf Amerika geschaut haben, das so viel innovativer ist, wagemutiger und erfolgreicher, wollen jetzt mitmachen beim am großen Werk, den "eigenen Kontinent zur Festung umzubauen". Ami, go home! "Die Pax Americana ist vorbei", triumphiert der französische.Außenminister Jean-Noël Barrot, dessen Land immer großen Wert auf eine Sonderolle in der Nato gelegt hat

Gute Voraussetzungen

Bei aller Solidarität unter Europäern, die soll bleiben. Über den Schutzschirm, den Frankreich mit den anderen Staaten in höchster Not teilen will, werde auch in Zukunft nur einer bestimmen. "Was auch immer geschieht, die Entscheidung lag und liegt immer in den Händen des Präsidenten der Republik, des Oberbefehlshabers der Streitkräfte", hat Emmanuel Macron gesagt. Gute Voraussetzungen schon mal für die immer wieder herumgespensternde EU-Armee, deren deutsche Truppenteile erst marschieren würden, wenn der Bundestag mehrheitlich zugestimmt hat. Während die Franzosen in der Stunde der letzten Entscheidung erst dann mit Atombomben auf die Invasoren werfen würden, ihr Präsident nach dem Fall von Polen feststellt, dass die Bundeswehr die Russen wohl auch nicht aufhalten werde.

Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die einen wollen Europa zur Festung machen, die anderen einen Schutzschirm spannen, der ihre Vorneverteidigung verbessert. Ursula von der Leyen, als ehemalige deutsche Verteidigungsministerin intensiv beteiligt am Rückbau der ehemals so gefürchteten Fähigen der deutschen Streitkräfte, denkt darüber nach, "die Ukraine in ein stählernes Stachelschwein zu verwandeln" und Briten und Franzosen möchten aus den "willigsten und militärisch stärksten Partnern" eine "Koalition der Willigen" schmiede - einen neuen "Rat", der "militärische Einsätze, die Ausbildung ukrainischer Truppen und den Ausbau der Rüstungsindustrie koordinieren" würde, weil mehr Koordinierung immer schon so gut funktioniert hat.

Jeder darf mitspielen

Jeder will mitmachen, jeder die Gelegenheit nutzen. Friedrich Merz kann seine anstehende Amtszeit mit einem Erstschlag komplett durchfinanzieren. SPD-Chef Klingbeil seinen Leuten das 600-Milliarden-Paket vor die Füße legen, das seien Genossin Saskia Esken schon lange vor Trumps Attacken auf die Einheit des Wertewestens ins Spiel gebracht hatte. Keir Starmer rückt unauffällig an die EU heran. Emmanuel Macron bekommt eine außenpolitische Bühne, die vom andauernden innenpolitischen Drama ablenkt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, deren Hauptaugenmerk eben hektisch noch vom Modethema Klima zum Modethema Wirtschaft gewandert war, hat zwischen Rücknahme des Autoverbots und Rettung der Stahlindustrie kurzfristig noch den "ReArm Europe Plan" aus dem Blusenärmel geschüttelt: 800 Milliarden Euro, die niemand hat, sollen, denen, die sie bezahlen, dabei helfen, zu finanzieren, was sie sich nicht leisten können. 

In der "Festung Europa" mit ihren Mauern aus Illusionen klingt das vollkommen logisch.

Donnerstag, 6. März 2025

Themenschwund im Hysteriechannel: Aufrüstung über alles

Über viele Themen wurde im Wahlkampf demonstrativ gestritten. Mittlerweile sind sie alle beerdigt und vergessen und nur noch eine Frage zählt: Wie teuer wird der nächste Krieg?

Wie war das alles gerade noch wichtig. Die Meinungsfreiheit. Die Brandmauer. Die Energiepreise. Die Wirtschaft. Der "Made in Germany"-Bonus und Elon Musks Einmischungsversuche. Die russischen Trollarmeen. Die Wissenschaftler, die an die X-Akten heranmussten, um die Spur der AfD-Erfolge bis nach Moskau verfolgen zu können. Wichtig, weil wenn alles ganz schiefgegangen wäre, lag irgendwo dort die Rückfalllinie zur Wahlwiederholung.

Rückblick im Rundflug

Es war ein wirklich großes Ringen in den wenigen Wochen Wahlkampf zwischen Neujahr und Neuanfang mit den alten Aktivisten. Beredet wurde, was brennend wichtig war. Die Fehler der Ampel. Die Fehler der großen Koalition zuvor. Die guten Absichten und schönen Erfolge von Angela Merkel und Robert Habeck. Die Notwendigkeit, dass Olaf Scholz Gelegenheit bekommt, sein Werk zu vollenden. Nichts fehlte, kaum etwas, das wirklich wichtig war, kam nicht als kleine Fußnote vor. 

Von den Grünen über die SPD bis zur Union und der spät radikalisierten FDP hatten alle ziemlich plötzlich einen großen Plan. Selbst die rechte und die linke Linkspartei kamen hier und da mit Vorschlägen vor, immer im Dienst der einfachen Leute und der eigenen Funktionäre, für die ein paar Tausend Stimmen mehr oder weniger den Fall aus der sicheren Bundestagsexistenz ins Nichts der prekären Beschäftigung als Bedenkenträger bedeutete.

Ungeplantes Thema Migration

Die Migration, sie hatte nach einer informellen überparteilichen Vereinbarung eigentlich aus dem Wahlkampf herausgehalten werden sollen. Kein Plakat keiner Partei deckte diesen Bereich ab. Alle versteiften sich auf Zusagen wie "Mit Sicherheit mehr netto", "Zuversicht", "Zusammen" oder "Unser Land wünscht sich Frieden" und "In Europa darf nur einer herrschen: Frieden"

Doch niemand hatte daran gedacht, den Beschluss bis in die Einzelfallkreise draußen im Land durchzustellen. Und so kam es, aufmerksame Beobachter vermuteten später eine gezielte Steuerung aus dem Kreml, zu den befürchteten Vorkommnissen, die sich mit den traditionellen Beileidsbekundungen nicht mehr eindämmen ließen. 

Der Messerangriff eines Afghanen in Aschaffenburg wurde zum Flügelschlag des Schmetterlings, der die Verhältnisse durcheinanderbrachte. Vom Unionskandidaten bis zum grünen Hoffnungsträger rückte alles nach rechts. Die Grenze, der Zustrom, die EU-Regeln und die Notwendigkeit, "in großem Stil abzuschieben" (Olaf Scholz) schaffte es in dieser Phase des Werbens um Wählerinnen und Wähler, gern auch vom rechten Rand, alle anderen Themen zur Belanglosigkeit zu degradieren. Die Wahl würde gewinnen, werde die Menschen davon überzeugt, er könne ihnen das in den alten Zeiten vorherrschende Gefühl einer relativen Sicherheit zurückgeben, da waren sich Wahlkampfplaner aller Parteien einig.

Auftritt als zorniger Gott

Friedrich Merz ließ sich überzeugen. Mit einem nicht einmal schlecht gespielten Auftritt als zorniger Rachegott stellte er klar, dass für ihn eine Grenze erreicht sei, dass er die Zustände nicht mehr dulde und damit zu rechnen sei, dass andere Saiten aufgezogen werden würden. Zurückweisungen, rief Merz. Grenze dicht, versprach er. Schluss mit allem, was die Union unter Merkel als "menschliches Gesicht" Deutschlands hatte sehen wollen.

Aus dem Manöver des Unionskandidaten, der damit endlich Bewegung in die festgenagelten Umfragen hatte bringen wollen, wurde das Thema der letzten Wahlkampfphase. Ein breites Bündnis nutzte Merzens Versuch, sich als starker Mann für Sicherheit und Gesundheit darzustellen, umgehend, um aus dem Juristen aus dem Hochsauerland den neuen Adolf Hitler und aus seiner Partei eine wiedergeborene NSDAP zu machen.

Es ging mit einem Schlag nicht mehr um Energiepreise, um innere und äußere Sicherheit, um Steuern, neue und höhere Abgaben, Grenzen, erweiterte Rechte für Geheimdienste, um alle immer abhören zu können, oder die Abschaltung von Internetportalen, die die Meinungsfreiheit anders interpretieren als deutsche Aktivisten, Minister und vom Staat beauftragte Ansichtenaufseher.

Was würde er wirklich

Sondern nur noch um den Rechtsrutsch, die Gefahr einer regierungsfähigen Mehrheit ohne SPD, Grüne und Linkspartei und Merzens vermutete Charaktermängel: Würde er, wenn ihn das an die Macht brächte, mit den Teufeln koalieren? Würde er, wie es die SPD in den 90er vorgemacht hatte, einen  halblegalen Weg finden, sich trotz aller Parteibeschlüsse, Schwüre und Versprechen doch von den Feinden von "unsere Demokratie" zum Kanzler wählen zu lassen?

Historiker werden später staunend über den Parolen sitzen, die Wahlprogramme studieren und die Auftritte der Spitzenkandidaten wieder und wieder anschauen und analysieren. Und sie werden feststellen: Alles lässt sich ändern, wie die FDP in einem verzweifelten Versuch des Appells an eine erhoffte Aufbruchsstimmung im Land plakatiert hatte. Mancher aber ändert sich von ganz allein - und dann deutlich heftiger als alle Strategen, Wahlkampfplaner und Visionäre in den Spitzenämter vorausgesehen hatten.

Opfer einer Disruption

Disruption, einer der Stars, zugleich aber auch eines der Schreckgespenster des Wahlkampfs, lässt sich herbeibeten oder aber vermeiden wollen. Die normative Kraft des Faktischen aber, 1911 vom sächsischen Staatsrechtler Georg Jellinek als das Prinzip formuliert, nach dem eine tatsächliche Entwicklung stets einen Zustand schafft, den die Rechtsordnung anzuerkennen gezwungen ist, sorgte nur Stunden nach dem Urnengang für ein Themensterben, wie es Deutschland noch niemals erlebt hat.

Russische Trollarmeen, die die Wahl beeinflusst haben? Elon Musk, der unzulässige Meinungen äußerte? Der Nazi Merz, gegen den große Teile der deutschen Sozialdemokratie, die Linken und die Grünen mutig aufgestanden waren? Die freche Anfrage der Union nach der staatlichen Finanzierung eines milliardenteuren Biotops aus Meinungsaufsichts- und Meinungsbeeinflussungsorganisationen? Die längste Rezession aller Zeiten? Die lahmende Energiewende? Die Sicherung der Renten? Das außer Kontrolle geratene Gesundheitssystem? Die Pflege? Die Infrastruktur? Die Inflation, die einfach nicht richtig sinken will? 

Aufrüstung über alles

Wie alle anderen zentralen Streitpunkte verschwanden sie über Nacht, besser gesagt in dem Moment, als US-Präsident Donald Trump und sein Vize J.D. Vance im Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj feststellen mussten, dass ihr Gast immer noch glaubt, sein Land durch eine Fortsetzung des Kampfes gegen die russischen Invasionstruppen eines Tages in eine bessere Verhandlungsposition bei Friedensverhandlungen bringen zu können. Trump warf Selenskyj aus dem Weißen Haus. In Deutschland warfen die Parteistrategen von Union und SPD alle Fahrpläne für die Koalitionsverhandlungen über Bord.

Jetzt geht es nur noch um ein Thema, alles andere ist obsolet. Wie Anfang 2020, als die Corona-Pandemie Angela Merkel die Gelegenheit verschaffte, auf dem Verordnungsweg durchzuregieren, unveräußerliche Grundrechte aussetzen zu lassen und neue Schulden zu machen, um eine längst überalterte, zu großen Innovationssprüngen unfähige Wirtschaft wie gehabt weiterwurschteln zu lassen, erkannten Friedrich Merz und SPD-Chef Lars Klingbeil im "Verrat" (Spiegel) des US-Präsidenten am gemeinsamen Ziel des Endsieges über Russland sofort die Chance, ein neues Notstandsregime auszurufen.

Munition statt Impfstoff, Kanonen statt Beatmungsbetten, Panzer statt Biontech. Aber jedenfalls Milliarden über Milliarden, begründet mit einer allumfassenden medialen Alarmstimmung, die nur noch eine Antwort auf alles kennt: Aufrüstung, Kriegstüchtigkeit, fest geschlossene Reihen, Helm auf zum Gebet, Strammstehen der abgewählten Abgeordneten im Bundestag für eine letzte Rettungstat, koste es, was es wolle, und sei es der allerletzte Rest an Glaubwürdigkeit.

Das zahlt der Staat: Mit dem Geld von Morgen

Das neue Billionen-Schuldenprogramm
Friedrich Merz hat ein sehr altes Haus gekauft. Jetzt beleiht er es bis zum Dachfirst.

Nach zwei Wochen im Amt ist klar: Donald Trump hat damit begonnen, die amerikanische Demokratie in eine Diktatur zu verwandeln. Wann ist der Punkt ohne Wiederkehr erreicht?

Jakob Augstein, 2. Februar 2017, 12.38 Uhr

Schneller ging es noch nie. Sagenhafte 76 Jahre benötigten 24 deutsche Bundeskabinette, um 2,5 Billionen Schulden anzuhäufen. Keine zwei Wochen dagegen brauchte die noch nicht einmal ins Amt gewählte 25., um auf den Berg eine weitere Billion aufzuschütten. Nicht mitgezählt ist hier die halbe Billion aus Corona-Zeiten, ein Sondervermögen, das erst ab 2028 wieder in der Wahrnehmung auftauchen wird wie Nessi im Loch Ness. Bis dahin ist die Rückzahlung ausgesetzt.

Das Billionenspiel

Dann aber geht es los, und wie. Die 2,5 Billionen Verbindlichkeiten kosteten den Bund zuletzt etwas mehr als 34,2 Milliarden Euro im Jahr. Mit den 1,5 Billionen Euro an neuen und alten Sondervermögen  - inklusive des Scholzschen Zeitenwende-Fonds - erhöht sich der Betrag demnächst auf rund 60 Milliarden. Ein gutes halbes Bundeswehr-Sondervermögen, das nicht in dringend benötigte Wärmepumpen, Haubitzen, Elektroautos und Digitalisierung fließt. Sondern direkt in die Taschen internationaler Kuponschneider, Spekulanten und Finanzjongleure.

Es ist das Geld von Morgen, das sich besonders leicht ausgeben lässt. Jeder Kreditkartenbesitzer kennt das Phänomen: Was ich heute kann besorgen, geht immer besser mit borgen. Wie wir heute leben, das werden andere morgen bezahlen. Nimm zwei, zahl' drei, aber erst, wenn das Geld nur noch einen wert ist. Wer für die Kosten aufkommt. Der Steuerzahler jedenfalls nicht - der Bund hat gut gewirtschaftet!, hat die wichtige Merz-Beraterin Julia Klöckner schon vor Jahren klargestellt. Robert Habeck, bis heute Klimawirtschaftsminister, hat es erst kürzlich bestätigt: "Nicht die Bürger zahlen, sondern der Staat".

Trockenes Freibier

Das ist Freibier, aber knoechentrocken. Von den Jungen für die Alten. Im Moment stehen in Deutschland noch 15 Millionen Nettosteuerzahler bereit, die Last zu schultern. Perspektivisch werden es weniger werden, weil sowohl SPD als auch CDU und CSU die hart arbeitende Mitte kräftig entlasten wollen. Das muss sein, denn nur mehr Fleiß, Anpacken und Leistungswille können die Steuereinnahmen so steigern, dass die schlagartig um fast 50 Prozent gestiegenen Zinslasten zu schultern. 

Die liegen künftig nicht mehr bei 25 Milliarden Euro im Jahr, sondern eher bei 50 Milliarden. Ironischerweise passt das: Das neue Bundeswehrsondervermögen hat einen Umfang von 500 Milliarden, aufgeteilt auf zehn Jahre. Es ist also pro Jahr genau so hoch wie die Zinsen, die Deutschland zu zahlen hat.

Dass eine solche Reform gründlich vorbereitet sein muss, liegt auf der Hand. In ihren Sondierungsgesprächen vor den anstehenden Koalitionsverhandlungen ließen sich SPD, CDU und CSU denn auch Zeit. 2009 hatte der Bundestag zwei Jahre verschwendet, um schließlich mit Zwei-Drittel-Mehrheit zur Entscheidung zu kommen, dass Deutschland ohne eine Schuldenbremse nicht weiterexistieren könne. 

Die Handvoll Spitzenpolitiker der informellen Gesprächsrunde von Union und SPD brauche kaum drei Tage, um den Irrtum zu korrigieren: Afuera, Schuldenbremse! Afuera, Maastricht-Vertrag! Afuera, Verbot von Schattenhaushalten! 

Trumps Verrat

Die im Augenblick noch im Grundgesetz enthaltene Schuldenbremse, in den 16 Jahren ihrer Existenz gerade zweimal eingehalten, steht einer neuen Zeit im Wege, von deren Kommen die Par­la­men­ta­rie­r des Jahres 2009 nichts ahnen konnten. Damals, mitten in der großen Finanzkrise, mussten nicht Russland und Amerika, sondern außer Rand und Band geratene Landesbanker eingehegt werden, es galt nicht, die Ukraine vor dem Verrat Donald Trumps zu schützen, sondern den deutschen Sparer vor Spekulanten und Hedge Fonds. Deutschland wollte, das Schicksal Griechenlands vor Augen, zudem Vorbild für die Welt sein und zeigen, dass jeder Staat nur so viel Geld ausgeben sollte, wie er zur Verfügung hat.

Heute ist das in Deutschland doppelt so viel wie damals und noch mehr viel zu wenig als seinerzeit. Mehr geht nicht. Aber einer geht immer noch rein, schließlich sind die Einzigen, die mit einer Schuldenbremse etwas zu gewinnen haben, heute zum großen Teil noch nicht einmal in der Lage, das Wort auszusprechen. 

Der Gewinner nimmt alles

Alle anderen verlieren nichts, denn die Finanzbremse versagte bereits im Jahr ihres Inkrafttretens 2011 zum ersten Mal. Es war Finanzkrise! Notfall! Danach kam Corona. Notfall! Schließlich das Klima und der Klimafonds! Notfall! Richtig durchregieren lässt sich erst, niemand weiß das besser als Friedrich Merz, der Olaf Scholz beim Scheitern aufmerksam zugeschaut, wenn Not kein Gebot mehr kennt und der Staat als weißer Ritter einreitet, um Geld auf die Wunden zu streuen.

Das größte Verschuldungsprogramm, das sich jemals eine Bundesregierung hat gestatten lassen, hat als Begründung eine Lage vorzubringen, die sich bereits wieder geändert hat. Schneller als Deutschland und Europa zu ihren eiligen Krisengipfeln marschieren können, zieht der böse Mann im Weißen Haus die Daumenschrauben an. 

Kommando zurück

Gerade noch am Überlegen, mit welchen Raketen, die Europa nicht hat, die neuen Satelliten, die Deutschland nicht hat, als Ersatz für des verhassten Elon Musk' Starlink ins All geschossen werden sollen, hat der eingeschworene Volodymyr Selenskyj seine letzten Freunde verraten: Auf einmal will er doch Karten spielen und dann auch noch mit dem Blatt, das Trump ihm geben will. EU-Europa gibt alle seine Werte auf. Deutschland ist bereit, seine finanzpolitischen Grundsätze aufzugeben. Das alles für Geschütze, Panzer, Schützenpanzerwagen und Gewehre, die noch vor der Herstellung vielleicht niemand mehr braucht.

Katastrophe zurück. Wo aber nun mit dem ganzen frischen Geld hin? Ein Problem, das sich lösen lassen wird. Schon steigen die von der EZB mühsam und unter Vernachlässigung der eigenen Grundsätze gesenkten Zinsen wieder an, weil das viele neue Geld das schon im Übermaß vorhandene weiter kräftig verdünnt. Schon muss die Bundesbank darüber nachdenken, die 20-Euro-Silbermünzen, die erst vor zehn Jahren die Zehn-Euro-Silbermünzen ersetzen mussten, wegen des bedrohlich steigenden Silberpreises durch 50-Euro-Münzen zu ersetzen. Nahe an dem Preis, den die älteren aus 925er-Silber heute schon kosten.

Im Fell des Bären

Für all das und noch viel mehr werden Mittel gebraucht, Mittel, die es noch gar nicht gibt, die aber von Leuten vorgestreckt werden werden müssen, die noch gar nichts von ihrem Glück wissen. Kommt das Ende des Krieges nicht unangenehm schnell, schafft es die kleinste große Koalition aller Zeiten, nach der Regierungsbildung "bis Ostern" (Friedrich Merz) mit vollen Taschen aus ihren Verhandlungen um das Fell des Bären zu kommen.

Am Zinsmarkt ist die absehbare neue Nachfrage sehr gut angekommen. Der Zins zehnjähriger deutscher Staatsanleihen stiegt im ersten Anlauf um zehn Prozent, zehnjährige Anleihen machten einen Hüpfer von von 2,5 auf 2,8 Prozent. Es war der höchste Tagesanstieg seit 30 Jahren.

Von der Einführung des Euro bis zum ersten Halving seiner Kaufkraft dauerte es fast ein Vierteljahrhundert. Das nächste aber dürfte bereits in zehn Jahren anstehen. Falls alles richtig gut geht.

Mittwoch, 5. März 2025

Bange machen gilt nicht: Frau Prantl, wie positiv blicken Sie in die Zukunft?

Die ausgebildete Psychosoziologin Svenja Prantl schaut derzeit überaus optimistisch auf die Welt.

Sie gilt als seine der stärksten Stimmen der jungen Generation, sie setzt sich unumwunden für soziale Freiheit und Grundgerechtigkeit in der Verteilungsgesellschaft ein, aber beherzt auch in die Wespennester des Widerspruchs. Svenja Prantl hat dem gewohnten bürgerlichen Leben schon als junge Frau rasch entsagt, vor sieben Jahren packte ihren Laptop und machte sich auf eine lange Reise raus aus Deutschland, weg von Europa, ins ferne Ausland, wo das Wetter besser und die Strände leer sind. Hier, weitab von den deutschen Alltagssorgen, arbeitet die heute 36-Jährige, wann immer sie Lust hat – und zwar am liebsten am Strand, von dem aus die deutschen Verhältnisse oft besonders bizarr anmuten.

Für PPQ begleitet die überzeugte Digitalnomadin den Fortgang der Ereignisse mit Kolumnen und Interviews mit Zeitzeugen. Heute allerdings sitzt sie selbst vor dem Mikrofon, um Auskunft zu geben und mit geübter Hand einzuordnen, was inländische Beobachter zusehends überfordert.

PPQ: Frau Prantl, überall heißt es, die Welt sei aus den Fugen geraten, Amerika lasse seine Verbündeten im Stich, alles breche zusammen und bald wohl ein Krieg aus. Wie positiv blicken Sie gerade in die Zukunft? 

Svenja Prantl: Überaus positiv. Wir kommen aus Jahren der politischen Lähmung, aus einer Zeit, in der alle Dinge für immer festgezurrt zu sein schienen. Wenn wir Europa betrachten, dann hatten wir eine Perspektive des Immerweiterso. Aller paar Jahre wählten alle Politiker, die niemand kannte und von denen niemand wusste, wieso gerade sie auf dem Wahlzettel stehen. Die verschwanden dann nach Brüssel, wo sie übereinstimmenden Angaben zufolge nichts zu sagen und nichts zu entscheiden haben. Parallel dazu wuchs uns dann immer eine Kommission zu, die niemand gewählt hatte, die aber alles entscheidet, etwa auch, wer was sagen darf. Sogar den nationalen Regierungen weist diese Meta-Bürokratie bis heute zu, was sie dürfen und was nicht. Das ganze Konstrukt haben wir "unsere Demokratie" genannt und so tief inhaliert, dass jedermann und jede Frau in der EU sich schon fürchtet, wenn ihm insgeheim der Gedanke kam, dass das ja wohl nicht der demokratischen Verhältnisse letzter Schluss sein könne. 

PPQ: Diese Beschreibung ist vielleicht justiziabel, aber optimistisch klingt sie nicht.

Prantl: Mein Optimismus erwächst aus dem Pessimismus dieser Situationsbeschreibung. Schlimmer kann es doch nicht kommen. Sehen Sie, 440 Millionen Europäer akzeptieren Verhältnisse, die so konstruiert sind, dass demokratisch gewählte nationale Regierungen Entscheidungen treffen und Gesetze beschließen müssen, die ihnen von einer überhaupt von niemandem gewählten Kommission und einem unter sehr fragwürdigen und undemokratischen Regeln gewählten Parlament ohne Parlamentsrechte vorgegeben werden. Das klingt doch dystopisch! Das ist doch eine Horrorvorstellung für jeden Demokraten. Um diese Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, wie ein großer kommunistischer Vordenker mal gesagt hat, braucht es ein Erdbeben, eine umfassende Erschütterung. Und die spüren wir gerade. Das macht mich optimistisch, nicht weil ich an ein gutes Ende glaube, sondern weil ich denke, dass ein gutes Ende ohne Anfang unmöglich ist.

PPQ: Viele einfach Menschen draußen auf der Straße und viele  Hinterbänkler im Parlament und Beisitzer in den Koalitionsverhandlungen empfinden die derzeitige Phase aber als sehr heftige Zeit, weil gerade viele politische Glaubenssätze infrage gestellt werden und es so scheint, als seien alle Schutzmechanismen vollkommen überfordert.

Prantl: Diesen Effekt kennen wir aus der Katastrophenforschung. Sie können da rund um die Welt schauen und quer durch alle Zeitalter. Immer stellt sich nach einem Unglück, sei es nun eine Naturkatastrophe oder ein menschengemachtes Auto- oder Messervorkommnis, heraus, dass die Vorsorge nicht ausgereicht hat, dass es Fehler gab, Versäumnisse und Dinge, die niemand vorausgesehen hat, als alle sich wappneten, wie man das ja inzwischen nennt. Letztlich ist es nie genug, aber ohne Katastrophe erfährt das eben keiner. Aus Sicht der Demokratieanwender im politischen Berlin ist das immer der Idealfall, es garantiert, dass man weitermachen kann, ohne von Brüchen und neuen Herausforderungen gestört zu werden. Das Ideal einer solchen Führung ist die berühmte EU-Fake-News von den vermeintlich 75 Jahren Frieden, die die Gemeinschaft garantiert habe. Man eignet sich einfach etwas an, das andere verbürgt haben, feiert sich dafür und zieht daraus die Bestätigung, dass es keinerlei Bedarf mehr nach Fortschritt, Entwicklung oder auch nur Veränderung gibt.

PPQ: Aber wenn alles gut läuft, braucht es das doch auch nicht. Never change a winnig team, sagt man doch?

Prantl: Ja, läuft es denn? Hat denn diese ganze große EU, der größte zusammenhängende Wirtschaftsraum der Welt seit mehr als zwei Jahrzehnten, im vergangenen Vierteljahrhundert irgendeine Entwicklung von Belang zum Fortschritt der Menschheit beigesteuert? Ich rede jetzt nicht von den 12.000 Rechtsakten und Gesetzen, nicht von der neuen Spitzenstufe der Bürokratisierung und nicht vom kreativen Umgang mit früher festgelegten Begriffen wie Einigkeit, Solidarität und Gemeinsamkeit. Nein, ich meine zum Beispiel technische Innovationen, die das Leben von Millionen besser machen, einfacher und lebenswerter. Hat Europa da etwas vorzuweisen? Irgendetwas? Ein kleines soziales Netzwerk im Internet? Einen winzigen Routenplaner? Ein überzeugendes Smartphone? Computersoftware? Ein Satellitennetz? Künstliche Intelligenz? Raumfahrtpläne? Wiederverwendbare Raketen? Irgendetwas? Sagen Sie es mir!

PPQ: Auf Anhieb springt einem da sicher nichts ins Gesicht, aber in einer Welt, die auf Arbeitsteilung beruht, ist das vielleicht gar nicht wichtig. Jahrhundertelang hat Europa die Welt mit Innovationen und dann auch mit Produkten versorgt. Warum soll das über die nächsten Jahrhunderte nicht andersherum sein?

Prantl: Es wird andersherum sein. Ein kluger Mann, weitgereist und welterfahren, hat mir kürzlich erzählt, dass er sich immer dann, wenn er aus Asien zurück nach Europa fliege, vorkomme wie bei einem Besuch im, so wörtlich "Museum unserer Überheblichkeit". Während wir selbstverliebt auf unsere Vergangenheit schauten, ziehe Asien unaufhaltsam an uns vorbei. Und, so sehe ich das, mit jeder Stunde, die EU-Europa in seinen kalten, leeren Ritualen verharrt, sinken die Chancen, dass diese zerrüttete, zerstrittene und von jeder einzelnen Krise der vergangenen 20 Jahre sofort überforderte angebliche Wertegemeinschaft noch einmal den Anschluss schafft.

PPQ: Nun heißt es ja aber, in den USA sei mit der Wiederwahl von Donald Trump eine neue Zeit unter Vorzeichen einer Kleptokratie angebrochen und Europa sei nun gefordert, die alte weltpolitische Ordnung aufrechtzuerhalten, also gerade den Status Quo zu verteidigen, von dem Sie sagen, er müsse enden. Wie geht das aus?

Prantl: Wie immer. Es hat in den zurückliegenden acht Jahrzehnten einige Fälle gegeben, in denen sich die Kleinmächte des Westens amerikanischen Wünschen verweigert haben. Denken Sie an de Gaulle oder Gerhard Schröder. Aber das waren kurze, taktische Aufstände, meist aus innenpolitischen Gründen losgetreten. So ist es auch diesmal, weil Europa und insbesondere Deutschland sich natürlich in den  zurückliegenden zehn Jahren ein Bild von Trump und dessen Ambitionen und Zielen zurechtgezimmert hat, das sich jetzt nicht so einfach beiseitefegen lässt. Der Mann ist ja für irre und für wahnsinnig erklärt worden, man hat ihn bekämpft mit allem bisschen, was man hatte, er wurde zum Hassprediger, zum  russischen Agenten und zum Kriegstreiber ernannt und jeder Versuch, wenigstens halbwegs bei den Fakten zu bleiben, unterblieb, je länger dieser Kampf erfolglos geführt wurde. Niemand kann jetzt so einfach den Schalter umlegen und sagen, okay, er hat gewonnen, wir machen wie immer mit. Ei großes Problem, das sich aber wie immer auswachsen wird.

PPQ: Aber bleiben dann nicht unsere zentralen Inhalte auf der Strecke? Europa hat sich zuletzt vor allem über den Kampf für den Schutz des Klimas und der Meere, für Biodiversität, für Nachhaltigkeit und so weiter definiert. Das fiele ja alles weg.

Prantl: Zweifellos, aber das wird niemand bemerken, abgesehen von denjenigen, die die Felder aus geschäftlichen Zwecken beackern. Seit wir mit dem Ukrainekrieg aus der Zeit der monothematischen Beschäftigung mit dem Klima herausgerutscht sind, haben sich Angebot und Nachfrage nach diesen ehemaligen Zukunftsthemen ja bereits halbiert, ohne dass Klagen kamen. Das resultiert natürlich aus den Grundgesetzen der Mediendynamik: Es kann immer nur eine begrenzte Anzahl an Wichtigkeiten geben, weil eine Tagesschau, wie die Medienforscher sagen, eben nur 15 Minuten hat und auch noch der Sport, das Wetter und irgendetwas Launiges über Kultur gesendet werden muss.

PPQ: Steht also das Abendland vor einem Neustart und die Menschheit vor goldenen Jahren? Da sind Sie eine recht einsame Stimme.

Prantl: Die Zukunft ist wie immer offen, beziehungsweise sie ist jetzt wieder offen. Nach Jahren, in denen sich erwiesen hat, das eine multilaterale Kooperation über Klimaverträge und globale Abmachungen mit Mindestssteuervorgaben und ähnlichen Trick ersten langwierig und zweitens erfolglos ist, bekommen wir nun die Chance, auszuprobieren, ob sich diese Themen mit Hilfe eines konkurrenzbasierten Modells in den Griff bekommen lassen. Wir haben  im Moment drei Blöcke, die unterschiedliche Ansätze verfolgen und wechselseitig in großen Abhängigkeiten stecken. Die Amerikaner haben Europa angeboten, weiterhin zu kooperieren, allerdings wieder nach eher konservativen Vorgaben. Das folgt der strengen Logik von Zbigniew K. Brzezinskis Klassiker "The Grand Chessboard" , in dem er "Amerikas Strategie der Vorherrschaft" schon Ende der 90er Jahre als notwendigen Schutz vor einem Weltmachtstreben Chinas beschrieben hat. EU-Europa kann  dieses Angebot annehmen. Oder es wird auf der globalen Wippe, von der Brzezisnki sprach, Richtung Osten kippen.

PPQ: Wenn Europa nur diese Wahl hat, warum wehrt es sich dann so?

Prantl: Weil die Entscheidung den derzeitigen Akteuren wohl gegen den Strich geht. Sie sind Gefangene ihrer eigenen Propaganda von der EU als moralischer Weltmacht und zugleich alles andere als Weltstrategen. Hätten zumindest einige von ihnen Brzezinskis Buch gelesen, wüssten sie, dass die Trump-Administration mit ihren Befriedungsmanövern Russland gegenüber natürlich einen Schachzug gegenüber China macht, den Brzinski schon 1999 für unausweichlich erklärt hat. Russland war für ihn schlicht der Schlüsselstaat, an dem sich entscheidet, auf welche Seite Eurasien kippt. 

PPQ: Das klingt einleuchtend, spielt aber in der öffentlichen Diskussion keinerlei Rolle. Haben wir es hier auch mit eineem Medienversagen zu tun?

Prantl: Immer. Mit funktionierenden Medien wäre die EU niemals in eine so prekäre Lage geraten, weil kein Politiker wie Angela Merkel über anderthalb Jahrzehnte mit einer Politik des absoluten Stillstands, der Vertröstung und der Konservierung durchgekommen wäre. Das muss man wohl heute einräumen.


Sondergebirge aus Geld: Die neue Freiheit

Als Begründung für neue Schuldenberge, die in wenigen Stunden höher wuchern als zuvor in vielen Jahrzehnten, ist der Ukrainekrieg so gut wie jede andere Ausrede.
Als Begründung für das neue Sondergeldgebirge, das in wenigen Stunden höher wucherte als zuvor in vielen Jahrzehnten, ist der Ukrainekrieg so gut wie jede andere Ausrede.


Nun ist es doch auch egal. Dann lässt eben nun auch Deutschland ab vom Versuch, eines Tages doch einzuhalten, was als Maastricht-Kriterien ehemals die Grundlage für das familiäre Zusammengehen der EU-Länder sein sollte. Mehr als die Hälfte der Partnerstaaten hat den Versuch nie unternommen oder längst aufgegeben. Die Zeiten, in denen Politiker über den Tag hinaus dachten und angesichts der in den vergangenen Jahrzehnten aufgelaufenen Schuldenlasten meinten, sie dürften den kommenden Generationen, absehbar zahlenmäßig kleiner, absehbar weniger wohlhabend, nicht solche Berge an Kreditlasten hinterlassen, sind vorüber.

Jetzt gehts richtig los! Schafft eins, zwei, viele "Sondervermögen", die Lage ist danach. Als Sahneklecks gibt es die Aufhebung der Schuldenbremse obendrauf. Was alle eben noch ablehnten, wollen zehn Tage später alle umso mehr. Die SPD war schon immer dafür, die Grünen sowieso, die Linken aus ehrlicher Überzeugung, jetzt stößt auch noch die EU-Kommission ins Schuldenhorn und die Bundesbank verleiht die höheren Weihen. Geschickt hat EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen auch diese Gelegenheit genutzt, sich eine Genehmigung für - eigentlich immer noch verbotene - gemeinsame EU-Schulden zu erbitten. In der Pandemie klappte das prima, das "abschreckende Beispiel" (Die Welt) wurde zum Präzedenzfall. 

Nicht einmal mehr leiser Widerstand ist diesmal zu befürchten, zu verführerisch sind die Aussichten, noch einmal in größerem Maßstab weiterwirtschaften zu können wie bisher. Den Hinweis der Bundesbank, die zusätzliche Neuverschuldung solle sich an der 60-Prozent-Marke der Maastricht-Verträge orientieren, fällt hinten runter. Jetzt bloß nicht kleinlich werden. Wenn einmal gründlich durchgefegt wird, kann auch gleich alles weg. Taugt ja nichts und stört nur.

Geld muss her

Um die Welt heute besser zu machen und das Leben der Nachgeborenen angenehm, gibt es nur ein einziges, von allen anerkanntes Mittel. Wo kein Geld mehr ist, muss mehr her. Seit die Schuldenbremse, einst eingeführt von SPD und Union, sich neuen Begehrlichkeiten hinderlich in den Weg stellt, haben einfallsreiche Politiker sich von den Experten der Bundesworthülsenfabrik BWHF den Begriff "Sondervermögen"®© anfertigen lassen, der für neue Schulden steht, die nicht wie Schulden aussehen sollen. 

Das umständliche Umgehungsmanöver war von Anfang an allgemein anerkannt. Wat mut, dat mut, denn Not kennt kein Gebot und beim Marsch der Demokraten auf den Schuldenberg geht es nicht um Gipfelstürmerei, sondern vor allem darum, den Frieden im Lande zu erhalten. Keinem etwas nehmen, aber allen etwas geben, so hatten es alle Parteien zuletzt wieder im Wahlkampf versprochen. 

Das große Geldwunder

Die Methoden, das neue große Geldwunder zu bewirken, sahen unterschiedlich aus. Auch die Begründungen dafür, warum die gemeinsam mit den anderen EU-Staaten einst vereinbarten Maastricht-Kriterien und die selbstverordnete Schuldenbremse wieder nicht gelten sollten, wichen von Partei zu Partei voreinander ab. Mal war der Umbau von allem für die Klimarettung so dringend, dass es neues Geld in Hülle und Fülle brauchte. Mal musste für die soziale Absicherung in die leere Tasche gegriffen werden. Immer hatte Trump mit allem zu tun, der Krieg, Putin, die Wirtschaftsmisere, die malade Bundeswehr, Brücken, Migranten, Rentner, Mieten, Lebensmittel.

Das Ergebnis sollte immer das gleiche sein: Weniger zahlen mehr. Mehr wählen wieder demokratisch. Über 75 Jahre lang, so gibt es die EU nach wie vor offiziell an, habe Schuldenwirtschaft und das gemeinsame Ignorieren selbstauferlegter Regeln zu Frieden und Prosperität geführt. Immer behaupteten die jeweils regierenden Politiker natürlich, es sei kein Geld da für Investitionen in Klima, Soziales Bildung, für Rente, Aufrüstung oder Familie, die Sanierung der Infrastruktur, Steuersenkungen, das versprochene Klimageld oder die Digitalisierung. 

Immer mehr Nullen

Kaum war es da, das Geld, das die Steuerzahler in immer größeren Mengen heranschafften und der Staat in immer höheren Summen lieh, war es auch schon weg. Kein Betrag, und war er auch noch so hoch, hat je gereicht, vielmehr legte das, was fehlte, von Jahr zu Jahr an Nullen zu. Noch vor fünf Jahren hatte das Standard-Rettungspaket einer Bundesregierung den Umfang von höchstens 100 Millionen Euro.

Eine Million für den Mittelstand, zehn für ein Großunternehmen, auch mal 100 Millionen, ja. Aber mehr musste nie sein. Mehr war auch nie nötig. Selbst als Angela Merkel und Nicolas Sarkozy 2010 im berühmten "Endspiel um den Euro" ganz Europa retten mussten, reichten ein paar Milliarden Euro. 

Summen mit elf Nullen waren seinerzeit noch vollkommen unvorstellbar. Erst vor vier Jahren starb die Million einen stillen Tod, beerbt von der Milliarde als neuer Einheitswährung für alle Krisenfälle. Mit seinem "Sondervermögen Bundeswehr", selbst ausgedacht in einer Februarnacht des Jahres 2022, griff Olaf Scholz dann gleich tief ins Rettungsregal. 

Jenseits der Verfassung

Nicht eine, nicht zehn, sondern 100 Milliarden neue Schulden jenseits aller verfassungsrechtlichen Regeln sollten es sein, auch, um eine ganze Armee an Beschaffungsbeamten zu ernähren, die auf Anweisung der früheren Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatten beschließen müssen, für die deutsche Luftwaffe ein Flugzeug zu bestellen, das es nicht gibt. Doch jenseits des Jahres 2040 würde es gemeinsam mit Frankreich gebaut werden. Ein "Luftkampfprojekt" (von der Leyen) unter dem furchteinflößenden Namen Future Combat Air System (FCAS) das dann, Termintreue vorausgesetzt,  den 70 Jahre alten Tornado-Jagdbomber ablösen würde.

Schnell schießen die Preußen nicht, aber teuer. Kaum hatte Putin die Ukraine angegriffen, war schon Gefahr im Verzug. "Bis zu 35 Jets" des Typs F-35 Lightning II wurden nun in den USA bestellt. Auch, weil der Jäger die amerikanischen Atombomben ins Ziel tragen kann, die in Deutschland mutmaßlich, aber nicht offiziell, für den Fall stationiert sind, dass sie eines Tages benötigt werden müssen. Liefertermin offen, irgendwann nach 2030, vermutlich aber vor Eintreffen des imaginären Future Combat Air System. 

Versorgung für Feldflugplätze

Doch ehe nicht die Nato-Kerosin-Pipeline nach Osteuropa fertiggestellt ist, das künftige Rückgrat für die Kraftstoffversorgung der Feldflugplätze in Frontnähe im Kriegsfall, braucht die Flieger ohnehin nicht. Die Pipeline aber, Kostenpunkt 21 Milliarden Euro, führt durch Wassereinzugs- und Naturschutzgebiete.  Die Genehmigungsverfahren werden langwierig, die juristischen Auseinandersetzungen wohl mindestens ebenso.

Was also wirklich fehlt, ist noch mehr Geld, um das erfolgreich anvisierte, dann aber doch verfehlte Personalziel der Bundeswehr zumindest finanziell zu erreichen. In ihren Sondierungsgesprächen kamen SPD und Union offenbar an dieser Stelle schnell auf einen Nenner: Das nächste Sondervermögen hängt dem letzten noch eine knappe Null dran. Statt vor drei Jahren noch fast unvorstellbarer 100 Milliarden Euro - immerhin mehr als das Dreifache dessen, was sich der Staat einst die Rettung des Finanzsystems hatte kosten lassen - geht es jetzt um 400 oder was Milliarden für die Bundeswehr. Und, auch die SPD möchte ihren letzten paar Handvoll Wählern irgendetwas vorweisen können - zusätzlich 500 Milliarden für die Sanierung der Infrastruktur. Plus 800 Milliarden von der EU, die das Geld nicht hat und die Summe nur "vorschlägt". Nebst weiterer Fantastrilliarden irgendwoher für irgendetwas weiß man noch nicht.

Ein Drittel mehr in wenige Stunden

Es sind Summen, die vorher bereits gewispert worden waren. Doch sie sind dennoch atemberaubend. In den 76 Jahren seit Gründung der Bundesrepublik haben deutsche Staatslenker rund 2.500 Milliarden Euro Schulden angehäuft. Das entspricht einer Summe von etwa 30.000 Euro pro Kopf der Bevölkerung oder aber 55.000 Euro pro Steuerzahler. Friedrich Merz und Lars Klingbeil planen nun, binnen einiger weniger Tage ein Drittel der bisherigen Schuldensumme aufzusatteln - und das handstreichartig mit Hilfe eines bereits abgewählten Bundestages.

Irgendeinen Grund hätten sie natürlich auch finden können, um den Notstand auszurufen und die Schuldenbremse auszusetzen. Doch der Ärger auf dem Weg dorthin! Jede Partei im neuen Bundestag, soweit sie angesprochen werden darf, hätte für ihre Zustimmung ein Säftchen verlangt, ein Bonbon, ein bisschen Zuwendung für dieses Traumprojekt und ein wenig mehr für ein anderes. Ein Sondervermögen dagegen, begründet mit Trump und Putin und Europas neuer Rolle als künftiger Kriegsschauplatz, das macht was her, das gibt vor allem etwas her.

Könnte Geld Russen erschießen

Könnte Geld Russen erschießen, wäre der Kreml allerdings bereits gestürmt und Putin säße hinter Gittern. Was es können soll und vielleicht auch können wird, ist, den von den USA brachial herbeigepressten Frieden hinauszuzögern und den Stellungskrieg im Osten zu verlängern. Der wird mittlerweile seit Monaten als Stellungskrieg entlang einer 600 Kilometer langen aktiven Front geführt, an der mit hohem Blutzoll von beiden Seiten um Geländegewinne vom Ausmaß eines Fußballplatzes gekämpft wird. Den russischen Truppen fehlt die Kraft, die zermürbten ukrainischen Einheiten aus ihren Stellungen zu vertreiben. Den Verteidigern fehlt sie, die Invasoren bis hinter die ursprüngliche Grenze zurückzuschlagen.

An dieser grundsätzlichen Lage wird deutsches Geld nichts ändern, weder zehn noch 100 oder 1.000 Milliarden können Kiew den immer wieder beschworenen Siegfrieden kaufen. Das weiß Friedrich Merz, das weiß Lars Klingbeil. Aber als Begründung dafür, die Geldschleusen nicht nur noch weiter zu öffnen, sondern sie aus den Angeln zu reißen, um endlich wirtschaften zu können, ohne auf den Cent zu schauen, ist der Ukrainekrieg so gut wie jede andere.


Dienstag, 4. März 2025

Das Heldenlied von Jakob und Timon

Freiwillig an der Front: Im Freikorps Gert Bastian
Jakob und Timon sind zum Freikoprs "Gert Bastian" gegangen, um die Freiheit zu verteidigen.

Wie nur weiter, was nur tun? Nach der rücksichtslosen Kündigung der transatlantischen Partnerschaft durch die neue US-Administration sind die Anführer Europas hektisch auf der Suche nach einem Ausweg aus der drohenden Einsamkeit beim nächsten Waffengang mit Russland. Brexitannien prescht vor, handausgewählte Europäer schmieden an einer neuen "Koalition der Willigen", die deutsche Marine rüstet ihre Heringsflotte, um die Nordflanke zu schließen.

Nichts davon wird reichen, um eine heranwalzende Lawine aus russischen Schrottpanzern dauerhaft aufzuhalten. Nur numerisch ist Europa stark, im Einsatz aber, das hat der fluchtartige Abzug aus Afghanistan gezeigt, der bis heute anhält, vermag die starke Truppe mangels Rekruten, Waffen und Munition kaum standzuhalten. 

Dienstfrei für immer

Aus der ehemals stärksten konventionellen Armee Westeuropas mit ihren fast 500.000 Soldaten und Offizieren, 7.000 Panzern, 800 Kampfflugzeugen und 200 Schiffen, die nur zwischen Freitagnachmittag und Montagmorgen dienstfrei machte, ist eine Verwaltungsarmee geworden, die kaum mehr als 60.000 Frauen und Männer in kämpfenden Truppen zählt. 

Für Jakob Blasel und Timon Dzienus, den Chef der Grünen Jugend und seinen Vorgänger, sind die alten Rezepte zur Verteidigung der Freiheit angesichts der Bedrohung aus Amerika keine Option. "Wer in dieser Weltlage noch immer zögert, Europas Freiheit auch mit Waffen zu verteidigen, ist nicht links - sondern naiv und unsolidarisch", hat Blasel dem bisher als grundpazifistisch und wenig geltenden Parteinachwuchs ins Stammbuch geschrieben. 

Rüstungsgegner machen mobil

Dzienus, in seiner Zeit als grüner Jugendführer noch erklärter Gegner von Rüstung und Sondervermögen, schloss sich an. Wer sich jetzt noch weigere, die Schuldenbremse grundlegend zu reformieren, also aufzuheben, "gefährdet unsere Freiheit". Aber Reden gewinnt keine Kriege, ein modernisiertes Beschaffungswesen schreckt keinen russischen Hybridkrieger ab und Milliarden für neue Uniformen gewinnen keine Schlacht.

Jakob und Timon wissen genau, dass es boots on the ground braucht, um resilient zu werden in einer Zeit, in der düstere Wolken über Europa ziehen und unsere Demokratie von Osten her bedroht wird. Die beiden jungen Helden, Fleisch vom Fleisch des Volkes, sind jung und stark, mutig und von einem Feuer erfüllt, das nur die Gerechten kennen. 

Jakob, mit wilden Locken in der Farbe reifen Korns und Augen, aus denen Entschlossenheit spricht, ist  ein Mann des Wortes. Timon, ein Lausbubentyp wie der brave Soldat Schwejk, ist nicht breitschultrig, aber zu allem entschlossen. Gemeinsam sind die beiden fest gewillt, in der Stunde der Not nicht zuzuwarten, bis die älteren Kollegen und Genossen sich durchgerungen haben zu einer Rückkehr zur Wehrpflicht und einer Mobilisierung aller noch verfügbaren Kräfte. Ihre Idee, öffentlich bislang unausgesprochen, ist die Gründung einer Freiwilligentruppe - einer grüne Armee.

Im Freikorps "Gert Bastian"

Das Freikorps "Gert Bastian", benannt nach dem grünen Generalmajor, der in den 80er zu einer der Führungsfiguren der westdeutschen Friedensbewegung geworden war, soll die Friedenslücken schließen, die derzeit zwischen den im Baltikum stationierten 5.000 Soldatinnen und Soldaten der Brigade Litauen und der Jägerkaserne im sächsischen Schneeberg klafft. Gebildet aus grünen Jugendlichen und jungen Leuten bester Bio-Gesinnung und aufgeteilt in die drei leichten Brigaden "Petra Kelly", "Thomas Ebermann" und "Daniel Cohn-Bendit", soll das Korps bereitstehen, Europas Freiheit mangels Ausbildung an Gewehr und Panzerbüchse mit Worten und der blanken Klinge zu verteidigen.

Links sein, das heißt bewaffnet sein in Zeiten, in denen die Boomer die Friedensdividende aufgezehrt haben. Wer nicht vorn marschiert, ist naiv und unsolidarisch, wenn die langjährige Schutzmacht Amerika den monatlichen Scheck kündigt. Timon und Jakob sind mit ihrem kühnen Entschluss, sich den Verteidigern von Heimat und Freiheit anzuschließen, Pioniere einer Generation, der nachgesagt wird, sie daddele nur, pflege ihre Neurosen und quengele über ausbleibend straffe amtliche Sprachregelungen.

Ein Duft von frischem Brot

Es wird vielleicht ein kühler Sommer- oder Herbstmorgen sein, an dem Jakob die Tür seines Elternhaus in Kiel entschlossen zuziehen wird. Der Wind wird den Duft von frischem Brot aus einem der letzten  nahegelegenen Bäckerläden herübertragen, Freunde und Nachbarn werden winkend grüßen und alles Beste wünschen. Der Klang der Glocken von St. Nikolai am Alten Markt klingt herüber. Mancher langjährige Wegbegleiter weint ein paar stille Tränen. "Du bist unser ganzer Stolz, Jakob", sagt einer der Brüder mit rauer Stimme zum ältesten Sohn der Familie. "Musst du wirklich gehen?", fragt eine Freundin, die Stimme zitternd.

Doch Jakob hat es nicht nur Timon versprochen, der für seinen Platz bei "Gert Bastian" den eben erst eroberten sicheren Sitz im Bundestag aufgeben wird. Auch die Menschen draußen im Land setzen auf das Beispiel der beiden jungen Männer. Und so spricht auch Timon im 400 Kilometer entfernten Nordhorn Sätze, die ihm nicht leicht fallen. "Wenn ich nicht gehe, wer soll dann unsere Freiheit bewahren? Ich kämpfe für dich, für uns, für alle", sagt er und macht die ersten Schritte ins Ungewisse. 

Fest entschlossen die Füße

Fest setzt er die Füße, die jene boots sein sollen, die Europas Zukunft sichern. Es geht ins erste Ausbildungslager, Monate der Grundausbildung an Schild und Holzschwert folgen. Eine Sondergenehmigung des Bundesinnenministeriums erlaubt den jungen Kriegern auch Kämpfe mit blankem Stahl auf einer kleinen Freifläche neben dem Basketballplatz, der in Friedenszeiten so beliebt war bei Jugendfreizeitschüler*innen aus der gesamten Republik. Weiter führt der Weg gen Osten, stets haben die beiden Helden die Stimmen ihrer Liebsten im Ohr: "Ich werde warten", haben die zum Abschied geflüstert. Ein Schwur, nicht geringerwertiger als der, den Jakob und Timon abgelegt haben.

"Ich komme zurück", haben beide den Zurückbleibenden in die Hand versprochen, ehe sie mit einem letzten Blick auf die vertrauten Straßen ihre Bündel über die Schultern warfen und den Bus des Bastian-Korps bestiegen, der sie hinausfährt in die unbekannte Weite, in der ein mächtiger Feind nur darauf wartet, dass die beiden Jungen und ihre Kameraden Schwäche zeigen.

 Ohne viele Worte

Den Gefallen aber werden sie und die Hundertschaften grüner Mädchen und Jungen, die ihrem Aufruf gefolgt sind und noch folgen werden, dem Kreml-Diktator nicht tun. Ohne viele Worte waren Jakob und Timon sich darüber von Anfang an einig – zwei Brüder im Geiste, vom einem stählernen Schicksal verbunden, das sie bezwingen wollen. 

Ihre Reise führt sie über weite Felder, durch dichte Wälder und entlang reißender Flüsse in die Ferne, dort, wo fern hinter der Türkei die Völker seit Jahren aufeinanderschlagen. Überall jubeln die Menschen ihnen unterwegs zu, überall aber wispern sie auch von Krieg und Furcht.

Jakob und Timon sind sich der Blicke bewusst, die ihnen folgen. Und sie tragen ihren Mut wie ein Banner vor sich her. "Glaubst du, das Schicksal hat uns auserwählt?", fragt Timon eines Abends am Lagerfeuer und die Flammen spiegeln sich in seinen Augen. Jakob lächelt grimmig zurück: "Auserwählt oder nicht – wir haben uns selbst erwählt. Das war unser Schicksal."

Schülersprecher am Schwert

Im Heerlager angekommen, einem aus Bundesgeheimhaltungsgründen nicht näher bezeichneten Un-Ort, wird ihr Dasein vollkommen anders sein als alles, was die beiden früheren Schülersprecher bisher kannten: Immer ist da das Klirren von Schwertern, sind da gebrüllte Befehle, Pferde wiehern und ganze Marschkolonnen beklagen barmend frische Blasen. Anton Hofreiter, ein älterer, erfahrener Grünenpolitiker, der als einer der ersten aus der ehemaligen Pazifistenpartei erkannt hatte, dass "wir uns verteidigen können müssen, um einem Krieg vorzubeugen", wird so manches Mal still schmunzeln, wenn er seine frischen Rekruten barsch trösten muss. 

Der Heerführer, ein Mann mit Haaren wie ein Statement gegen jeden Kommisgeist, appeliert dann oft an den alten inneren Schweinehund in seinen Männern und Mädchen. "Warum seid ihr hier?", fragt er, "wisst ihr noch, warum ihr hier seid?" Meist sind es Jakob und Timon, die mutig vortreten und sagen: "Wir kämpfen für Europa, für die Freiheit. Russland bedroht unser Land, und wir werden nicht zusehen." Hofacker nickt dann zufrieden. "So ist es recht, meine Recken", spricht er den jungen Leuten gut zu: "Euer Mut wird geprüft werden, aber ihr werdet die Prüfung bestehen."

Eine Woge aus Stahl und Feuer

Sie kommt vielleicht früher als jeder bisher fürchtet, vielleicht später oder aber nie, weil die Mobilisierungsanstrengungen im Lager der Bastians auch dem Kreml nicht verborgen bleiben werden. Während die Einheiten von "Kelly", "Ebermann" und der internationalen "Cohn-Bendit"-Brigade üben , sich rüsten und ihre Waffen und Stiefel putzen, wird in Moskau das Nachdenken einsetzen. Wird den eigenen Truppen als Woge aus Stahl und Feuer ein Durchmarsch bis Finistère an der Küste der Bretagne gelingen? Oder wird es werden wie in der Ukraine: Viel Blut, viel Leiden, wenig Raumgewinn?

Jakob und Timo hoffen auf Einsicht im Osten. Sie wollen ein Zeichen setzen in ihren glänzenden Rüstungen und mit ihren Kameraden, deren Marschtritt den Boden erzittern lässt, wenn die Truppentrompeten "Hamburg ist ein schönes Stadtchen" und "Des Förster Töchterlein"
schmettern. 

Vorbild, Freund und Fels

Niemand will hier die Schlacht, niemand will eine Begegnung im Felde, wenn das Krachen der Geschütze dröhnt und Schreie die Ebene erfüllen. Jakob ist dennoch entschlossen, wie ein Löwe zu kämpfen, sollte es so weit kommen. Timon sitzt abends oft auf seiner Feldliege und er poliert seine Klinge, wetzt sie an einem Stein, auf dass sie rasiermesserscharf werde. 

In ihrer Einheit bei den Bastians sind die beiden Vorbild, Freund und Fels in der Brandung. Jeder der Bastians weiß, dass Timon hinzuspringen und seinen Schild gegen den Feind erheben wird, droht der, die Oberhand zu gewinnen. Jeder weiß auch, dass Jakob nicht zögern wird, zu kämpfen, bis der Gegner weicht.  

Oft singen sie abends, müde von Märschen, Sturmbahn und Kantinenessen, das alte Lied, das vom Leben derer erzählt, die Wache stehen für die, die ihr Leben einfach weiterführen. "Schüsse fallen mitten in der Nacht, der Sergeant ruft: ,Steh auf und kämpfe', heißt es da, und "die Nacht bricht herein und du kannst einfach nichts sehen, ist das Illusion oder Realität?"

"Wir tun das Richtige, Timon", sagt Jakob manchmal, wenn Timon zweifelt. "Denk an die, die wir lieben, an die, die nach uns kommen", muntert Timon seinen Freund an anderen Tagen auf, wenn das Heimweh kommt wie ein hungriger Wolf und dem Freund am Herzen frisst.