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Wie Kurt Hager 1987 dem neuen Kurs in Moskau erteilen auch EU und Deutschland den Ermahnungen aus den Vereinigten Staaten eine klare Absage. |
Der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance warf den Fehdehandschuh, Europa reagierte entschlossen. Wie mit mehreren Stimmen sprach der Kontinent das Gleiche: Man werde sich nicht beugen, werde nicht dulden, dass einem fremde Werte übergestülpt werden, und nicht stillhalten, wenn sich ein bisheriger Verbündeter erdreiste, den Friedensschluss im Osten zu verhandeln wie einst die Alliierten in Jalta. Die hatten überfallene Polen nicht mit zu Tisch gebeten, die hatten unter sich ausgemacht, wie es weitergehen sollte in Europa, wer was bekommt und wer bezahlen wird.
Antwort auf US-Provokation
Deutschland war damals Verhandlungsmasse, das will es nicht wieder, denn das soll heute Russland sein. Dass der Kreml den Krieg nicht verloren hat, stört die Argumentation nicht weiter. Dass er ihn bisher noch nicht gewonnen hat, das zählt. Prompt antwortete die EU auf die amerikanische Provokation mit einem neuen Sanktionspaket gegen den Kreml. Erstaunlicherweise fanden sich auf für die 16. Verschärfung der schärfsten Sanktionen der Weltgeschichte noch einige Stellen, an denen sich die Fesseln straffer ziehen lassen.
Wichtig ist jetzt, selbst Akzente zu setzen. Wichtig ist jetzt, die Vorwürfe aus den USA ins Leere laufen zu lassen. Mit seinen Behauptungen, die EU missachte die Meinungsfreiheit und Deutschland, der Musterschüler unter den 27, ignoriere sie sogar in einer Weise, dass die Regierung der Vereinigten Staaten ihren Bürgern nicht mehr erklären, könne, was man da in Übersee überhaupt mit deren Steuermilliarden schütze, zielte Vance auf einen empfindlichen Punkt, Ja, Europa hat Werte, Ja, sie sind gemeinsame. Nur welche, das könnten auf Befragen weder die Kommission noch die Regierungen der 27 Mitgliedsstaaten sagen.
Zerwürfnis mit der Türkei
Ein Zerwürfnis tut sich auf, wie es zuletzt zwischen Deutschland, der EU und der Türkei offenbar wurde. Lange hatten die Wertestaaten im alten Europa Ankara auf einem Weg gesehen, der das muslimische Mittelreich zwischen Europa und Asien zu einem ganz gewöhnlichen EU-Staat machen sollte. Dass die Türkei das nicht wollte, wurde ignoriert. Statt dankbar zu sein, gerierte sich das Entwicklungsland selbstbewusst. Schließlich musste Deutschland Kundgebungen der dortigen Regierungspartei auf deutschem Boden unter Erlaubnisvorbehalt stellen.
Aus acht Jahren Abstand mutet es wie ein Vorgeplänkel an. Alle in EU und Nato sprechen zwar verschiedene Sprachen, meinen aber etwas völlig anderes, wenn sie dasselbe sagen. Die jähen Wendungen bei der Bewertung von gemeinsamen Werten, die Washington nach der Rückkehr Donald Trumps vollführt, haben die Europäer erwischt wie eine Bogenlampe den Torwart, der gerade die Schuhe wechselt. Die Aufregung ist groß, die Empörung noch größer. Es schreit Verrat und Vergeltung. Und so sehr sie alle hoffen, die Bundestagswahl zu gewinnen, so sehr fürchten sie, dass es klappt, weil sie nicht die geringste Vorstellung haben, was sie dann machen sollen.
Hagers Absage an Moskau
Nicht das, was Amerika tut. Alles, nur nicht das. Vieles erinnert an den März 1987, als der SED-Politiker Kurt Hager der bundesdeutschen Illustrierten "Stern" ein Interview gab. Hager, im SED-Politbüro für ideologische Fragen zuständig, reagierte auf die im Jahr zuvor von Moskau eingeleiteten Veränderungen ähnlich bockbeinig und prinzipienfest wie Olaf Scholz, Friedrich Merz und Robert Habeck nebst Gefolge auf die Predigten von Vance, Trump und Musk.
Auf die Frage, ob die Zeiten vorüber seien, "in denen das Land Lenins für deutsche Kommunisten Vorbild war", beschwor Hager zwar den "Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" zwischen beiden Staaten und ebenso die "feste, unzerstörbare Freundschaft, die in direkten Beziehungen von Betrieben, Hochschulen und anderen Einrichtungen sowie zahllosen persönlichen Begegnungen ihren Ausdruck findet".
Mit dem Satz, dass SED und KPdSU Bruderparteien seien, regelmäßig ihre Erfahrungen austauschten, "um voneinander zu lernen", stellte der damals 74-Jährige aber auch klar, dass nicht der Kreml die Ansagen mache. Sondern der halbe deutsche Zwergstaat sich auf Augenhöhe mit dem "großen Bruder" sah.
Keine Lust zum Lernen
Von der Sowjetunion lernen, hieß plötzlich nicht mehr siegen lernen. Hager zitierte Michail Gorbatschow, der über die DDR wie über einen Verstorbenen gesprochen hatte: "Wir waren treue Freunde und Verbündete der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Deutschen Demokratischen Republik" und er versicherte, dass "es vergebliche Mühe wäre, einen Keil zwischen die DDR und die Sowjetunion zu treiben oder Differenzen zwischen der SED und der KPdSU zu konstruieren".
Es gab sie längst und sie waren grundsätzlicher Natur. Gorbatschow wollte den Sozialismus durch Reformen retten,. Die SED-Führung ahnte, dass selbst schon kleine Veränderungen das baufällige Gebäude des sozialistischen Weltsystems zum Einsturz bringen würde.
Gorbatschows Perestroika galt den alten Männern in der DDR nicht als Chance, sondern als Bedrohung. Schmallippig zitierte Hager seinen Parteichef Erich Honecker, der feinsinnig bemerkt hatte, dass "die Verwirklichung dieses Aktionsprogramms für das Wohl des Sowjetvolkes von grundlegender Bedeutung" sei. Für das Wohl des Sowjetvolkes. Nicht für die DDR. Treue zur Sowjetunion habe noch nie bedeutet, "dass wir alles, was in der Sowjetunion geschah, kopierten". Die Maus brüllte, um das zu betonen: schließlich, so Hager, "kopiert die Sowjetunion auch nicht die DDR".
Auf einmal eigene Wege
Eigene Wege, auf einmal. Kurt Hager, ein kalter Ideologe, aber kein ganz trockener Bürokrat, sagte dann den Satz, der von ihm blieb: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Ein Muster für das, was derzeit zwischen Deutschland der EU und den USA geschieht: Trump hat nach seinem - zumindest für die Europäer so überraschenden - Wahlsieg eine Perestroika ausgerufen. Berlin, Paris und Brüssel, bis vor drei Monaten bereit, auf jeden Pfiff eines amerikanischen Präsidenten zu apportieren, entdecken aus Angst davor, was für sie daraus folgen könnte, plötzlich einen eigenständigen europäischen Weg zu Demokratie, Wohlstand und Frieden.
Das Angebot von J.D. Vance, weiterzumachen wie bisher, wenn Europa sich bereit erklärt, der neuen US-Führung so bereitwillig zu folgen wie fast allen anderen bisher, wurde nicht direkt ausgeschlagen. Zwar tendiert die deutsche Regierung zu einer solchen frontalen Konfrontation. Doch nicht einmal die Deutschen hören noch auf Scholz, Habeck und Baerbock, geschweige denn der Rest Europas, der zudem überwiegend zu den ersten Krisensitzungen gar nicht geladen war. Die, die da waren, konnten sich wie immer nicht einigen.
Grundlegende Gemeinsamkeiten
Kurt Hager formulierte vor 38 Jahren passend zu heutigen Situation: Sozialistische
Länder hätten "grundlegende Gemeinsamkeiten wie den Marxismus-
Leninismus als Weltanschauung und das gemeinsame Ziel, den Sozialismus
und Kommunismus". Aber jedes sozialistische Land habe auch einen
bestimmten ökonomischen und sozialen Entwicklungsstand, historische und
kulturelle Traditionen, geografische und andere Gegebenheiten, die
berücksichtigt werden müssten.
Man unterstützte damals "vollinhaltlich das von Michail Gorbatschow unterbreitete Friedensprogramm des Sozialismus, von dem kühnen Vorschlag, bis zum Jahr 2000 die Welt von allen Atomwaffen zu befreien". Aber Gorbatschow radikale Veränderungen, um den Sozialismus vor der Erstarrung zu bewahren, benötige die DDR nicht. Das habe die Entwicklung der DDR "eindeutig bewiesen": Die Einführung der Mikroelektronik und anderer Schlüsseltechnologien, die Bildung der Kombinate in Industrie und Bauwesen sowie der Kooperationsräte in der Landwirtschaft, das einheitliche sozialistische Bildungssystem all dies sind schöpferische Leistungen, die sich im Leben bewähren".
Amerikas Weg ist nicht unserer
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Wie Hager damals weiß Gysi heute, was läuft. |
Kein Grund für Änderungen
Darüberhinaus? Kein Grund, etwas zu ändern. Wie Robert Habeck, der die Europäer mit dem Traum zu begeistern versucht, die EU könne doch Google oder Facebook nachbauen, betonte Kurt Hager, dass "von einer tatsächlichen unheilbaren Erstarrung nicht der Sozialismus, sondern die kapitalistische Gesellschaft bedroht ist". Sie sei im Gegensatz etwa zu seinem Land nicht in der Lage, die sozialen Probleme der Völker zu lösen. Sie werde von Massenarbeitslosigkeit in den kapitalistischen Industriestaaten geplagt, sie verschulde den Ruin der Bauern, den Untergang ganzer Regionen durch Betriebsstilllegungen, die neue Armut und viele Erscheinungen des moralischen und geistigen Verfalls, die aller äußerliche Glanz dieser Gesellschaft nicht verbergen kann."
Es ist der Sound der Theveßens, der Brinkbäumers, Hofreiters, Maas und Baerbocks, die auf der dünnen Wassersuppe der Anmaßung schwimmen und mit 75 Jahren geschenkter Demokratie im Rücken voller Leidenschaft Belehrungen an die 250 Jahre alte Demokratie verteilen, das sie ihnen geschenkt hat. Kurt Hager würde sich bestätigt fühlen, war er doch 1987 der Meinung, dass Meinungsverschiedenheiten im kapitalistischen Lager auch nicht offener diskutiert würden als im sozialistischen. "Immer wieder wird man davon überrascht, wie lange Meinungsverschiedenheiten von NATO-Staaten unter der Decke ausgetragen werden", sagte er. Und "Mit großen Tamtam werden sie dann plötzlich ans Licht gezerrt, zum Teil erst, wenn sie die heiße Zone der Auseinandersetzung überschritten haben."
Demokratie Marke DDR
Den grundlegenden Dissens zwischen der DDR und ihrer Schutzmacht im Osten wollte Hager nicht sehen. Die KPdSU sei bestrebt, die sozialistische Demokratie in der Sowjetunion zu vervollkommnen, doch sie "betrachtet, wie ich weiß, den von ihr eingeschlagenen Weg nicht als Modell für die anderen sozialistischen Länder". Was die DDR anbelange, bedeutet Demokratie, dass Millionen Bürger in Parteien und Massenorganisationen, in Volksvertretungen, verschiedenen Verbänden und Interessengruppen, gesellschaftlichen Kommissionen und Aktivs, in den Haus- und Wohngemeinschaften mitwirkten und ihre demokratischen Rechte wahrnähmen. "Diese Demokratie ist lebendig und wird ständig weiterentwickelt."
Hier zeige sich besonders deutlich, dass die sozialistische Demokratie, wie Lenin sagte, millionenfach demokratischer sei als jede bürgerliche Demokratie. Zwei Jahre bevor die letzte Phase der Existenz seines Landes begann, war sich Kurz Hager noch sicher, dass sich das Volk der DDR unter Führung der Arbeiterklasse zur sozialistischen deutschen Nation konstituiert habe. Eine Wiedervereinigung sei nicht denkbar, denn es sei nicht möglich, "zwischen Sozialismus und Imperialismus eine Einheit herbeizuführen".
Das passend geschliffene "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" belehrte ihn bald darauf eines Besseren.
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