Samstag, 1. Februar 2025

Sieg der Demokraten über die Demokratie

In der rechten Ecke: Unionskandidat Friedrich Merz hat nur wegen einer Sachfrage die Brandmauer beschädigt.

Der giftige Rauch aus dem Feuer an der Brandmauer zog schon in die Lungen der Gesellschaft. Annalena Baerbock konnte ihn riechen, denn "diese Bilder hallen nach", wie sie sagte. Es waren plötzlich wieder "Brunnenvergifter" unterwegs. Rolf Mützenich hatte sie selbst gesehen, wie er im Bundestag gestand, nur 72 Stunden nach der Gedenkstunde zum Jahrestag der Auschwitz-Befreiung. Erstmals seit 1990, als mit dem SPD-Abgeordneten Karl Ahrends das letzte frühere NSDAP-Mitglied den Deutschen Bundestag verließ, drohte wieder ein Gesetz mit den Stimmen Rechtsextremer beschlossen zu werden. 

Keine Zustrombegrenzung

Am Mittwoch noch hatte die Merz-Mehrheit für das im Gedenken an Angela Merkel auf den Namen "Zustrombegrenzungsgesetz" getaufte Gesetzeswerk gestanden. Merz schien auf dem besten Weg, den festen Bund mit der linken Mehrheit im Bundestag aufzukündigen. Alles Barmen und Betteln der möglichen künftigen Koalitionäre vermochten den Spätberufenen nicht zu erweichen. Er gehe diesen Weg, sagte Merz, ganz egal, wer ihm folge.

Die eigenen Leute waren es dann nicht, auch die um das Wohlwollen des CDU-Vorsitzenden buhlenden ehemaligen Liberalen fielen in der Stunde der Entscheidung zu Dutzenden ab. Merz, der sich angesichts zusehends trauriger werdenden Umfragewerte recht spontan entschlossen hatte, den seit Wochen auf Autopilot laufenden Schlafwagenwahlkampf mit einem Vabanque-Zug auf Neustart zu stellen, hatte als Tiger zu einem Trump-Sprung angesetzt. Sich nach dem ersten Etappensieg für seinen Erfolg entschuldigt. Und im Endspiel setzte er sich selbst Schachmatt.

Triumph der Demokratie

Zwölf Christdemokraten wandten sich ab und hörten lieber auf die Mahnungen der Kanzlerin im Ruhestand. Bei der FDP fiel gleich ein Drittel der Fraktion aus, krankheitsbedingt, schuldbeladen, aus Reue darüber, dass sie in einer Schicksalsstunde Sachfragen höher gewichtet hatten als die Frage, wer wo stehen muss

Das Ergebnis der Abstimmung wurde zum Triumph für unsere Demokratie, diese spezielle Spielart der Volksherrschaft, die sich durch eine klare Kategorisierung der Abgeordneten auszeichnet: Viele sind demokratisch. Andere auch gewählt. Aber wegen falscher Überzeugungen, falscher Ziele und einer teilweise nachgewiesenermaßen gesichert rechtsextremen Ausrichtung mit Hilfe einer Brandmauer dauerhaft auszugrenzen.

Merzens Manöver hätte aufgehen können. Allerdings hätte der Kanzlerkandidat der Union es gar nicht riskieren müssen. Uneinholbar lag er noch vor wenigen Tagen auf Platz eins Starterfeldes aus Spitzenkandidaten, die allesamt vermutlich niemand wählen würde, träte auch nur ein Politiker von Format an. Aber nirgendwo ist ein Adenauer oder Ehrhardt, Baum oder Brandt zu sehen, kein Schmidt, kein Strauß, kein Kohl und kein Genscher. Nicht einmal ein Gerhard Schröder bietet sich an, auch kein Joschka Fischer, Thomas Dehler, Manfred Kanther, Wolfgang Schäuble oder Klaus Kinkel.

Unnützes Risiko

Neben all den anderen Angetretenen war Merz die Wahl zum Kanzler eigentlich nicht mehr zu nehmen. Er hätte es sich nach dem 23. Februar nur noch aussuchen müssen, ob er wie immer mit der SPD oder zur Abwechslung mal mit den Grünen regieren will. Vier Jahre hätte das zweifellos noch funktioniert. Hier ein Kompromisschen, dort ein Versprechen. Eine Freibetragsgrenze da hoch, dafür eine Steuer dort. Die Schuldenbremse wäre geblieben, nur ohne Bremsscheiben. Die Bundeswehr hätte er leicht mit dem Bleistift kriegstüchtig bekommen können: Mit 200 neuen Fregatten aus der Reihe 126 würden sich 160 Milliarden Euro im Handumdrehen verpulvern lassen, um den deutschen Nato-Beitrag auf fünf Prozent des BIP zu treiben. 

Aber Friedrich Merz will nicht. Der Verdacht, dass der ehrgeizige Christdemokrat in Wahrheit zwar ein großes Interesse daran hat, es seiner Vorgängerin im Amt des Parteichefs noch mal richtig zu zeigen, aber ein sehr viel weniger großes, ihr im Kanzleramt nachzufolgen, wurde schon früh geäußert. Zu auffällig erschien es, dass Merz seine Strategie immer dann abrupt änderte, wenn sie Erfolg zu haben drohte. Mit seinem Angriff auf die Brandmauer, ausgeführt ohne vorherige demoskopische Analyse, setzte er dieser Taktik die Krone auf: Olaf Scholz und Robert Habeck, wegen ihrer Leistungsbilanz bis dahin ohne jede Chance, ihren Herausforderer inhaltlich zu stellen, sahen sich unverhofft zurück ins Rennen der Lahmenden, Angeschlagenen und Aussortierten geworfen.

Der Eimer Wasser steht

Der Mann, der gegen die erfolgloseste, übergriffigste und unbeliebteste Bundesregierung aller Zeiten antreten durfte, hat es nicht geschafft, den Eimer Wasser umzustoßen. Denn Friedrich Merz traf unglücklicherweise ausgerechnet auf den einen Menschen im ganzen Land, der seine Kanzlerschaft noch verhindern konnte: Friedrich Merz. 

Den Wirtschaftswahlkampf, den er hatte führen wollen und den er hätte führen können, haben ihm nicht die SPD und die Grünen kaputtgemacht, er erledigte das selbst. Auch das Trump'sche "jetzt alles auf Anfang", auf das zumindest Teile der Bevölkerung sehnsüchtig warten, hat Friedrich Merz selbst beiseite gewischt. Und dann hat die Migrationskarte nicht einmal gestochen.

Die Demokraten siegten, ein bisschen auch über die Demokratie. Der Sauerländer, dem die Kanzlerschaft gerade noch nicht mehr zu nehmen war, steht blamiert da. Die FDP, die vielleicht noch eine Chance gehabt hätte, irgendwie doch wieder in den Bundestag zu rutschen, hat sich als Partei gezeigt, die ihrem Chef noch weniger zu folgen bereit ist als die Unionsfraktion dem gemeinsamen Kandidaten. Die Mehrheit von 2021, zerfleddert, durch Neu- und Umgruppierungen zerrissen und zu großen Teilen vor dem Abschied aus dem parlamentarischen Leben, hat den status quo noch einmal betonieren können.

Klappt alles, wie es nicht klappen soll, wird Friedrich Merz nach der Wahl nicht mehr aussuchen müssen, ob er mit Rot oder Grün regiert. Er wird für eine Mehrheit beide brauchen.