Sonntag, 23. Februar 2025

Abschied von der Aktentasche: Der Opfergang des Olaf Scholz

Fotos bei der Abschiedsfeier waren untersagt. Der junge Maler Kümram aber hat die berührenden Szenen des Abschieds der SPD von itrhem Kanzler aus der Erinnerung gemalt.

Tief senkten sich die EU-Fahnen beim Abschied vom großen Europäer Helmut Kohl. Tief verneigten sich die besten Vertreter der demokratischen Mitte, als Angela Merkel aus dem Amt schied, eine Lücke hinterlassend, die durch nachströmendes Vakuum letztlich den Ukrainekrieg auslöste. Nur Gerhard Schröder, der Kanzler der Herzen der Neoliberalen, musste in jüngster Zeit auf einen Abschied  mit Pomp und Panade verzichten. Zu nahe war der Sozialdemokrat dem Diktator im Kreml gekommen. Zu groß der Verdacht, dass er etwas mit Nord Stream zu tun haben könnte.

Nach dem tiefen Fall

Die deutsche Sozialdemokratie, sie hat aus dem tiefen Fall ihres früh am Wählervotum gescheiterten Regierungschefs aus Niedersachsen Lehren gezogen. Hinter Olaf Scholz, dem Nachfolger von Merkel und damit auch dem von Schröder, blieb die Partei fest untergehakt bis zum letzten Augenblick. Niemand meldete Zweifel am Kandidaten an, nachdem der entschieden hatte, dass er der beste Anwärter unter allen verfügbaren sei. Niemand bemängelte Scholzens angeborene und kaum mehr verhohlene Ich-Funktion, die ihn sich über die älteste deutsche Partei stellen ließ und die stolze deutsche Sozialdemokratie zu einem Kanzlerwahlverein herabwürdigte.

Kein anderer Mann neben ihm, keine Frau, kein Schattenkabinett für künftige Großtaten. Olaf Scholz kämpfte allein gegen alle, mit der sprichwörtlichen Aktentasche, aber oft mit offenem Kragen. Niemand sollte, so das sorgsam geheimgehaltene Kalkül des vierten vor der Zeit gescheiterten SPD-Regierungschefs, mit in den Abgrund gezogen werden, wenn der Wähler die Bundestagswahl nutzt, um das erwartete Strafgericht über die "Versager in Berlin" (Sahra Wagenknecht) hereinbrechen zu lassen.

Scholz steht für den Neuanfang

Scholz steht für den Neuanfang, und er steht ihm nicht im Wege. Längst schon hat der 66-Jährige klargemacht, dass er nicht über das gesetzliche Rentenalter hinaus weiterarbeiten werde. Frische, junge Kräfte in der Partei wie 64-jährige Boris Pistorius sollen übernehmen und die SPD wieder groß machen. Klug gelenkt von Parteichef Lars Klingbeil, dem Architekten der Wahlkampfstrategie, mit der es Scholz wahrscheinlich gelingen wird, für seine Farben das schlechteste Wahlergebnis  seit 1887 einzufahren.

Der rechte "Focus" hat die SPD schon aussortiert.
Ein Opfergang, den Olaf Scholz ganz allein hinter sich bringen musste. Um die Reste der Partei zu schützen, fixierte der altgediente  Funktionär alles auf sich: Er war das Programm der SPD. Er war der, der "Mehr für Dich" versprach. Er strahlte als Gesicht der gescheiterten Öko-Ampel von den Großplakaten, auf denen eine Werbeagentur Bundesworthülsen willkürlich zusammengewürfelt hatte. "Mit Sicherheit mehr Wachstum", "Mit Sicherheit mehr Netto" und "Mit Bumms zum Wumms" - näher dran am Fühlen eines Volkes, dass es leid ist, für dumm gehalten zu werden, war noch kaum eine Kampagne irgendeiner Partei seit die SED "Alles für das Wohl des Volkes und den Frieden" plakatierte. 

Heere von Mitarbeitern

In der SPD sind sie ihrem scheidenden Anführer dankbar für diesen allerletzten Dienst. Zu verlieren ist schrecklich, gerade in der Politik. Es gehen Druckposten verloren, ganze Regimenter von Abgeordneten und Heere von Mitarbeitern müssen sich neu orientieren, der Zugriff auf staatliche Ressourcen schwindet, die Einladungen in Talkshows werden rarer. Wenn dann nicht jemand da ist wie zuletzt Martin Schulz, dem das Parteivolk die Verantwortung für den Niedergang zuschieben kann, kommt es zu internen Verteilungskämpfen, strategischen Schlachten um die künftige Ausrichtung und - die Linkspartei SED hat es erlebt - im schlimmsten Fall zur Abspaltung unzufriedener Randgruppen.

Schulz, ein ausgesprochener Egomane, der jede Medienhymne, die ihn über den grünen Klee lobte, bis zuletzt glaubte, musste damals aus dem Willy-Brandt-Haus getragen werden. Erst als die Partei dem heute 69-Jährigen zusicherte, er dürfe Vorsitzenden der Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD werden, gab Schulz seinen verwegenen Plan auf, nach dem Niedergang der Partei auch deren Neuaufbau selbst in die Hand zu nehmen. Scholz ist da anders - er hatte seine Zukunftspläne insgeheim schon aufgegeben, als der Wahlkampf begann. Sein einziges Ziel: In Würde gehen. Die Schuld aufrecht auf  sich nehmen. Und der Partei einen Neuanfang mit alten Köpfen wie Kingbeil, Pistorius, Geywitz, Heil, Mützenich und Miersch gestatten.

Dankbarkeit für den Scheidenden

Dafür sind sie dankbar. Dafür sind sie heute alle nach einmal zu einer vorgezogenen Abschiedsparty ins Willy-Brandt-Haus gekommen. Trauernde allen Teilen Deutschlands und aus allen Parteiebenen, Delegationen befreundeter Parteien aus der ganzen Welt und aus Europa, sogar Saskia Esken, die Scholz ein Leben lang in so leidenschaftlicher Abneigung verbunden war, dass selbst der höfliche Kanzler in einem Moment der Schwäche Gefühle zeigte.  Sie stehen Spalier mit ihren Blumengebinden in der großen Halle des Volkes, um einem Giganten der Staatskunst, einem globalen Moderator und altgedienten Demokraten die letzte Ehre zu erweisen: Ja, Olaf Scholz geht. Aber er geht ungebeugt, geschlagen zwar, aber aufrecht im Wissen, alles gewollt zu haben, doch nicht gewollt zu sein.

Die Bilanz des Niedersachsen, der genauso oft für einen Hamburger gehalten wird wie die Hamburgerin Angela Merkel für eine Ostdeutsche, kann sich sehen lassen. Was hat der körperlich eher kleine Mann doch für tiefe Fußabdrücke in der Weltgeschichte hinterlassen!, murmelt so mancher beim Abschiedsgottesdienst in der Arbeiterkapelle unter dem prächtigen Atrium mit dem Bronzebildnis Willy Brandts. Er war es, der die globale Mindestbesteuerung durchsetzte, die Donald Trump später aufkündigte. Er gründete den Klimaklub, der noch im Kindbett verstarb. Er war es, der Millionen das Klimageld versprach und ihnen so Hoffnung machte. Er war je nach Bedarf in der Rolle als intersektionaler Feminist zu erleben oder als beinharter Pazifist. Er steht nun da, umringt von seinen Bewunderern. Und kann sich vor Glückwünschen kaum retten.

Fast wie ein Märchen

Er mutet fast wie ein Märchen an, dieser doch für viele schmerzhafte Abschied von der Macht nach so vielen so erfolgreichen Jahren in der Bundesregierung. 23 der letzten 27 Jahre hat die SPD regiert oder mitregiert, sie hat zwei Kanzler gestellt, einen mehr als die CDU. Und sie hat aus der Exportnation Nummer eins weltweit, auf dessen industrielle Stärke die anderen Völker und Länder  neidisch schauten, einen Staat gemacht, der von hinten führt, durch ein Beispiel des Niedergangs und der Depression, das noch brauchen wird, um Schule zu machen.

Hier im Brandt-Haus, ein siebengeschossiger Bau, der Anfang der 90er Jahre in heute unvorstellbar kurzen zwei Jahren auf einem spitz zulaufenden Grundstück errichtet worden war, spielt eine Schalmeienkapelle, auch Liedermacher singen in den Gängen und Demoskopen haben ihre Stände aufgebaut. Das Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl sein  nicht optimal gewesen, trösten die Experten dort auf Wunsch. Aber die im Branchensprech "flache Erfolgskurve" gebe nun deutlich Raum für explosive prozentuale Steigerungen.

Noch einmal die Hand drücken

Wem das zu danken ist, wissen sie alle, die Kreis- und Ortsfunktionäre, die prekär Mitarbeitenden der ehemaligen Abgeordneten, die Statthalter aus den Provinzen, die dort die nie von jemandem aus dem normalen Leben besuchten Wahlkreisbüros durch das regelmäßige Einschalten des Lichts lebendig gehalten haben. Alle wollen ihrem geschätzten Bundeskanzler Olaf Scholz noch einmal die Hand drücken an diesem Tag. Alle wollen ein paar herzliche Worte des Dankes loswerden, gerade hier, in einem Haus, dessen Architektur deutliche Anklänge an die Klassische Moderne atmet und damitunwillkürlich an die 20er und frühen 30er Jahre erinnert, als schon einmal nicht gut stand um die deutsche Sozialdemokratie.

Nie wieder ist hier, unter dem teilweise begrünten Dach mit 300 Quadratmetern Solarzellen, die zeigen, dass es die SPD ernst meint mit der Klimarettung, denn die Energiespender bedecken fast neun Prozent der Dachfläche. Unten drunter, in den lichtdurchfluteten gläsernen Gängen, haken sie sich noch einmal unter, die kleinen und großen Funktionäre, die, die schon einmal draußen im wirklichen Leben waren, und die, die in der geschützten Blase des Parteiapparates aufgezogen wurden, um ees später einmal beser zu haben. Das große Abschiedsfest verläfuft in gedämpfter Stimmung. Das Willy-Brandt-Haus ist festlich, aber nicht fröhlich geschmückt. Geschmackvolle bunte Girlanden erinnern an die Vielsfaltsjahre der Partei, Blumenarrangements, die den Raum in ein Meer aus Farben verwandeln, zeigen die tiefe Verbundenheit mit Natur und Umwelt.

Schmissige Songs zum Abschied

Immer wieder spielt die traditionelle Schalmeienkapelle, angereist aus dem Erzgebirge, das einst auch eine Hochburg sozialdemokratischer Überzeugungen war, das alte sozialdemokratsiche Abschiedslied "Am Ende wählt niemand die SPD" und den schmissigen Song "Goodbye, SPD". Die Gäste prosten sich entspannt zu, und sie jubeln, als der Held des Tages in seinem bekannten  dunklen Anzug, mit der Aktentasche unter dem Arm und mit einem Strauß roter Rosen in der Hand aus dem Backstage-Bereich heraustritt, mit dem Blumenstrauß wirkend als symbolischer Dank für die Liebe und Treue der Partei.

Olaf Scholz redet in seirnr bekannten Artz nicht drumherum. "Das wird heute ein Abend, der schmerzt", prophetzeit der erfahrene Funktionär und Menschenfischer seinen Genossen. Eine Niederlage sei eine Niederlage, "und es wäre unredlich, das schönzureden", räumt Olaf Scolz unumwunden ein. "Doch ich habe gekämpft, gerungen, gestritten – und am Ende nicht genug Vertrauen gewinnen können." Das sei bitter nicht nur für ihn selbst, eröffne der Partei aber eine Tür in eine Zukunft, für die sie sich nun neu erfinden könne. "Genossinnen und Genossen, Freunde, Kreis- und Ortsfunktionäre", ruft Scholz der matt und konsterniert wirkenden Menge zu, "die Union ist nach ganz rechts außen gerückt, das macht uns betroffen." Doch die Linke, die mit saftigen Versprechen von Milch und Honig, die für alle fließen, wenn erst der letzte Wohlhabndere enteignet sei, einen Erdrutscherfolg bei den Wählern erzielt. "Warum soll uns das in vier Jahren nich auch gelingen?"

Stratege bis zuletzt

So ist er, dieser Kanzler. Bis zur letzten Minute Stratege, Wegweiser, Lehrer. Glücklich die, die in noch winterliche Berlin gekommen sind, um diesen historischen Moment mitzuerleben. Nein, dieser Scholz ist nicht der tragische Held einer Wahl, die genauso brutal verloren wurde wie es von Anfang an vorhergesagt worden war. Er ist der strahlende Held einer Ära, die zu früh endet und damit unvollendet bleibt. Das sozialdemokratische Jahrzehnt, es dauerte nur drei Jahre, doch was waren das für Jahre! Die jubelnde Menge der Funktionäre zeigt, wie viel Bewunderung dem vermeintlich gescheiterten Scholz zufliegt. Die Atmosphäre wirkt fast magisch, als sich nocheinaml auf die Scholz-Art unterhakten, einen großen Kreis bilden und einander beschwören, Respekt zu zeigen.

Olaf Scholz genießt den Moment der gemeinsamen Dankbarkeit füreinander sichtlich. Dann muss er los, die Elefantenrunde wartet. Die Schalmeienkapelle spielt nun ein langsames, feierliches Stück, während alle zusammen die "Internationale" singen, wie immer akzentuiert von den "Rot-Front"-Rufen des sozialrevolutionären Flügels. Fast scheint es, als ob die Zeit stillsteht, als ob alles erst anfängt. Noch einmal winkt Scholz, jetzt mit einem Strauß aus bunten Blüten, die den Neubeginn und die Hoffnung auf die Zukunft symbolisierten. Er schreitet ungebrochen aus dem Saal, fast scheint sich ein leises Lächeln der Erleichterung in seinen Zügen zu zeigen, die nach drei Monaten Wahlkampf deutliche Spuren der vielen Fernsehschlachten und Bürgerforen tragen.

Es ist vorbei, aber es ist lange nicht vorüber, niemand weiß das besser als Olaf Scholz. Sein Abschied ist der Beginn einer neuen Ära für die SPD, die startet, wenn heute nach 18 Uhr das Rennen um die Neuordnung der Machtverhältnisse und die Neuverteilung der wichtigsten Ämter und Posten beginnt.



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