Samstag, 22. Februar 2025

Neues Deutschland: Schütteln nach dem Doppelschock

Svenja Prantl und Hans Achtelbuscher hatten ein zum Teil hitziges Gespräch über die Lage Deutschlands nach den Bundestagswahlen.-

Er sitzt zurückgelehnt beim Kaffee, ein Buch von Peter Sloterdijk auf dem Schoß. Der Medienforscher und Regressionsspezialist Hans Achtelbuscher ist wenige Tage vor der Schicksalswahl tiefenentspannt. Der 56-jährige Entropieexperte hat alles schon gesehen, vieles erforscht und die Grund von Dingen verstanden, von deren Existenz viele andere nicht einmal etwas ahnen.  

Ende Januar hatte Achtelbuscher, der an seinem An-Institut für Angewandte Entropie in Frankfurt an der Oder zu Phänomenen wie dem Themensterben in den deutschen Medien und dem Einfluss  subkutaner Wünsche auf die berichterstattete Realität forscht, die Öffentlichkeit von seiner tiefen Enttäuschung wissen lassen, die ein Wahlkampf in ihm auslöste, der dem leidenschaftliche Demokratiebeobachter mehr Scheingefecht als wirklicher Meinungsstreit zu sein schien. 

Seitdem hat sich vieles geändert, Dinge sind in Bewegung geraten, selbst Parteien haben versucht, sich zu bewegen. Achtelbuscher, in Seidenhemd und Hose mit Fahrradklipsern an den Beinen, ist elektrisiert, "ein wenig zumindest" wie er einräumt. So vital kenne er Deutschlands Demokratie seit Jahrzehnten nicht mehr."Mir scheint es fast, als sei der bleierne Staub der schweren Merkeljahre ein wenig weggeweht."  Wem der Wissenschaftler die Verantwortung dafür zuschreibt, erzählt er im Gespräch mit PPQ-Kolumnist Svenja Prantl.

PPQ: Herr Achtelbuscher, als wir uns das letzte Mal zu einem Gespräch über den aktuell laufenden Wahlkampf zusammensetzten, erzählten Sie, dass Ihr Eindruck der eines großen Loches ist, das ich langsam aber zuverlässig mit Nichts fülle. Hat sich viel getan im Wahlkampf? Haben Sie noch einmal grundlegend gewechselt? Müssen Sie Ihr Urteil jetzt revidieren?

Achtelbuscher: Nun, ich muss sagen, dass mich diese jähe Wendung, die wir da erlebt haben, richtigerweise müsste man sagen, es waren mehrere jähe Wwendungen, schon ein wenig auf den falschen Fuß erwischt hat. Es war bis dahin so, dass ich alle Parteien auf eine Art Nichtangriffspakt geeinigt sah. Man schien entschlossen zu sein, dem Wähler die Wahl zu lassen zwischen der Ungewissheit, die ihm mit der einen Partei droht, oder aber der Ungewissheit, die mit der anderen zu erwarten ist. Es waren dann offensichtlich eher äußere Einflüsse, die diesen Nichtangriffspakt auflösten. Bücher: Das müssen Sie uns erklären. Wir hatten den Ampelbruch, wir hatten danach gegenseitige Bezichtigungen, wer woran genau schuld sei, und wir hatten dann die Klage, dass in so kurzer Zeit ohnehin nicht gewählt werden könne, und es brauchte damals auch noch 3 Milliarden sofort, um einen Notstand zu verhindern. 

PPQ: Wie kam es dann dazu, dass Sie jetzt sagen, mittendrin ist etwas geschehen, dass all diese Gewissheiten hat zerbrechen lassen?

Achtelbuscher: Schauen Sie zurück auf den Jahresanfang; wir hatten einen Wahlkampf, der war ähnlich tiefgefroren wie die Temperaturen zuletzt in Deutschland. Und dann kam es, wie es kommen musste: Nichts lief nach Plan. Lassen Sie uns der Einfachheit halber einen Blick auf die Wahlplakate bzw. die Motive der Wahlplakate werfen, die ja von den Parteien bereits seit vergangenem Sommer langfristig vorbereitet worden waren. Wir lesen sehr viel vom Mindestlohn, wir lesen von Versprechen in Richtung Klima, aber nichts davon, das sehen Sie sofort, wenn Sie mit dem Wissen von heute auf diese Parolen schauen, hat in irgendeiner Weise etwas damit zu tun, worüber im Wahlkampf letztlich gesprochen wurde. 

PPQ: Da bin ich mir nicht so sicher, ob man das so absolut sagen kann. Sicherheit stand doch auf allen Plakaten. 

Achtelbuscher: Nun, Sicherheit im globalen Sinne. Die SPD hat Sicherheit bei Mindestlohn und bei den Mieten versprochen, die CDU eine sichere Energieversorgung etc. Es ist ja dann doch eher die Sicherheit konkreter Art, nach der die Wählerinnen und Wähler nach den Anschlägen in Aschaffenburg, München und Magdeburg verlangten. Die Parteien waren schon überrascht. 

PPQ: Meinen Sie wirklich, dass dieses Jahr, das doch latent immer mitschwingende Thema seit Jahren mitschwingende Thema, die Wahlkampagnen zentral wirklich überrascht hat? 

Achtelbuscher: Zweifelsohne, natürlich. Gemeinsam, wahrscheinlich stillschweigend, aber vielleicht auch in kleinen Gesprächen hinter verschlossenen Türen, darauf geeinigt, all diese Themen nicht zu thematisieren. Also die Migration, das weite Feld, das wirtschaftliche Niedergang – all das sollte schön außen vor bleiben. Wie leidenschaftlich darum gestritten wurde, wer nun genau die Ampel mit welchem hinterlistigen Plan hatte platzen lassen, das war der Wahlkampf, auf den sich alle eingerichtet hatten. 

PPQ: Es kam dann jedoch unverhofft anders. 

Achtelbuscher: Ja, wir sprechen da von einem externen Schock, in diesem Fall sogar von mehreren externen Schocks, mit denen so niemand gerechnet hatte. Natürlich haben alle befürchtet, dass etwa, nachdem Donald Trump in den USA zurück ins Amt gekommen war, die demokratischen Parteien in Deutschland darin schon eine Art des amerikanischen Wählers in den Idealen sahen, die die beiden Administrationen ja durchaus mit den europäischen Regierungen geteilt hatten. Auch nicht mit allen, wenn z.B. nach Ungarn, wenn wir in die Niederlande oder auch nach Tschechien schauen. Dass die zuletzt so viel beschworene Disruption durch den neuen alten Mann im Weißen Haus dann in einer solchen Geschwindigkeit Fahrt aufgenommen hat, kam sicherlich für alle überraschend. Ich muss sagen, auch für mich, der ich die Szenerie ja seit Jahren wissenschaftlich begleite. Ich sage Ihnen heute, die Überforderung, die sich in der Politik bereits seit Jahren abzeichnet, eine selbstverschuldete Überforderung übrigens, hat dazu geführt, dass ich die Akteure jetzt auch selbst überfordert fühle. 

 PPQ: Was meinen Sie mit "Überforderung"? 

Achtelbuscher: Nun, die Politik hat sich im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte immer mehr Aufgaben auf den Tisch gezogen, um die eigenen Apparate weiter auszubauen. Sie müssen wissen, eine Struktur, egal, ob das jetzt ein Mineral oder ein anderer Werkstoff ist, tendiert immer zum Selbsterhalt durch den Versuch, sich selbst größer zu machen. Je größer eine Struktur ist, desto geringer ist die Gefahr, dass sie durch äußere Einflüsse zerstört wird. Das hat die Politik zuletzt dazu getrieben, sich als planwirtschaftliche Oberbehörde zu fühlen, die sämtliche Lebensbereiche aufzufassen versucht. Man hat versucht, in die Heizungskeller zu regieren, man hat versucht, Planzahlen vorzugeben, wann, wer, womit, wohin fährt und wie viel, wie, wo und wann Industrien gestaltet werden, welche Technik zu benutzen ist. Man wollte weltweit gerade Linien ziehen, die als eine Art Leitplanken funktionieren, um den Fortschritt zu kanalisieren. Das sind natürlich Vorstellungen, die in einer Demokratie schlechterdings nicht umsetzbar sind. 

PPQ: Das war aber nichts, worüber im Wahlkampf anfangs gesprochen wurde.

 Achtelbuscher: Es wird bis heute nicht darüber gesprochen, wenn wir ehrlich sind. Jetzt geht es eher darum, sich in neue Bedingungen einzufinden, von denen noch niemand sagen kann, wie genau sie gestaltet sein werden. Sie sehen das bei den Grünen, sie sehen es bei der SPD, dort etwas weniger, sie sehen es aber vor allem bei CDU und FDP. Die Grünen haben ihren Klimawahlkampf, der sie ja so erfolgreich gemacht hat, vor wenigen Jahren vollends über Bord geworfen. Sie sind jetzt unterwegs in Sachen Sicherheit, sie sind unterwegs in Sachen Gerechtigkeit – gut, das ist ein Stammthema –, aber sie sind auch unterwegs in Sachen Bezahlbarkeit. Diese Themen sind keine grünen Themen an sich. Bei der CDU ist es etwas anders; die CDU versucht, die Segel so zu drehen, dass der Wind aus Amerika ein wenig von hinten bläst. Das Gleiche kann man auch von der FDP sagen, die relativ verzweifelt bemüht ist, noch einmal Fahrt aufzunehmen, und um diesen vielleicht wirklich letzten schicksalhaften Kampf um den Wiedereinzug in den Bundestag und damit die Bewahrung der Stabilität der Partei zu sichern. 

PPQ: Mit wenig Erfolg, wie es scheint.

Achtelbuscher: Bei den meisten ja. Auf der anderen Seite kann man bei den Linken zum Beispiel genau sehen, wie eine Absage an die Realität doch noch Punkte bringen kann. Weil, wenn alle plötzlich nach wirtschaftlicher Vernunft rufen und danach, wie sich was bezahlen lässt, derjenige eine sichere Zielgruppe hat, der solche Rücksichten fahren lässt und sich ganz darauf konzentriert, den Menschen zu versprechen, es werde schon irgendwie werden, es sei ja immer geworden, man müsste nur an der richtigen Stelle Reichtum einsammeln und ihn auf alle anderen verteilen. Nur die falschen – gerade für die SPD ist das eine sehr schwierige Situation, denn sie ist die Partei, die eine wirtschaftliche Vernunft ja immer noch kombiniert hat mit der Zusicherung, dass das, was am Ende rauskomme, dann schon zu denen verteilt werde, die es verdient hätten. Aber, nichts mehr da, was irgendwo rauskommt. Das hat der scheidende Kanzler auch seit Monaten betont, um die Möglichkeit zu geben, sich von den Kindern und Enkeln zu borgen, was heute an allen Ecken und Enden fehlt.

PPQ: Vorhin sprachen Sie aber von mehreren Schocks?

Achtelbuscher: Da wäre also der eine Schock, die Abwendung Amerikas bzw. die Aufforderung Amerikas, sich wie immer dem amerikanischen Vorbild anzupassen und bestimmte Dinge anders zu handhaben als es bisher üblich war. 

PPQ: Was sind denn aber die anderen Schocks? 

Achtelbuscher: Damit meine ich natürlich absolut diesen Einbruch des Terrors in den Alltag der Wählerinnen und Wähler. Das hatte wohl niemand auf dem Schirm, dass es dazu kommen könnte. Entsprechend hat man ja zuletzt auch versucht, Russland dafür verantwortlich zu machen. Nun, das ist abwegig, aber es wird den ein oder anderen doch getröstet haben, dass dort nicht Unerwartetes passiert ist, sondern genau das, wovor die Geheimdienste zuvor nebulös gewarnt hatten. 

PPQ: Damit wäre aber doch alles wieder im Lot?

Achtelbuscher: So einfallsreich das scheint, beim Kampf um Wählerstimmen hilft das freilich nur bedingt, denn dort ist es so, wie es früher oder auch zuletzt in den USA immer wieder bemerkt wurde: "It's the Economy, stupid." Es geht im Moment, in denen Menschen fürchten, wirtschaftlich abzusteigen und Wohlstandsverluste nicht nur hinzunehmen, sondern sie auch offenen Auges anschauen zu müssen, immer darum, wer verspricht, dass es wieder besser wird. In dieser Beziehung kann natürlich die CDU vor allem davon profitieren, dass sie eben nicht regiert hat in den Jahren, in denen es so steil abwärts ging, während SPD, Grüne und FDP sich zu schreiben lassen müssen, dass sie es waren, die in den entscheidenden Jahren die entscheidenden Fehler gemacht haben. 

PPQ: Der Elefant im Raum ist allerdings blau. Es handelt sich um die in Teilen als rechtsextrem gelesene AfD, diese Alternative für Deutschland, die ohne zu regieren im Grunde genommen seit langem mitregiert. 

Achtelbuscher: Das ist richtig. Bei aller Diskussion um die Brandmauer ist es in Wirklichkeit natürlich so, dass Themen, die alle anderen vermeiden, genau die Themen sind, auf die sich eine Kraft stürzen kann. Maulwürfe nicht angeschlossen haben. Es war langfristig klar, dass diejenigen, die darauf setzen, dass man 80 Prozent der Bevölkerung zufriedenstellt und 20 Prozent der Bevölkerung ignoriert, nicht durchhalten. Das hat noch nie funktioniert. Normalerweise reichen schon fünf bis sieben Prozent, um gesellschaftliche Veränderungen anzuschieben. Und wenn es dann kommt, wie es hier ja gekommen ist, wir alle haben das bitte erfahren müssen, dass es eben mein Geld fehlt, dass die Infrastruktur bröckelt, dass die Firmen schließen, dass die Firmen, die nicht schließen, Arbeitsplätze in Größenordnungen abbauen, dann stehen sie auf einmal da und müssen zugeben und sich eingestehen, dass diese, die sie bekämpfen wollten, nur immer stärker werden, während sie selbst immer mehr an Kraft verlieren. 

PPQ: Daraus resultierte ein weiterer schwerer Schock. 

Achtelbuscher: Es war nur eine kleine Rede, die der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance in München hielt, aber es war eine historische Zäsur, die damit eingeleitet wurde. Sie müssen sich vorstellen, die USA halten seit 75 Jahren ihre schützende Hand über Europa, vor allem über Deutschland. Ein amerikanischer Regierungsvertreter, quasi der zweite Mann im größten, wichtigsten Partnerstaat Deutschlands, sagt: "Weitermacht wie ihr im Moment unterwegs seid, dann verliert ihr uns als Verbündeten." Er macht das konkret fest an Einschränkungen der Meinungsfreiheit. 

PPQ: Eine Petitesse im Land von Gestapo und Stasi, Hausbuch und Trusted Flaggern, sollte man meinen.

Achtelbuscher. Richtig, aber da haben wir unser Problem. Nun, Meinungsfreiheit sagen im Moment wohl 70 Prozent der Deutschen sagen: "Meinungsfreiheit, das ist mir nicht so wichtig, wichtig sind mir andere Werte, niedrige Preise, ein sicheres Leben, was auch immer. Wenn der amerikanische Vizepräsident uns also damit konfrontiert, dass der Umgang mit der Meinungsfreiheit einen doch früher einmal recht zentralen Wert betrifft, dann interessiert das kaum einen Wähler. Schauen Sie nur, wie die Anmerkung, ausgerechnet die FDP, von der man sich das heute überhaupt nicht mehr vorstellen kann, sich von diesem für sie einst zentralen Thema vollkommen freigemacht hat, weil es einfach keine Wählergruppe gibt, der das wichtig ist. Wenn also dieser zentrale Wert umstritten ist zwischen der Führungsmacht der westlichen Welt und Europa, und die Schutzmacht sagt, macht es wie immer wie wir, oder wir sind weg, dann kann kaum regierender Politiker Ja sagen, weil mit einem Eintreten für die Meinungsfreiheit in Deutschland traditionell nichts zu gewinnen ist.

PPQ: Man könnte doch einfach, wie immer, das Boot wechseln und in der anderen Flotte mitfahren. 

Achtelbuscher: Das geht so einfach nicht. Dazu haben sich die Parteien so sehr darauf versteift, den Kampf gegen den Popanz zu führen, den Sie die rechte Gefahr nennen, dass ein einfacher Bootswechsel oder, wie ich es nenne, ein Pferdewechsel, in dieser Situation nur zu neuem Misstrauen führen würde. Also, jemand, der immer gesagt hat, das Wichtigste sei, dass die Meinungsfreiheit vom Staat überwacht wird, kann nicht auf einmal sagen: "Das war mir nun doch nicht so wichtig; mir ist es wichtiger, mit den Amerikanern gut Freund zu bleiben." Die deutsche Grundstimmung war immer anti-amerikanisch, unterschwellig lange. Aber seit die deutschen Medien sich mit Musk und Trump Figuren gefunden haben, auf die sich wirklich nach Herzenslust einprügeln lässt, kommen die Urreflexe wieder ungehindert zum Vorschein.

 PPQ: Und daher glauben Sie, dieser barsche Umgang Europas mit dem Angebot aus Amerika, weiter an der Seite der EU zu stehen und weiter als verlässlicher NATO-Partner zu fungieren, wenn man in Brüssel, Berlin und Paris also Einsicht zeigt, dass weitgehende Einschränkungen der Meinungsfreiheit ein Verrat an den gemeinsamen Werten sind? 

Achtelbuscher: Ja, das ist jetzt natürlich das große Kunststück. Wie sage ich es meinem Kinde? Wie kann die Politik in Deutschland, hier haben wir jetzt gerade die Schicksalswahl, ihren Kurs so unauffällig ändern, dass es nicht heißt, sie verrät sich selbst? Sie wissen, dass das Vertrauen von Wählerinnen und Wählern in die Fähigkeiten der Politik und in das derzeitige Spitzenpersonal aller Parteien so niedrig ist, wie es vermutlich noch nie gewesen ist. Und sie wissen, das würde noch schlimmer, würden sie umkippen in diesem Punkt. Denken Sie an Gerhard Schröder. Der hat mal eine Wahl gewonnen, weil er den Amerikanern gesagt hat: Nein, machen wir nicht mit.

PPQ: Schröder konnte da, er war so anerkannt, dass ihm nur wenige Antiamerikanismus und ein Wahlkampfmanöver vorwarfen. Warum also nicht auch heute prinzipenfest bleiben?

Achtelbuscher: Fachkräftemangel. Keine Partei hat einen wie Konrad Adenauer, wie Brandt oder Kohl oder Schröder, dem die Menschen zutrauen, dass er aus sich selbst heraus aufgrund veränderter Bedingungen veränderte Urteile fällt. Nein, das Personal ist schwach, und ein schwaches Personal braucht eine starke Ideologie, um nach außen hin stark zu wirken. Ideologie aber ist nicht biegsam. Sie bricht, wenn sie überstrapaziert wird.

PPQ:  Das klingt sehr absolut.

Achtelbuscher. Das ist es. Das ist eine historische Gesetzmäßigkeit, in der Medienwissenschaft längst ausgiebig erforscht. Wenn Sie eine Führung haben, die von den Menschen nicht mehr für stark gehalten wird, fällt der ganze Laden auseinander. Schauen Sie nur 35, 36 Jahre zurück. Sie werden in der DDR eine sehr vergleichbare Situation sehen: Damals hat sich in Moskau mit der Übernahme des Regimes durch Michail Gorbatschow Grundsätzliches geändert. Die alten, klassischen Lehrsätze der kommunistischen Gründerväter waren nicht mehr der Heilige Gral; sie durften in Frage gestellt und von jedermann diskutiert werden. Es wurden dunkle Flecken in der Geschichte beleuchtet und neue Saiten aufgezogen. In Ostberlin aber sagten die Machthaber, ähnlich wie jetzt die Machthaber in der EU oder in der noch amtierenden Bundesregierung, breitbeinig zu ihrem Volk: Das interessiert uns nicht, wir halten an den althergebrachten Sitten fest. Für uns gilt weiterhin, was immer galt. Und wenn der Hund nicht mehr mit dem Schwanz wedeln will wie bisher, dann werden wir der Schwanz jetzt mit dem Hund wedeln.

PPQ: Eine recht absurde Vorstellung. 

Achtelbuscher: Aber natürlich eine sehr, sehr absurde Vorstellung, denn Sie müssen sich vorstellen, wir reden hier ja nicht von einem Schwanz, wir reden von 27 Schwänzen. Wenn Sie es genau betrachten, hat Emmanuel Macron mit seiner Einladung an die europäischen Partner, von denen nur acht ein Einladungsschreiben erhielten, gezeigt, wie gespalten die EU auch in dieser Frage wieder ist. Da gibt es die, die gern so weitermachen würden wie bisher, da gibt es die, die im Moment gar nichts machen können, weil sie überhaupt nicht wissen, wie es bei ihnen weitergehen soll, dann gibt es die, ich nenne sie mal "Failed States" wie Rumänien, von denen überhaupt niemand weiß, wer jetzt eigentlich wen betrogen hat und warum. Die Kiste ist verfahren, das wird sich auch am kommenden Sonntag nicht ändern. 

PPQ: Sie klingen da sehr skeptisch, fast pessimistisch. Aber wir werden doch nach der Wahl, nach dem Wahltag, zweifelsfrei neue Mehrheiten haben?

Achtelbuscher: Vielleicht, aber auch diese werden Ausdruck eines gesellschaftlichen Bruchs sein. Die Kräfte der Beharrung, interessanterweise sind das inzwischen die Kräfte, die sich selbst als progressiv bezeichnen, und die Kräfte, die bereit wären, einen Neustart zu wagen, weil jeder weiß, dass auf die Art wie bisher nicht mehr lange weitergehen kann, stehen sich als zwei fast gleich große Blöcke gegenüber. Das ist wie ein kalter Krieg. Zum Beispiel setzt ja Friedrich Merz darauf, dass er die SPD in einer Regierung eine Art kleine große Koalition wird zwingen können, indem er der Partei klarmacht, dass es keine Alternative zu entschlossenem Handeln, zu tiefen Einschnitten und grundlegenden Reformen gibt. Nur wenn die SPD dem zustimmt, begibt sie sich in eine Situation, in der sie von einem großen Teil ihrer Wähler als eine Art kleine CDU wahrgenommen wird. Eine SPD, die nicht mehr Mindestlohn, soziale Gerechtigkeit, Mietbremse und die Verschiebung von heutigen Lasten in die Zukunft propagiert, ist überflüssig. Sie würde dann vielleicht in vier Jahren nur noch sieben bis acht Prozent der Wähler überzeugen, genau diejenigen, die, lassen Sie es mich so grob sagen, gar nichts mehr mitbekommen. Das ist natürlich für eine Parteiführung keine Perspektive.

 PPQ: Hat die SPD denn eine Alternative? 

Achtelbuscher: Ich bin froh, dass Sie das fragen, aber ich kann es Ihnen nicht sagen. Die einzige Möglichkeit, über die nächsten Jahre zu kommen, ist, in der Regierung aktiv zu bleiben; nur dort kann man gestalten. Denn auf den Oppositionsbänken wird sich die SPD verlieren, auf jeden Fall an die Linken, wenn sie reinkommen, denn deren soziale Forderungen werden immer deutlich krasser sein. Dann ist da das BSW, das immer deutlich mehr für den Frieden eintreten wird, und die Rechtsradikalen, die immer die größeren Volkslautsprecher sein werden. Dort kann die SPD nichts gewinnen. In einer kleinen großen Koalition mit der Union wäre es vielleicht möglich, dass sie ihr soziales Profil schärft, vielleicht über eine Abmachung mit Friedrich Merz, dass er mit wirtschaftlicher Strenge und kühlen Verstanden zu punkten versucht und den Sozialdemokraten dafür das soziale Feld bestellen. Aber man weiß ja noch gar nicht, wer das dann sein wird, die SPD. Und sicher ist, dass es keine Wohltaten mehr zu verteilen gibt. Vielmehr geht ja eher darum, dass Wohltaten, die man glaubte geben zu müssen, um die Leute ruhig zu halten, wieder einsammeln muss.




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