Freitag, 28. Februar 2025

Koalition der Willigen: Da sind sie aber immer noch

Stabile Renten zur richtigen Zeit - darauf werden sich Union und SPD einigen können.

Da sind wir aber immer noch
Und der Staat ist noch da, den Arbeiter erbauen
Das Land, es lebt, es lebe hoch
Weil Arbeiter sich trau´n

Am Anfang ging da ein Gerücht
Daß der Wagen das nicht hält und die Achse schon zerbricht
Der Deutsche tät zwar seine Pflicht
Doch mit dieser Führung nicht

Da sind wir aber immer noch
Und als die Sache besser lief
Weil die Suppe nicht mehr dünn war und der Dreck nicht mehr so tief
Da war´s daß man vom Westen rief:
Ihr geht grade, doch der Weg ist schief!

Da sind wir aber immer noch
Und als die Welt es anerkannt
Springers Gänsefüßchen-Land zwischen Elb- und Oderstrand
Da kam die Bruder- und Schwesterhand
Lieber hätten sie uns überrannt

Da sind wir aber immer noch
Und wenn uns was zu Schaden ging
Da kam´s von nebenan - das wußten wir ja
Doch wenn uns was zu blühn anfing
Da war´n wir plötzlich nicht mehr da

Oktoberklub, 1979, Hartmut König, Gisela Steineckert, Gerd Kern, Fred Krüger

Natürlich der Vorsitzende, gerade aufgestiegen zum starken Mann einer Partei, die so schwach ist wie noch nie. Aber auch die Vordenkerin, die all das vor Jahren angeschoben und ermöglicht hat. Älter geworden, reifer und stiller, aber immer noch Sympathieträgerin, gerade weil sie aus den  Zurückweisungen, die sie in der männlich dominierten Parteiführung immer wieder hinnehmen musste, kein Drama gemacht hat.

Wie ihr Chefkollege Lars Klingbeil ist Saskia Esken eine der Verhandlungsvertreterinnen der SPD, die ab heute gefragt sind. Nicht nur, dass es um das Wohl und die Wehen des Landes geht, das nach drei Ampeljahren unter Führung der SPD wie von einem Bulldozer plattgefahren am Boden liegt. Nein, die beiden SPD-Vorsitzenden müssen auch dafür sorgen, dass ihre geschlagene, verwundete und konsternierte Partei im Zuge der Koalitionsverhandlungen das Gefühl bekommt, sie sei es, die schließlich doch noch gesiegt habe. Mit nicht einmal 17 Prozent.

Alte Bekannte, neue Ufer

Die SPD hat ihre Besten aufgeboten, eine alte Garde aus gewieften Genossen. Manuela Schwesig springt Lars Klingbeil und Saskia Esken bei, neben ihr werden Verteidigungsminister Boris Pistorius und Arbeitsminister Hubertus Heil, Generalsekretär Matthias Miersch, die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, die beiden Ministerpräsidentinnen Manuela Schwesig und Anke Rehlinger und der Chef der früher stets als "mächtig" beschrieben SPD aus Nordrhein-Westfalen sitzen, ein Mann namens Achim Post. Keine Überraschungen, das jüngste Blut auf dieser Seite des Tisches wird der Vorsitzende mitbringen. Lars Klingbeil ist erst 47, macht aber schon seit einem Vierteljahrhundert Politik. 

Mit so einem an der Spitze müssen die Arbeiter, muss die gesamte hart arbeitende Mitte nicht bangen. Es wird keine grundstürzenden Veränderungen geben, keinen Umbau, keinen Neustart, kein Kind muss fürchten, mit dem Bade ausgeschüttet zu werden. Schließlich ist das auch nicht im Interesse der Union, die in der künftigen Koalition zwar die größere Partei sein wird. 

CDU knapp vor der AfD

Aber groß sind die beiden Schwesterparteien auch nicht mehr: Die CSU schaffte es mit Ach und Krach und deutlich hinter der Linken in den Bundestag. Die CDU krönte den Siegeslauf ihres Spitzenkandidaten gegen den unbeliebtesten Kanzler der unbeliebtesten Bundesregierung aller Zeiten mit einem Traumergebnis. Die CDU ging genau 1,8 Prozent der Stimmen vor der zumindest in Teilen als gesichert rechtsextrem von einem Teil der Verfassungsschutzämter beobachteten AfD ins Ziel.

Nun will sie liefern, nun drängt schon wieder die Zeit. In nicht einmal 500 Tagen wird in Sachsen-Anhalt gewählt. Das erste Land, in dem die damals noch als PDS auftretende SED aus dem Off mitregierte, könnte angesichts der Bundestagswahlergebnisse das erste Land sein, in dem die AfD zu einer eigenen Mehrheit kommt  und nicht mehr darauf angewiesen ist, dass eine helfende Hand von jenseits der Brandmauer einem ihrer Rechtspopulisten auf den Ministerpräsidentensessel hilft. 

Black Hasi bangt

Selbst Reiner Haseloff, der älteste und am längsten gediente Regierungschef eines Bundeslandes, ist sicher, dass es diesmal nicht helfen würde, träte er, mit 71 Jahren bei seiner vierten Landtagswahl als Spitzenkandidat immer noch sieben Jahre jünger als Donald Trump bei seiner zweiten, noch einmal als personifizierte Brandmauer an.

"Black Hasi", wie er sich in besseren Tagen selbst nannte, will Hilfe aus Berlin. "Black Hasi" will, dass Zeichen gesetzt und ein "Politikwechsel" eingeläutet wird. Die Menschen müssten sehen, dass eine kluge Wirtschaftspolitik gemacht werde, sagte Haseloff, ohne deren Inhalt näher zu spezifizieren. Anderenfalls drohe ein "blaues Wunder": "Wenn die Mitte nicht mehr in der Lage ist, eine Regierung zu bilden, dann ist Deutschland am Ende", fürchtet der Christdemokrat.

Das Ende aller Zeiten

Doch dazu wird es nicht kommen. Wie die SPD schickt auch die Union bekannte Gesichter in die Verhandlungen um den neuen Aufbruch. Neben Friedrich Merz werden vermutlich CSU-Chef Markus Söder und die Generalsekretäre Carsten Linnemann (CDU) und Martin Huber (CSU) sitzen. Michael Kretschmer aus Sachsen wird einmal mehr den Ostbeauftragten geben, besonnen, aber leidenschaftlich und ohne Erfolg. 

Je nachdem, wie viele Kollegen Lars Klingbeil mitbringt, könnten auch Unions-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei und CSU-Landesgruppenchef Alexander  Dobrindt noch zum Verhandlungsteam stoßen. Gesucht werden zudem noch ein, zwei Frauen, um angesichts des näherrückenden Ehrentages "8. März" keine Kritik an der Nicht-Berücksichtigung zu provozieren. Wichtig: Man kennt sich, man weiß, wo der andere nachgeben wird. Und der weiß, wo man selbst nur prinzipienfest tut, letztlich aber nachgeben wird. 

Nur wenig Meinungsverschiedenheiten

Geht alles gut, geht dann alles schnell. Abgesehen von einigen kleineren Meinungsverschiedenheiten um die von der Union geplante Veröffentlichung von privaten Daten zur milliardenschweren Verstaatlichung der Zivilgesellschaft sind sich die künftigen Regierungspartner schon vorab weitgehend einig über die großen Linien. Die Schuldenbremse, vor 15 Jahren von genau derselben Koalition erfunden, um die Lasten für künftige Generationen nicht untragbar werden zu lassen, wird abgeräumt, um die Lasten für die heutige Generation zu erleichtern und sie damit zu überzeugen, dass es sich lohnt, SPD und Union zu wählen. 

Die Rüstungsausgaben werden dafür hochgefahren, um Donald Trump milde zu stimmen. Bei den Sozialausgaben dagegen wird symbolisch gespart, damit die Menschen den Eindruck bekommen, dass sich Arbeit mehr lohnt als keine. An den Grenzen, soweit wird Friedrich Merz der SPD entgegenkommen, wird nicht jeder zurückgewiesen, aber mancher ermahnt, es mit den falschen Angaben im Asylantrag nicht zu übertreiben. Es geht um die Macht und darum, an ihr teilhaben zu dürfen. Und es ist gut, dass es keine andere Möglichkeit einer Koalitionsbildung gibt. So wird jeder Kompromiss alternativlos. Ein Dienst am ganzen Volk.

Eine Regierung der guten Gaben

Mit dem vielen Geld, das fehlt, werden Klimaprämie und die Absenkung der Energiepreise finanziert werden. Jede Partei darf sich zudem zwei, drei Projekte wünschen, die umgesetzt werden, um die Basis zu befrieden: Die Vorratsdatenspeicherung finden alle am Tisch sowieso schon immer gut, auch auf die Zusage, die Renten seien sicher, werden die Delegationen sich flugs einigen können. Keiner hier, der die Suppe nicht mit eingebrockt hat. Keiner, der nun nicht nach dem Löffel greift.

Deutschland kommt also schon in Kürze in sicheres Fahrwasser. Im Inneren befriedet und nach außen wieder Führungsmacht, kann das größte EU-Land anschließend daran gehen, gute Laune zu bekommen. Die Infrastruktur wird rasch repariert. Die Bundeswehr wieder zu einem echten Heer. Der Aufschwung, der der Schwerindustrie droht, wird die Konsumenten mitreißen. Und Europa wird dann, abgesehen von einigen wenigen Abweichlern, mit einer Stimme sprechen. 

Endgültige Einheit: Der große Austausch

Der große Austausch
Der Plan zum geplanten Großen Austausch, Projektname "Wost", sieht eine Neuansiedlung entlang der inneren Überzeugungen von etwa 13 Millionen Menschen vor.


Es könnte der lange ersehnte Durchbruch sein, der der Einheit nach 35 Jahren doch noch zu dem Vollzug verhilft, der in Ost und West so sehr ersehnt wird. Inspiriert vom Gaza-Aufbauplan des US-Präsidenten Donald Trump hatten Forschende und Forscher des in Grimma beheimateten Climate Watch Institutes (CWI) Anfang des Monats erstmals KI-gestützt Varianten zur Vollendung der Einheit durchgespielt, bei denen der ausführenden Künstlichen Intelligenz neue Prämissen gesetzt wurden. 

Homogene Vielfalt

Nicht mehr die möglichst hohe Zahl an Ostbeauftragten oder die drastische Durchmischung der Herrschaftsverhältnisse durch sogenannte Ostquoten sollte als Erfolg zählen. Sondern eine homogene Vielfalt, die sich an gemeinsamen Lebensvorstellungen und einem in der Gruppe konsistenten Wertesystem ausrichtet.

Wie Herbert Haase, Gründungsdekan und Forschungsleiter am CWI sagt, erwartete Art und Weise eine Einheit in Vielfalt sagt, habe es sich anfangs um "reine Gedankenspiele" gehandelt. "Meine Mitarbeiter haben in ihrer Freizeit schon seit den Landtagswahlen in Ostdeutschland akribisch an einer Strategie gearbeitet, die den gesellschaftlichen Wandel widerspiegeln sollte, ohne eine in die üblichen Schimpftiraden über Spaltung und Undankbarkeit auszuarten." 

Rettung vor dem Absturz

Ohne Tabus, also rein wissenschaftlich, sei bald nach Beginn der Arbeit im kleinen Kollegendenkreis auch erörtert worden, welche Rolle Migration und Remigration bei der Befriedung der zum Teil vor dem Absturz in eine neue Diktatur stehenden Ostregionen spielen könnten. "Als Donald Trump dann mit seinem Plan zur endgültigen Lösung der Nahostkrise vorpreschte, fühlten sich unsere Sozialingenieure und auch die Klimapsychologen natürlich ermutigt, das Undenkbare zu denken." 

Nicht mehr klein denken, wie die blühenden Landschaften im Osten den Unzufriedenen noch besser erklärt werden können. Sondern die Menschen dort abholen, wo sie sind. Und sie leben lassen, wie sie möchten, "ob das nun als hart arbeitende Mitte ist oder als Aktivist in Berlin-Mitte", wie Haase schmunzelt. 

Platz für Wiederaufbautrupps

Obwohl aus dem Weißen Haus noch keine Details darüber gedrungen sind, ob Ägypten, der Libanon und vielleicht auch nach Jordanien, Irak und Syrien die Bevölkerung des Gaza-Streifens freiwillig aufnehmen werden, um Platz für die Wiederaufbautrupps aus aller Welt zu schaffen, oder ob Washington mit Druck nachhelfen muss, sieht Haase im Gaza-Plan eine Blaupause auch für Deutschland. "Angesichts unserer Problem müssen auch wir nicht nur neu denken, sondern auch neu handeln."

Die Ergebnisse der Bundestagswahl haben die Forscher aus Sachsen zusätzlich motiviert, nicht auf halber Strecke stehenzubleiben. "Nach 35 Jahren Reden und Klagen ist es Zeit für einen großen Wurf", findet Haase. Warum also nicht eine Wählerwanderung, die nicht auf halber Strecke stehenbleibt wie an jedem Wahlabend, wenn die Balken der SPD oder der FDP ausbluten? "Wir wollen den schönen Begriff auf der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) endlich wörtlich nehmen." 

Ihr ehrgeiziges Projekt mit dem Arbeitsnamen "Wost" zielt deshalb auf einen großen Austausch, der die Verhältnisse in Deutschland abschließend klärt und die drohende Unregierbarkeit der ersten Bundesländer im kommenden Jahr verhindert. "Uns geht es um klare Mehrheiten für alle, Ordnung und Sicherheit und die Schaffung von gleichwertigen Lebensbedingungen, unter denen sich niemand mehr für seine Überzeugungen als linksgrüner Spinner oder Nazi beschimpfen lassen muss."

Der große Austausch

Für "Wost" haben sich Herbert Hasse und seine Kolleginnen direkt an Ergebnissen der Bundestagswahl orientiert. "Danach haben in den östlichen Bundesländern nur drei Millionen Menschen für die zum Teil als gesichert rechtsextreme Bestrebung aktenkundige AfD gestimmt", rechnet er vor. In den älteren, demokratisch deutlich erfahreneren Gebieten seien es mehr als doppelt so viele gewesen. "Nach den Daten der Bundeswahlleiterin machten sieben Millionen ihr Kreuz bei den Blauen." Dazu kämen die Wählerinnen des mittepopulistischen Bündnis Sahra Wagenknecht und die zumeist jungen, über die chinesische TikTok-App verleiteten Anhänger der früheren PDS, heute Linkspartei.

Zusammen versammelten die drei ostdeutschen Regionalparteien zwölf bis 13 Millionen Menschen hinter sich - "das entspricht etwa genau der Restwohnstärke der Bundesländer auf dem Gebiet der früheren Ex-DDR", sagt Haase und schiebt hinter: "Abzüglich natürlich Berlin, das ist ein besonderer Sonderfall, das sollte künftig wieder zwischen Ost und West geteilt werden." 

Teilung stärkt Gemeinschaft

Teilung zur Stärkung der Gemeinschaft, das ist es auch, was der Projektgruppe Wost für Gesamtdeutschland vorschwebt. "Wir denken an einen großen Austausch, bei dem die Guten ins Kröpfchen und die Schlechten ins Kröpfchen kommen, sinnbildlich natürlich nur", beschreibt der bekannte Sozialchirurg und Urbanologe. Im Zuge der Neuordnung der Verhältnisse zögen alle AfD, BSW und Linken-Wähler*innen, die derzeit noch in den alten Bundesgebieten ansässig sind, nach Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg und Brandenburg. "Freiwillig natürlich, niemand wird deportiert." 

Dort könnten sie sich Gleichgesinnten anschließen, nachdem sie die Häuser und Wohnungen bezogen hätten, die beim Ringtausch mit den Wählenden von CDU, SPD, Grünen und FDP freigezogen würden. "Wost heißt ja nicht nur, dass alle Anhänger von Blau, Brombeer und Blutrot in den  Osten ziehen, sondern auch, dass die Unterstützer von unsere Demokratie in den Westen migrieren."

Optimistische Aussichten

Das könne eine saubere Sache werden, glaubt der umtriebige Forscher, der vor zwei Jahren Aufsehen mit Berechnungen erregt hatte, nach denen Deutschland komplett mit Wollen beheizt werden könnte, einem regionalen und umweltschonenden "Energieträger, der aus dem Eigenen kommt, von ganz tief drinnen", wie er damals geschwärmt hatte. Ähnlich optimistisch sieht der studierte Sohn einer indigenen Ostfamilie die Chancen, die sich nach 35 Jahren erneut vertiefende Spaltung durch "Flächenentspannung" zu lösen, wie er es nennt. 

"Eine Neuverteilung der Bevölkerung entlang der inneren Überzeugungen der Einzelnen müsste nicht zwingend zu einer Ostdeutscher Konföderierter Staaten führen, wie manche meiner jüngeren Mitarbeiter glauben", versichert er. Es werde aus seiner Sicht vollkommen ausreichen, räumlichen Abstand zwischen die heftig zerstrittenen Anhänger von starkem Staat, harter Hand, Gleichmacherei, Verboten und hohen Steuersätzen zu bringen. "Jede Seite könnte dann ein Leben nach ihrem Vorstellungen führen, ohne dass den einen ständig Westdeutsche hineinreden und ohne dass den anderen von ostdeutschen Wählern in einem fort Racheakte an der Wahlurne drohen." 

Eine saubere Teilung

Eine saubere Teilung, wie sie die KI vorgeschlagen habe, sei aus Sicht seiner Arbeitsgruppe die bessere, weil nachhaltigere Lösung. "Wir bekommen ein Deutschland der Vielfalt und der grundlegend verschiedenen Lebensentwürfe", lobt Haase. Im Osten könnten Menschen anschließend ungestört von Vorschriften aus Brüssel und Mahnungen von Politikern aus den früheren alten Ländern ihren Vorlieben für Bratwurst, italienische Schlager und völkische Gruppendynamik ohne Rücksicht auf Klimaaspekte leben. "Und im neuen Westen wäre der kollektive Wille endlich groß genug, um als einziges Land weltweit ganz für die Klimaziele zu leben und alle Anstrengungen darauf zu richten, den Erhalt der Lebensgrundlagen der Menschheit zu sichern."


Donnerstag, 27. Februar 2025

Not gegen Elend: Regierungskoalition als Rettungsmission

Lars Klingbeil soll die SPD retten
Lars Klingbeil ist ein echtes Kind seiner Partei. Sie hat ihn aufgezogen und ausgebildet und zu dem Mann gemacht, der sie nun vor dem drohenden Sturz in die völlige Bedeutungslosigkeit retten soll..

Es war ein Wahlkampf, in dem Not gegen Elend antraten, wobei schon absehbar war, dass am Ende beide zusammen regieren würden. Was nun kommt, ist deshalb auch keine Regierungskoalition im eigentlichen Sinne. Es ist eine Rettungsmission für unsere Demokratie und die letzten paar geschrumpften kleinen Parteien, die sie tragen.  

Der Not-Vorsitzende Friedrich Merz hat es selbst gesagt, mit den Worten des großen Kofferträgers Wolfgang Schäuble: Wenn wir es in den nächsten vier Jahren nicht schaffen, dann wird unsere Demokratie deren sein. Die Genossen von Elend haben es bereits erfahren. Nach nicht einmal 25 Jahren beständigen Dahinregierens ohne Erfolg ist mehr als die Hälfte der einstigen Wähler weg. Und der traurige Rest droht beständig, den Schuss eines Tages auch hören zu müssen.

Ärmel und Schlips

Kraftvolle Signale braucht es, Ärmelaufkrempeln und Schlipsablegen. Merz wollte vom ersten Tag an losschlagen, dass es kracht im morschen Berliner Gebälk. In großen Maßstab abschieben. Festnehmen, was illegal herumläuft. Die Bundeswehr wieder in eine weltweit gefürchtete Streitmacht verwandeln. Die Ukraine schützen, vor Russland und Amerika. Die Schuldenbremse unangetastet lassen, aber eins, zwei, viele Sondervermögen gründen, um unentdeckt von Bürgern und Rechnungsprüfern weit jenseits  der Maastricht-Schuldenregeln durchregieren zu können.

Jeder zwischen Berlin und Brüssel wusste, dass die Startbedingungen wie immer nicht ideal, sondern denkbar ungünstig sind. Die Not-Union hat eine Wahl gewonnen und dabei nur besser abgeschnitten als bei einer einzigen Bundestagswahl zuvor. Ein Sieger, der so schlecht aussieht, dass der Parteivorsitzende in jedem anderen Wahljahr unmittelbar am Wahlabend hätte seinen Hut nehmen müssen. 

Die einzige Hoffnung

Der einzigen Hoffnung als Koalitionspartner geht es noch übler. Die SPD hat schlechter abgeschnitten als sonst irgendwann in den letzten 138 Jahren. Personell aber ist die älteste deutsche Partei so ausgezehrt und inhaltlich so ratlos, dass es dem Architekten ihres Misserfolges (Philipp Türmer) im Handstreich gelang, sich nach dem Parteivorsitz auch noch den Posten des Fraktionschefs der zusammengeschrumpelten SPD-Vertretung im Bundestag zuschustern zu lassen.

Merz wie Klingbeil haben gut zugeschaut bei dem, was US-Präsident Donald Trump in Washington tut. Schnell sein, rasch zuschlagen, schon wieder woanders Pflöcke einschlagen, wenn die innerparteilichen Gegner langsam bemerken, was passiert ist. Friedrich Merz hatte die Union nach dem Misserfolg seines glücklosen Vorgängers Armin Laschet zuallererst zum folgsamen Kanzlerwahlverein gemacht und auf sich eingeschworen. Lars Klingbeil ist jetzt erst dabei, die zerstrittene, ihren eigenen Kanzlerkandidaten rundheraus ablehnende SPD wieder in eine Partei zu verwandeln, die. Was genau, weiß er selbst  noch nicht. 

Koalitionsverhandlungen auf Distanz

In den auf Distanz bereits laufenden Koalitionsverhandlungen aber tritt Klingbeil schon auf wie einer, der nicht traurige 16,4 Prozent der Stimmen, sondern mindestens das Doppelte erhalten hat. Selbstbewusst hat sich der selbstermächtigte neue und einzige starke Mann der SPD übergriffige Fragen des künftigen Koalitionspartners auf die federführend von seiner Partei aufgebaute staatliche Infrastruktur für sogenannte nichtstaatliche Organisationen verbeten. Die Milliarden, die hier Jahr für Jahr ausgeschüttet werden, gingen an "Organisationen, die unsere Demokratie schützen", sagte Klingbeil. Damit sei jede Nachfrage, wofür das Geld genau verwendet werde, ein Versuch, die Demokratie selbst anzugreifen.

Mit Leuten, die so etwas tun, könne er sich nicht vorstellen, am Verhandlungstisch über eine Koalition zu sprechen, daran hat Lars Klingbeil keinen Zweifel gelassen. Der 47-Jährige, der sein gesamtes Erwachsenenleben in den Aufzuchtbecken und Kaderschulen seiner Partei verbracht hat, weiß genau, wie er den Preis hochzutreiben kann, den die Union wird zahlen müssen, um die SPD als Stützrad für ihre Rettungskoalition zu gewinnen.

Prinzipienfest bei Petitessen

Mögen die 551 Fragen der CDU an die scheidende Bundesregierung auch erscheinen wie eine Petitesse in einer Zeit, in der sich mehr als eine existenzielle Frage für das Land stellt. Lars Klingbeil nutzt sie gerade deshalb, um Prinzipienfestigkeit zu demonstrieren und die Infrastruktur aus Vorfeldorganisationen, Stiftungen und gemeinnützigen GmbHs  zu schützen, auf die seine Partei angewiesen sein wird, will sie eines Tages selbst wieder zurück ins Kanzleramt. 

Eine Zivilgesellschaft, die unabhängig von staatlichen Geldflüssen agiert, erscheint einem langgedienten Funktionär wie Lars Klingbeil nicht nur undenkbar, sondern überaus gefährlich. Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt, was gespielt wird. Wo also eine Zivilgesellschaft existierte, die nicht permanent auslotet, welche Förderprogramme für welche "Maßnahmen" in Anspruch genommen werden könnten, verlören Staat und Parteien ihre Möglichkeit, nicht-amtliches, nicht-behördliches und nicht-parteiisches Engagement nach Belieben zu steuern und zu lenken.

Alarm auf dem Nebenkriegsschauplatz

Dazu will es Lars Klingbeil nicht kommen lassen und deshalb hat der neue Parteichef sich ausgerechnet den bedeutungslosen Nebenkriegsschauplatz auserkoren, um eine erste Ansage an den künftigen Koalitionspartner zu machen. Bei der Aushebelung der einst von der SPD erfundenen Schuldenbremse und bei der Belastung künftiger Generationen mit noch höheren Schulden wird man sich schnell einig sein.

Bei Aufrüstung, Straffung des Sozialstaates und schnellen Abschiebungen im "großen Maßstab" (Olaf Scholz) gilt es allenfalls noch, sensible Sprachregelungen zu finden, um gemeinsame Lösungen als SPD-Idee zu verkaufen. Was den neuen, schicken Anti-Amerikanismus betrifft und den deutschen Traum davon, Europa unabhängig zu machen, gibt es keine abweichenden Meinungen in SPD und Union. Brüssel soll sein, was Washington so lange war: Ein Ort, aus dem die Ansagen kommen. Ein  Ort, auf den man unangenehme Entscheidungen schieben kann.

Der Streit um die Milliarden, die sich der Staat als "unsere Demokratie" kosten lässt, um seine eigene Zivilgesellschaft zu unterhalten, ist deshalb essenziell für den SPD-Chef, der schnelle Erfolge braucht, um nicht in eine lange, quälende Fehlerdiskussion darüber zu geraten, weshalb das alles so weit hat kommen müssen. Die 551 Fragen der Union liegen auf dem Tisch. Aber wenn die Antworten kommen, werden sie Friedrich Merz nicht mehr interessieren.

Merz im Wespennest: Angriff auf den öffentlichen Dienst

551 Fragen zur Staatsfinanzierung von nichtstaatlichen Organisationen: Unverhohlener wurde der Staat noch niemals angegriffen.

Der Angriff kam unverhofft, aus der Kalten, kurz vor der Machtergreifung, die eine Rückkehr zum gewohnten Schwarz-Rot einer großen Koalition der wirtschaftlichen Vernunft bringen sollte. Doch dann diese Attacke, ohne Ansage und ohne Erklärung.  

Nur weil sich zivilgesellschaftliche Vereine wie die Omas gegen rechts, das Netzwerk Recherche, die Rechercheplattform Correctiv, Greenpeace, das Petitionsportal Campact und der fast schon vergessene Revolutionsclub Attac auf den letzten Metern des Wahlkampfes gegen die vom künftigen Kanzler Friedrich Merz befohlene Faschistisierung der Union gewandt hatten, schlägt die Partei der Wahlsieger brutal zurück. 

551 Fragen als offener Angriff

Mit 551 Fragen nach der staatlichen Finanzierung der engagierten Protest-Infrastruktur der Republik bombardiert Merz' Partei die scheidende Bundesregierung. Und sie provoziert damit das Deutschland, das "unsere Demokratie" adoptiert und damit das Recht erworben hat, für alle zu sprechen, wenn es "wir" sagt. 

Sven Giegold, bei der letzten Rochade in der grünen Führung im vergangenen Jahr aufgerückt zu einem der mächtigsten Männer in der zweiten Reihe der früheren Alternative für Deutschland, bracht es empört auf den Punkt. "Der Ministerialapparat wird missbraucht, um die Zivilgesellschaft auszuforschen", schrieb er der Union ins Stammbuch. Es sei nicht Aufgabe von Beamten, zu kontrollieren, zu welchen Protesten welche Organisationen aufzurufen und welche nicht. 

Angeblich "kleine Anfrage"

Die Kleine Anfrage mit dem harmlos klingenden Titel "Politische Neutralität staatlich geförderter Organisationen" ist nach Ansicht der gestärkt aus der Bundestagswahl hervorgegangenen Linkspartei sogar nichts weniger als ein "Frontalangriff" auf die Demokratie, eine perfide Rache der Union "für die antifaschistischen Proteste der letzten Wochen".

Auch Lars Klingbeil, der neue starke Mann der deutschen Sozialdemokratie, wollte da nicht abseitsstehen beim Anprangern der überneugierigen Opposition. Der Antrag sei "ein Foulspiel" und stelle Organisationen, die sich für Demokratie einsetzten, "an den Pranger", sagte Klingbeil. Er könne nicht mit einer Partei am Verhandlungstisch zur Bildung einer Opposition zusammensitzen, "die solche Anfragen rausschickt". 

Die "freie Zivilgesellschaft" werde behandelt wie "in autoritären Staaten", klagte die linke Abgeordnete Clara Bünger. Der grüne Europa-Politiker Sergey Lagodinsky blies ins selbe Horn, als er "fast schon Trumpsche Verhältnisse" anprangerte.

Wie frei, diese Frage schwebt seit Merzens Ausfall über allem, ist ein Staat noch, dessen Bürger vielleicht erfahren müssen, wie viel Geld sie in Freizeitgruppen wie die "Omas gegen rechts" investieren, wie viel sie sich die Unterstützung von Fake-News-Plattformen wie Correctiv kosten lassen und wieso sie womöglich ein Portal wie Campact und dessen Tochter HateAid mit ihren Steuermitteln unterstützen müssen, obwohl das doch selbst genug Geld hat, freigiebig an Parteien zu spenden.

Petitionen ohne Wirkung

Unerhört. Übergriffig. Noch nie hat auch nur eine einzige Campact-Petition mehr Wirkung gehabt als ein paar schnelle Schlagzeilen.  Und nicht die vielen machtvollen Demonstrationen, sondern erst die Aufregung über die Aufregung über den Tabubruch von Merz und den Seinen an der Bundestagsbrandmauer vermochten es, der Linkspartei genug Rückenwind zu geben, um vom Totenbett einer menschenverachtenden Ideologie aufzuerstehen und in lange nicht gekannter Stärke in den Bundestag einzuziehen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen, der spezielle Begriff  stammt aus den Jahren des kalten Krieges, als die Bundesworthülsenfabrik (BWHF) gebeten wurde, ein Schlagwort zu kreieren, das die fortschrittlichen Teile der Gesellschaft klar abgrenzt von Staat, Militär, Privatfirmen und rückwärtsgewandten Ewiggestrigen, sind in den zurückliegenden 40 Jahren zu einer Art neuer Öffentlicher Dienst geworden. was für viele Engagierte und Aktive als privates Hobby begann, hat sich institutionalisiert. Kaum ein Verein, der für das Gute streitet, muss dafür noch Spenden sammeln, die Klingelbüchse herumgehen lassen oder mit einem - längst auch steuertechnisch schwer abzuwickelnden -  Kuchenbasar um Almosen Gleichgesinnter betteln.

Verstaatlichte Zivilgesellschaft

Die Zivilgesellschaft ist weitgehend verstaatlicht worden. Ihre größten Feinde sind nicht der Nazi von Nebenan oder der Rechtspopulist mit seinen fremdenfeindlichen Parolen, sondern Haushaltssperre, Rechnungshof und das Finanzamt, das aus oft durchsichtigen Gründen dazu neigt, die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, nur weil sie nicht zu erkennen ist. 

In den goldenen Zeiten, in denen alle, die sich auf das Melken der öffentlichen Kassen für den guten Zweck verstanden, mit Programmen gegen den Hass, für die Stärkung der Abwehrkräfte gegen den Populismus und mit sogenannten "Demokratieprojekte" ein Auskommen verschaffen konnten, sprudelten Milliarden zum Zweck, mehr Mitarbeiter einzustellen, die noch mehr akute Krisenlagen entdeckten, gegen die nur noch mehr Staatsgeld helfen konnte. Campact fing zu viert an, nach fünf Jahren zählte der Verein 22 Mitarbeiter, auf einem Foto im letzten Transparenzbericht sind 90 zu sehen.

Wachstumsbranche NGO

Sie alle "treten für progressive Politik" ein, "lassen leere Worte nicht gelten" und sie haben nach der Aberkennung der Gemeinnützigkeit durch den Bundesfinanzhof die "Demokratie-Stiftung Campact" gegründet, um "ein nachhaltiges Finanzierungsmodell für unsere Bürgerbewegung" zu haben. Im  Gegensatz zu anderen Organisationen sie die staatlichen Zuwendungen gering, sie beschränken sich wohl auf das Hass-Start-up HateAid. Soll das nun alles enden? Jetzt, wo sich die Tochter um eine Lizensierung als "Trusted Flagger" beworben hat?

Die 551 Fragen der Union zielen ins Herz eines Systems, in dem es vollkommen normal ist, dass der Versuch einer Umerziehung  jedes einzelnen rechtsextremistischen Gefährders mit Kosten in Höhe von 16 Millionen Euro zu Buche schlägt. Kleines Geld für einen großen Zweck, der auch imponierende Summen wegschluckt. 100 Millionen wurde von Ministerien aus den allenthalben knappen Kassen für  "HateAid" und das "Projekt Firewall" der Amadeu Antonio Stiftung (Eigenschreibweise) ausgegeben. Am Ende der Förderperiode waren es unter anderem diese beiden engagierten Organisationen, die beklagten, dass der Faschismus noch nie so nahe vor der Tür stand wie heute.

Viel Geld, aber nicht genug

Es ist viel Geld unterwegs, aber noch lange nicht genug. Nur 530 in Deutschland ansässige oder aktive Nichtregierungsorganisationen wurden nach Angaben der Bundesregierung im vergangenen Jahr finanziell unterstützt. Seit Gerhard Schröders Aufruf zum "Aufstand der Anständigen" vor 25 Jahren stieg die Summe auf nunmehr eine Milliarde Euro pro Jahr.  Geld, das nicht die Bürgerinnen und Bürger ausgeben müssen, weil "wir das Staat" das übernimmt. Nicht mitgerechnet sind Zahlungen aus anderen Töpfen, etwa von einzelnen Bundesländern oder der EU.

Kleinvieh macht auch Mist, reicht aber nicht. 38.000 Euro für den Verein "Bürger Europas" etwa nicht dafür, 2024 eine Veranstaltung zur Aufklärung über die Herkunft des Döner durchzuführen oder sonstige Aktivitäten öffentlich nachzuweisen. Fian Deutschland bekam 70.000 Euro, um "mit Menschenrechten gegen den Hunger" (Fian) und die Verschiebung der Lieferkettenrichtlinie der EU zu kämpfen, für die die alte Bundesregierung kämpft und die neue kämpfen wird. Die "Ideas into Energy" GmbH bekam gleich 130.000, um "unser Wissen zu Energie- und Umwelttechnologien auf internationaler Ebene in Bildungsprojekten zu teilen".

Für den guten Zweck

Insgesamt listet eine frühere Auskunft der Bundesregierung an den Bundestag auf 103 engbeschriebenen Seiten nicht 503, sondern Tausende Empfänger von guten Gaben auf, die Campact-Tochter HateAid etwa mit knapp 500.000 Euro, ebenso viel bekam "Gewaltfrei in die Zukunft", ein Verein, der eine App zum "eigene Empowerment von betroffenen Personen von geschlechtsbasierter Gewalt in der Paarbeziehung" entwickelt hat, die "in den gängigen App-Stores nicht öffentlich zugänglich" ist, um "die Betroffenen zu schützen. So weit zu kommen, reichte die eine Zahlung freilich nicht. Schon im Jahr zuvor gab es 830.000 Euro für den guten Zweck.

Ob Deutsche Chirurgiestiftung, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, der Bundesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter, die Gesellschaft für Fortbildung der Strafvollzugsbediensteten oder  Slow Food Deutschland e.V., die Aktion Psychisch Kranke e.V, der Trägerinnenverbund FLAKS e.V. (Frauen Lernen Arbeit Kontakt Service) und der aus der DDR übriggebliebene Demokratische Frauenbund Landesverband Brandenburg e.V - es regnet Geld, wo immer der Blick hinfällt. Correctiv bekam 61.000, ein "Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel mehr als eine halbe Million. 

Das meiste Geld aber, und damit haben die Empfindlichkeiten im Umgang mit der plötzlichen Neugier ausgerechnet der Union zu tun, landet bei den Stiftungen der politischen Parteien, obwohl die nach der Definition eines Ministeriums "nicht zu den NGO" gehören. 644 Millionen Euro listet das Statistikportal Statista für diesen guten Zweck auf, nicht mitgerechnet sind hier Projektförderungen wie etwa die Fantastrillionen, die die Friedrich-Ebert-Stiftung für "Richtlinien für die Förderung der gesellschaftspolitschen Maßnahmen durch das Auswärtige Amt" regelmäßig erhält.

Ein Land, das sich das alles leisten kann, inmitten fortgesetzten Barmens über alle die vielen fehlenden Milliarden und die fürchterliche Schuldenbremse, darf stolz auf sich sein. Es hat zum Glück nicht nur Parteien, die das anders sehen, weil es ihnen in die braunen Karten spielt. Sondern eben auch welche, die sicher sind, dass sich kein längerer Blick in die Bücher lohnen würde.

Mittwoch, 26. Februar 2025

Klingbeilisierung der SPD: Macht nichts

Die von ihm geplante Wahlkampagne "Mehr für Dich" spielte die Säle leer. Jetzt belohnt sich Lars Klingbeil mit einer Übernahme der gesamten Macht in der SPD. Abb: Kümram, Glasnadelradierung auf Acryl

Die Brücke hat sich sichtlich gelehrt bei den deutschen Sozialdemokraten, und das mitten in der Mitte des "sozialdemokratischen Jahrzehnts" (Olaf Scholz), das erst vor drei Jahren begonnen hatte. Der Kanzler weg, ein Hinterbänkler nur noch, geduldet, aber nicht mehr nur nicht geliebt, sondern bedauert und auf den Bundestagsfluren verflucht. Kein Einzelschicksal. Mehr als 100 bewährte und engagierte Volksvertreter packen ihre gerade ihre Sachen, sie lassen Kisten schleppen und von ihren Social-Media-Teams letzte emotionale Selfies schießen.

Alles voller Abschied

Rolf Mützenich gestürzt, der Stratege, der Kremlinteressen immer mitdachte und sich hocharbeitete vom Referenten einer SPD-Landtagsfraktion zum stillen Lenker eines ganzen Landes. Saskia Esken, die knorrige, kantige Grande Dame der SPD, war zuvor schon aussortiert worden, vom damals noch halbmächtigen Kanzler selbst. Die Generation der Fahimi, Nahles, Schulz und Barley, sie verschwand spurlos in den tiefen Falten des Staatsapparats, der Vorfeldorganisationen ihrer Partei und der europäischen Institutionen. 

Nach ihnen folgten die Heils und Schneiders, Kühnerts und Özoguz, sie alle hatten nie außerhalb eines Dreiecks gearbeitet, dessen Ecken Staat, Partei und Stiftungen bilden. Sie alle entstanden als Figuren im geschützten Raum der ideologieverwandten Stiftungen, eigene Zucht aus  Parlamentsbüros, parteinahen Behörden und gewerkschaftsnahen Unterbringungsgelegenheiten.

Enttäuschte Hoffnungen

Große Hoffnungen verbanden sich mit  der anstehenden Machtübernahme der Generation Parteiarbeiter, die im politischen Berlin hochachtungsvoll auch als "Generation Kevin" bezeichnet wurde. Ihnen allen ist eine Weltsicht eigen, wie sie die frühere Parteivorsitzende Andrea Nahles in ihrer größten theoretischen Arbeit vor Jahren ausformuliert hatte. 

Als Alternative zu Marktwirtschaft und Konkurrenzökonomie  rief Nahles damals die "gute Gesellschaft" aus, ein "neues Modell des Wohlstandes", das zuerst in Deutschland zum Erfolg geführt werden würde und dann global ausgerollt. Voraussetzung: "Nur durch eine Umstrukturierung der Wirtschaftsordnung können wir eine von Freiheit und Gleichheit geprägte Gesellschaft schaffen", riet die Vordenkerin, die eines der prägenden Gesichter einer SPD war, die sich bewusst weiblicher aufstellte, trotz weiter Pendelfahrten Verantwortung übernahm und das seltsame Biotop aus Parteiklüngel und Parlamentsbetrieb als natürlichen Lebensraum begriff.

Das Menschenbild der SPD

Sie klagten nie. Sie wussten, dass sie für Millionen zuständig waren, denn das Menschenbild der SPD hatte sich mit dem Ende der neoliberalen Schröder-Ära grundlegend gewandelt. Statt nur noch "an der Willensbildung der Bürger mitzuwirken", wie es das Grundgesetz den Parteien zubilligt, war die deutsche Sozialdemokratie entschlossen, ein Staatswesen zu errichten, der die, so schrieb es Andrea Nahles in ihrem "Zukunftspapier", "die Synthese von praktischem Denken und idealistischem Streben" verwirklicht. 

Zentrale Instanz dabei ist die Partei, deren Menschenbild im Kern darauf beruht, dass dem Einzelnen nichts zuzutrauen ist, dass jeder Bürger und Wähler weitgehend lebensuntüchtig, unmündig und betreuungsbedürftig zu sein hat. Dieses Menschenmaterial, fast durchgehend nicht im Vollbesitz seiner Sinne, erklärte die SPD zu ihrem Mündel. Sie trat an, zu füttern und zu pflegen, zu bemuttern und zu strafen. Ein Freund jedes Menschen zu sein, so lange er auf die Parteibeschlüsse hört und dem Staat Gefolgschaft schwört.

Ein langer Weg bis zur Pflegestufe

Es war ein langer Weg vom Parteivorsitzenden und Kanzler Gerhard Schröder, der selbst noch den "einfachen Arbeiter" aus der "hart arbeitenden Mitte" ermutigen wollte, sich selbst zu ermächtigen und aus seiner Rolle als Betreuungspflichtiger herauszutreten und sich etwas zuzutrauen, bis zum Nahlismus, der Bürgerinnen und Bürger nur noch unterschiedliche Pflegestufen zuwies. Das Trauma Hartz 4 wirkte nach und es wirkte immer schlimmer. Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück versuchten noch erfolgreich, eine Abwicklung zu verhindern. Nahles schaffte es dann doch, weil Kanzlerin Angela Merkel die Dinge ähnlich sah. Die Menschen wollen nichts entscheiden müssen. Sie wollen jemanden, der ihnen sagt, dass alles gut wird.

Mit dem jungen, dynamischen Vordenker Kevin Kühnert, der die bräsigen alten Genossen aus dem Backoffice führte, erfand sich die deutsche Sozialdemokratie in diesem Merkelschen Sinne neu. An der Seite einer Kanzlerin, deren Regieren im Bemühen bestand, die Bürgerinnen und Bürger vor ungemütlichen Realitäten abzuschirmen, vertrat die SPD den Kollektivismus als zeitgemäßen Ersatz aller individuellen Rechte. 

Ende der "Verkühnerung"

Die damals in Berlin als "Verkühnerung" belächelte Rückkehr zu den Idealen des Kommunismus, der diesmal aber gut und richtig gemacht werden sollte, schien zu enden, als der Richelieu der ältesten deutschen Partei unerwartet abtrat. Die Bruchlandung des roten Plattitüdenbombers mit seinen "Mehr für Dich"- und "Politik für die unteren 99 Prozent"-Botschaften verhinderte das nicht, denn es war schon fast niemand mehr da, der dem Parteiapparat neue Energie und den Genossen draußen im Lande etwas von der grünen "Zuversicht" (Habeck) hätte einimpfen können.

Wer schon kennt heute noch die Namen führender Sozialdemokraten? Wer lauscht ihren Reden mit roten Ohren? Fühlt sich ergriffen von ihren Rufen nach sozialer Gerechtigkeit, Mindestlohn und Teilhabe? Nur noch Lars Klingbeil hält den Kahn auf Kurs Klassenkampf, er spielt arm gegen reich aus, füllte den Wahlkampf des maladen Kanzlers mit leeren Versprechungen und zeigte sich damit als einer, der ernsthaft glaubt, es mit dummen, ungebildeten und selbst von der harten Wirklichkeit unbelehrbaren Adressaten zu tun zu haben. 

Bei den dicksten Trauben

Aus der Partei kennt Lars Klingbeil es nicht anders. Nie hat der Niedersache etwas anderes getan, als sich im Parteiapparat nach oben zu arbeiten, dorthin, wo die dicken Trauben hängen und an den großen Rädern gedreht wird. Jetzt ist er angekommen, jetzt steht die in der Politikwissenschaft als "Klingbeilisierung" bezeichnete Ausrichtung der deutschen Sozialdemokratie unmittelbar bevor. 

Lars Klingbeil hat schon vor langer Zeit deutlich gemacht, dass es die verfassungsmäßigen Schutzpflichten des Staates für jeden Bürger jeder Gewalt gegenüber nur noch für die geben wird, die "sich in unserem Land für die Demokratie engagieren". Die, die ein "ganz anderes Land wollen, dass diese Gesellschaft ganz anders aussieht als das heute der Fall ist" (Klingbeil), werden keine Chance haben, wenn der "Architekt des Misserfolgs" (Juso-Chef Philipp Türmer) seine als Vorsitzender der SPD und Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag  bekommt. 

Warum denn Tapezieren: Der Lack ist ab

Kurt Hasger 1987 Stern-Interview
Wie Kurt Hager 1987 dem neuen Kurs in Moskau erteilen auch EU und Deutschland den Ermahnungen aus den Vereinigten Staaten eine klare Absage.

Der amerikanische Vizepräsident J.D. Vance warf den Fehdehandschuh, Europa reagierte entschlossen. Wie mit mehreren Stimmen sprach der Kontinent das Gleiche: Man werde sich nicht beugen, werde nicht dulden, dass einem fremde Werte übergestülpt werden, und nicht stillhalten, wenn sich ein bisheriger Verbündeter erdreiste, den Friedensschluss im Osten zu verhandeln wie einst die Alliierten in Jalta. Die hatten überfallene Polen nicht mit zu Tisch gebeten, die hatten unter sich ausgemacht, wie es weitergehen sollte in Europa, wer was bekommt und wer bezahlen wird.

Antwort auf US-Provokation

Deutschland war damals Verhandlungsmasse, das will es nicht wieder, denn das soll heute Russland sein. Dass der Kreml den Krieg nicht verloren hat, stört die Argumentation nicht weiter. Dass er ihn bisher noch nicht gewonnen hat, das zählt. Prompt antwortete die EU auf die amerikanische Provokation mit einem neuen Sanktionspaket gegen den Kreml. Erstaunlicherweise fanden sich auf für die 16. Verschärfung der schärfsten Sanktionen der Weltgeschichte noch einige Stellen, an denen sich die Fesseln straffer ziehen lassen. 

Wichtig ist jetzt, selbst Akzente zu setzen. Wichtig ist jetzt, die Vorwürfe aus den USA ins Leere laufen zu lassen. Mit seinen Behauptungen, die EU missachte die Meinungsfreiheit und Deutschland, der Musterschüler unter den 27, ignoriere sie sogar in einer Weise, dass die Regierung der Vereinigten Staaten ihren Bürgern nicht mehr erklären, könne, was man da in Übersee überhaupt mit deren Steuermilliarden schütze, zielte Vance auf einen empfindlichen Punkt, Ja, Europa hat Werte, Ja, sie sind gemeinsame. Nur welche, das könnten auf Befragen weder die Kommission noch die Regierungen der 27 Mitgliedsstaaten sagen.

Zerwürfnis mit der Türkei

Ein Zerwürfnis tut sich auf, wie es zuletzt zwischen Deutschland, der EU und der Türkei offenbar wurde. Lange hatten die Wertestaaten im alten Europa Ankara auf einem Weg gesehen, der das muslimische Mittelreich zwischen Europa und Asien zu einem ganz gewöhnlichen EU-Staat machen sollte. Dass die Türkei das nicht wollte, wurde ignoriert. Statt dankbar zu sein, gerierte sich das Entwicklungsland selbstbewusst. Schließlich musste Deutschland Kundgebungen der dortigen Regierungspartei auf deutschem Boden unter Erlaubnisvorbehalt stellen.

Aus acht Jahren Abstand  mutet es wie ein Vorgeplänkel an. Alle in EU und Nato sprechen zwar verschiedene Sprachen, meinen aber etwas völlig anderes, wenn sie dasselbe sagen. Die jähen Wendungen bei der Bewertung von gemeinsamen Werten, die Washington nach der Rückkehr Donald Trumps vollführt, haben die Europäer erwischt wie eine Bogenlampe den Torwart, der gerade die Schuhe wechselt. Die Aufregung ist groß, die Empörung noch größer. Es schreit Verrat und Vergeltung. Und so sehr sie alle hoffen, die Bundestagswahl zu gewinnen, so sehr fürchten sie, dass es klappt, weil sie nicht die geringste Vorstellung haben, was sie dann machen sollen.

Hagers Absage an Moskau

Nicht das, was Amerika tut. Alles, nur nicht das. Vieles erinnert an den März 1987, als der SED-Politiker Kurt Hager der bundesdeutschen Illustrierten "Stern" ein Interview gab. Hager, im SED-Politbüro für ideologische Fragen zuständig, reagierte auf die im Jahr zuvor von Moskau eingeleiteten Veränderungen ähnlich bockbeinig und prinzipienfest wie Olaf Scholz, Friedrich Merz und Robert Habeck nebst Gefolge auf die Predigten von Vance, Trump und Musk. 

Auf die Frage, ob die Zeiten vorüber seien, "in denen das Land Lenins für deutsche Kommunisten Vorbild war", beschwor Hager zwar den "Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand" zwischen beiden Staaten und ebenso die "feste, unzerstörbare Freundschaft, die in direkten Beziehungen von Betrieben, Hochschulen und anderen Einrichtungen sowie zahllosen persönlichen Begegnungen ihren Ausdruck findet". 

Mit dem Satz, dass SED und KPdSU Bruderparteien seien, regelmäßig ihre Erfahrungen austauschten, "um voneinander zu lernen", stellte der damals 74-Jährige aber auch klar, dass nicht der Kreml die Ansagen mache. Sondern der halbe deutsche Zwergstaat sich auf Augenhöhe mit dem "großen Bruder" sah.

Keine Lust zum Lernen

Von der Sowjetunion lernen, hieß plötzlich nicht mehr siegen lernen. Hager zitierte Michail Gorbatschow, der über die DDR wie über einen Verstorbenen gesprochen hatte: "Wir waren treue Freunde und Verbündete der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Deutschen Demokratischen Republik" und er versicherte, dass "es vergebliche Mühe wäre, einen Keil zwischen die DDR und die Sowjetunion zu treiben oder Differenzen zwischen der SED und der KPdSU zu konstruieren". 

Es gab sie längst und sie waren grundsätzlicher Natur. Gorbatschow wollte den Sozialismus durch Reformen retten,. Die SED-Führung ahnte, dass selbst schon kleine Veränderungen das baufällige Gebäude des sozialistischen Weltsystems zum Einsturz bringen würde.

Gorbatschows Perestroika galt den alten Männern in der DDR nicht als Chance, sondern als Bedrohung. Schmallippig zitierte Hager seinen Parteichef Erich Honecker, der feinsinnig bemerkt hatte, dass "die Verwirklichung dieses Aktionsprogramms für das Wohl des Sowjetvolkes von grundlegender Bedeutung" sei. Für das Wohl des Sowjetvolkes. Nicht für die DDR. Treue zur Sowjetunion habe noch nie bedeutet, "dass wir alles, was in der Sowjetunion geschah, kopierten". Die Maus brüllte, um das zu betonen: schließlich, so Hager, "kopiert die Sowjetunion auch nicht die DDR".

Auf einmal eigene Wege

Eigene Wege, auf einmal. Kurt Hager, ein kalter Ideologe, aber kein ganz trockener Bürokrat, sagte dann den Satz, der von ihm blieb: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Ein Muster für das, was derzeit zwischen Deutschland der EU und den USA geschieht: Trump hat nach seinem - zumindest für die Europäer so überraschenden - Wahlsieg eine Perestroika ausgerufen. Berlin, Paris und Brüssel, bis vor drei Monaten bereit, auf jeden Pfiff eines amerikanischen Präsidenten zu apportieren, entdecken aus Angst davor, was für sie daraus folgen könnte, plötzlich einen eigenständigen europäischen Weg zu Demokratie, Wohlstand und Frieden.

Das Angebot von J.D. Vance, weiterzumachen wie bisher, wenn Europa sich bereit erklärt, der neuen US-Führung so bereitwillig zu folgen wie fast allen anderen bisher, wurde nicht direkt ausgeschlagen. Zwar tendiert die deutsche Regierung zu einer solchen frontalen Konfrontation. Doch nicht einmal die Deutschen hören noch auf Scholz, Habeck und Baerbock, geschweige denn der Rest Europas, der zudem überwiegend zu den ersten Krisensitzungen gar nicht geladen war. Die, die da waren, konnten sich wie immer nicht einigen. 

Grundlegende Gemeinsamkeiten

Kurt Hager formulierte vor 38 Jahren passend zu heutigen Situation: Sozialistische Länder hätten "grundlegende Gemeinsamkeiten wie den Marxismus- Leninismus als Weltanschauung und das gemeinsame Ziel, den Sozialismus und Kommunismus". Aber jedes sozialistische Land habe auch einen bestimmten ökonomischen und sozialen Entwicklungsstand, historische und kulturelle Traditionen, geografische und andere Gegebenheiten, die berücksichtigt werden müssten.

Man unterstützte damals "vollinhaltlich das von Michail Gorbatschow unterbreitete Friedensprogramm des Sozialismus, von dem kühnen Vorschlag, bis zum Jahr 2000 die Welt von allen Atomwaffen zu befreien". Aber Gorbatschow radikale Veränderungen, um den Sozialismus vor der Erstarrung zu bewahren, benötige die DDR nicht. Das habe die Entwicklung der DDR "eindeutig bewiesen": Die Einführung der Mikroelektronik und anderer Schlüsseltechnologien, die Bildung der Kombinate in Industrie und Bauwesen sowie der Kooperationsräte in der Landwirtschaft, das einheitliche sozialistische Bildungssystem all dies sind schöpferische Leistungen, die sich im Leben bewähren". 

Amerikas Weg ist nicht unserer

Wie Hager damals weiß Gysi heute, was läuft.
Gregor Gysi, einst der Retter der SED, hat ähnlich klarsichtig wie einst Hager erkannt, was die Amerikaner bezwecken. "Trump beseitigt gerade die freiheitliche, demokratische, rechtsstaatliche Ordnung", anaysiert er. Dahinter stecke die Überlegung, dass China den USA mit autoritären Strukturen überlegen seien, diesen Nachteil wolle er nicht dulden.  Die EU sei nun aufgefordert, zu beweisen, "dass demokratische, freiheitliche, rechtsstaatliche Strukturen den autoritären Strukturen überlegen sind", und das "nicht militärisch, sondern inhaltlich, von der Zustimmung der Bevölkerung her". Aus diesem - offenbar rein taktischen - Grund "müssen wir uns Gedanken machen, wie wir die Bevölkerung wieder gewinnen" und "auch Teile der AfD-Wählerinnen und -Wähler wieder zurückholen". Benehmen sie sich, dürfen sie wieder mitmachen.

Kein Grund für Änderungen

Darüberhinaus? Kein Grund, etwas zu ändern. Wie Robert Habeck, der die Europäer mit dem Traum zu begeistern versucht, die EU könne doch Google oder Facebook nachbauen, betonte Kurt Hager, dass "von einer tatsächlichen unheilbaren Erstarrung nicht der Sozialismus, sondern die kapitalistische Gesellschaft bedroht ist". Sie sei im Gegensatz etwa zu seinem Land nicht in der Lage, die sozialen Probleme der Völker zu lösen. Sie werde von Massenarbeitslosigkeit in den kapitalistischen Industriestaaten geplagt, sie verschulde den Ruin der Bauern, den Untergang ganzer Regionen durch Betriebsstilllegungen, die neue Armut und viele Erscheinungen des moralischen und geistigen Verfalls, die aller äußerliche Glanz dieser Gesellschaft nicht verbergen kann." 

Es ist der Sound der Theveßens, der Brinkbäumers, Hofreiters, Maas und Baerbocks, die auf der dünnen Wassersuppe der Anmaßung schwimmen und mit 75 Jahren geschenkter Demokratie im Rücken voller Leidenschaft Belehrungen an die 250 Jahre alte Demokratie verteilen, das sie ihnen geschenkt hat. Kurt Hager würde sich bestätigt fühlen, war er doch 1987 der Meinung, dass Meinungsverschiedenheiten im kapitalistischen Lager auch nicht offener diskutiert würden als im sozialistischen. "Immer wieder wird man davon überrascht, wie lange Meinungsverschiedenheiten von NATO-Staaten unter der Decke ausgetragen werden", sagte er. Und "Mit großen Tamtam werden sie dann plötzlich ans Licht gezerrt, zum Teil erst, wenn sie die heiße Zone der Auseinandersetzung überschritten haben."

Demokratie Marke DDR  

Den grundlegenden Dissens zwischen der DDR und ihrer Schutzmacht im Osten wollte Hager nicht sehen. Die KPdSU sei bestrebt, die sozialistische Demokratie in der Sowjetunion zu vervollkommnen, doch sie "betrachtet, wie ich weiß, den von ihr eingeschlagenen Weg nicht als Modell für die anderen sozialistischen Länder". Was die DDR anbelange, bedeutet Demokratie, dass Millionen Bürger in Parteien und Massenorganisationen, in Volksvertretungen, verschiedenen Verbänden und Interessengruppen, gesellschaftlichen Kommissionen und Aktivs, in den Haus- und Wohngemeinschaften mitwirkten und ihre demokratischen Rechte wahrnähmen. "Diese Demokratie ist lebendig und wird ständig weiterentwickelt."

Hier zeige sich besonders deutlich, dass die sozialistische Demokratie, wie Lenin sagte, millionenfach demokratischer sei als jede bürgerliche Demokratie. Zwei Jahre bevor die letzte Phase der Existenz seines Landes begann, war sich Kurz Hager noch sicher, dass sich das Volk der DDR unter Führung der Arbeiterklasse zur sozialistischen deutschen Nation konstituiert habe. Eine Wiedervereinigung sei nicht denkbar, denn es sei nicht möglich, "zwischen Sozialismus und Imperialismus eine Einheit herbeizuführen". 

Das passend geschliffene "Wer  zu spät kommt, den bestraft das Leben" belehrte ihn bald darauf eines Besseren.

Dienstag, 25. Februar 2025

Wahl-O-Rat: Sieger sehen anders aus

Meinungsforscher lagen auch bei dieser Bundestagswahl wieder dramatisch daneben
Für Meinungsforscher und für die Teilnehmer des Wahl-O-Rat®© war die Linkspartei eine Blackbox.

Irgendwo zwischen Forsa und Forschungsgruppe Wahlen kam die Union raus. Die Union lag dreieinhalb Prozent unter Allensbach, aber nur ein halbes Prozent über Forsa, die SPD kam beim Wähler besser weg als vorher bei den Meinungsforschern. Auch das BSW traf dieses Schicksal, während die Grünen die Demoskopen überzeugten, nicht aber ihre früheren Anhänger. Die Linke wurde dramatisch unterschätzt, die Sonstigen dafür deutlich über.  

Vorhersagen als Wahlkampfschlager

Wie immer funktionierte das professionelle Vorhersagen von Wahlausgängen vor allem als Wahlkampfschlager. Bewusst niedrige angesetzte Werte sollen Unentschlossene motivieren, den Ausschlag zu geben. Bewusst überhöhte Zahlen sollen denen, die sie gut finden, zeigen, dass sie damit richtig liegen und zu den Siegern gehören werden.

Was genau davon wie beim Wähler wirkt, wissen Forsa, Infratest, Dimap und Yougov bis heute nicht.  Nach ihrem verpassten Einzug in den Bundestag vermutet Sahra Wagenknecht, sie und ihr BSW seien vorab eigens als chancenlos dargestellt worden, um Wählern zu suggerieren, sie würfen ihre Stimme weg, wenn sie die Wagenknechte wählten. Die AfD hingegen, über Jahre ein Vorhersagesorgenkind aller Institute, hoffte diesmal vergeblich, wie sonst immer deutlich besser abzuschneiden als prognostiziert. Ausgerechnet bei der Partei, zu der zu bekennen sich ihre Wähler ein Jahrzehnt lang stets gescheut hatten, lagen die Demoskopen diesmal richtig.

Alle liegen immer daneben

Aber eben auch nur da. Bei der Union liegen die Abweichungen zwischen Ergebnis und Vorhersage zwischen 3,5 Prozent (Allensbach) und 0,5 Prozent (Forsa, Forschungsgruppe, Yougov), bei der SPD sind es 2,4 (Infratest) bis 0,4 (Yougov, Forschungsgruppe). Bei den Grünen lag Allensbach mit nur 0,4 Prozent daneben, Emnid, Forschungsgruppe und Infratest schafften es dafür, das Ziel um 2,4 Prozent zu verfehlen. 

Die FDP wurde von allen unter fünf Prozent gesehen, nur der Abstand variierte: Allensbach, Forschungsgruppe und Insa waren schließlich am nächsten dran und nur 0,2 Prozent vom Endergebnis entfernt. Bei der Linken siegten Forsa, Forschungsgruppe und Yougov, beim BSW dagegen Emnid, Insa und Yougov. 

Kein Institut mit keiner seiner Analysemethoden war überall gut. Und alles zusammengerechnet lagen die Vorhersagen für die Union bei 30 Prozent, bei der SPD bei 15, bei den Grünen bei 13,8, bei der FDP bei 4,3, bei der Linken bei 6,9, bei der AfD bei 20,5 und beim BSW bei 4,5 Prozent. Das Spektrum der Abweichungsbreite ist erstaunlich: bei CDU/CSU 1,5 Prozent, bei der SPD 1,4 bei den Grünen 2,2, bei der FDP genau null, bei der Linken 1,9, bei der AfD nahezu null und beim BSW geringe, aber entscheidende 0,5 Prozent. 

Systematisches verschätzen

Systematisch wurden Union und Grüne überschätzt, SPD, Linke und BSW hingegen unterschätzt. FDP und AfD waren die beiden Parteien, deren Wähler genau so abstimmten, wie es die Meinungsforscher vorhergesagt hatten - und das, obwohl alle Institute sich am gröbsten bei den "Sonstigen" verschätzten. Mehr als fünf Prozent würden Kleinstparteien wählen, hatten sie vorher prognostiziert. Es waren dann nur etwas mehr als halb so viele.

Die Meinungsforschung, im Wahlkampf ein steter Quell von Wahlkampfmunition, hat ihren Ruf damit ein weiteres Mal bestätigt. Es handelt sich um eine Wissenschaft wie Würfeln, die jede Menge Augen produziert, dabei aber blind bleibt. Mit dem Wahl-O-Rat®© hatte PPQ kurz vor der Bundestagswahl eine Tipp-Alternative angeboten, die darauf abzielte, auf dem Wege der Experimentaldemoskopie  Wahlergebnisse kollektiv vorauszuahnen. In der Vergangenheit hatte der Versuchsaufbau mehrfach  deutlich realistischere Zahlen produziert als die komplizierten und je nach politischer Färbung handkolorierten Meinungsforschungsinstitute.

Mit rund tausend Teilnehmern

Rund 1.000 Teilnehmer folgten diesmal der Bitte, nicht darüber abzustimmen, wie sie selbst wählen werden. Sondern einzuschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Parteien bestimmte Schwellenwerte überschreiten oder unterschreiten. 

Und erneut zeitigte der am An-Institut für Angewandte Entropie der Bundeskulturstiftung (AIAE) unter Forschungsleiter Hans Achtelbuscher entwickelte Versuchsaufbau verblüffende Erfolge: 56 Prozent der Teilnehmer sahen die Union richtig unter 30 Prozent abschneiden, 84 Prozent sagten richtig voraus, dass die Grünen weniger als 14 Prozent der Stimmen erhalten werden. 60 Prozent waren sich darüber einig, dass das BSW den Sprung in den Bundestag verpassen wird, bei der FDP sahen das sogar fast 90 Prozent richtig voraus.

Als wohl unbewusste beeinflusst von den allgemeinen Erwartungen zeigten sich die Teilnehmer dagegen bei SPD und Linkspartei: Nur eine Minderheit von 47 Prozent sah die ehemalige Arbeiterpartei über 15 Prozent einkommen, die Mehrheit dagegen billigte ihr nur unter 15 Prozent zu. Nicht der Rede wert waren die Prognostiker, die auf "über 17 Prozent" tippten und damit auch nur 0,7 Prozent vom Endergebnis entfernt lagen. 

Die im staatsamtlichen Kampf gegen rechts plötzlich wiedergeborene Linke war die Blackbox für die Teilnehmer. Nur ganz acht Prozent sahen die populistische Truppe um den neuen TikTok-Star Reichinnek bei mehr als sechs Prozent. Andersherum war es bei der AfD. Die hätte nach Meinung einer deutlichen Zwei-Drittel-Mehrheit der Umfrageteilnehmer mit über 22 Prozent der Stimmen in den neuen Bundestag einziehen müssen.

Eine gemischte Bilanz

Insgesamt also eine gemischte Bilanz. Wie die Umfrageinstitute produzierte auch der Wahl-O-Rat®© zum Teil Daten, die das Wahlergebnis verblüffend korrekt vorwegnahmen. Zu einem anderen Teil aber diktierten auch den zum Versuch einer möglichst objektiven Bewertung aufgerufenen Freiwilligen eigene Wünsche und subkutan von Medien induzierte Erwartungen kollektive Bewertungen, die - vor allem im Bezug auf die Linke - weit weg  vom Ergebnis lagen.

Aufwand, Nutzen und Gesamtertrag betrachtet, spielt der Wahl-O-Rat®© jedoch ein weiteres Mal seine Überlegenheit aus. Sowohl bezogen auf die einzelnen Parteien als auch gesamtprozentual gesehen lag er viermal richtiger als die professionelle Demoskopie, dreimal irrte er, aber nur einmal - bei der AfD - deutlicher als die Meinungsforscher. 

Times are never changing: Stühlerücken statt Scherbengericht

In alten Schuhen zu neuen Tänzen: Die Brandmauer ist das geheime Wappentier der Republik.

Halleluja, sie sind fast alle noch da. Nachdem der Pulverdampf der Wahlschlacht sich verzogen hatte, glaubten viele an ein großes Scherbengericht. Wahlverlierer wie Olaf Scholz, Robert Habeck oder Sahra Wagenknecht würden von ihrer Parteibasis vom Hof gejagt werden. Parteistrategen wie Lars Klingbeil oder die erst im Herbst neu installierte Führung der Grünen würden nach einem Debakel mit Ansage nicht ungeschoren davonkommen.  

Alle Zeichen standen auf Neuanfang, selbst noch nachdem der größte Kelch durch das Scheitern des Bündnis Sahra Wagenknecht an der geschrumpften Zahl der weiterhin bundesweit tätigen Parteien der demokratischen Mitte vorübergegangen war. 

Wie immer anders

Doch es kam wie immer wieder wie immer anders. Aus dem Scherbengericht wurde ein verschämtes Stühlerücken, vollzogen in einer Geschwindigkeit, die verrät, dass jede einzelne Personalentscheidung seit Wochen vorbereitet worden war. Aussortiert wurde nicht nach Größe und Umfang des angerichteten Desasters oder persönlicher Verantwortung für Stimmenverluste, die die betroffenen Parteien Macht, Einfluss, Posten und Millionen kosten. Sondern danach, wer schadlos aussortiert werden kann. 

Abgesehen von der FDP, in der mit Christian Lindner der Federführer der Misere und mit Wolfram Kubicki ein langjähriger Warner vor dem fatalen Lindner-Kurs zugleich den Abgang machten, blieben die großen Abschiede aus. Wagenknecht will nicht mehr wissen, dass sie eigentlich nicht mehr weitermachen wollte, wenn ihrer Partei der Sprung in den Bundestag im ersten Anlauf misslingt. Olaf Scholz verwies stolz auf sein gewonnenes Direktmandat. Als Hinterbänkler ohne Posten, vielleicht aber auch - seine große Erfahrung! - als etwas mehr bleibt er der Sozialdemokratie noch vier Jahre erhalten.

Rücktritt ohne Amt

Die Grünen, der andere große Verlierer neben dem kleinen Sieger CDU, machen weiter wie bisher. Baerbock, Brantner, Banaszak und Giegold, alle bleiben, nur Robert Habeck bockt. Der "grüne Parteichef" (MDR) ziehe Konsequenzen und stehe für eine "Führungsrolle" (Habeck) künftig nicht mehr zur Verfügung. Angeboten hatte sie ihm niemand aus dem #TeamHabeck, zum Zurücktreten hat der 55-Jährige nichts außer der Klimawirtschaftsministerstelle, die "bis Ostern" (Merz) passe sein soll. 

Als Meister der Dramatik aber schafft es der Held aus Heikendorf auch im Moment seiner größten Niederlage, davonzureiten, als habe er alle seine Gegner geschlagen. Habeck hat kein Parteiamt, aber er legt es nieder. Habeck hat die Grünen an Küchentisch und Talkshowpult mit Enteignungsfantasien und Strafanzeigen holterdipolter ins Jahr 2013 zurückgewahlkämpft. Aber er wird nun "keine führende Rolle in den Personaltableaus der Grünen mehr beanspruchen". König Demoktratus der Bescheidene, ungebeugt und ungebrochen.

Vielleicht geht er so ganz

Kommt es ganz dicke für Wählerinnen und Wähler, lässt Habeck die Politik ganz sausen. Zuversicht! Zusammen! Nach Kevin Kühnert wäre er schon der zweite Hoffnungskader, der im ersten Gegenwind die Brocken hinwirft. "Ich wollte mehr", hat Habeck gesagt, bitter enttäuscht. Die ihn umzingelnde Wirklichkeit aber wollte nicht. Und wenn jetzt nicht bald ganz schnell die Basis "Ruft doch mal Martin" ruft, macht er ernst. Dann soll sie doch sehen.

So unverfroren die Ampel-Parteien nach ihrem Scheitern im Amt zur Wahl mit demselben Personal antraten, um den nächsten großen Neuanfang auszurufen, so ungeniert gehen ihre Spitzen jetzt davon aus, die Richtigen für die nächste Aufgabe zu sein. Neuaufbau der Partei, näher ran an die Arbeiter, wieder linker werden und dann wieder stärker. 

Annalena Baerbock wird Oppositionsführerin der Linken, wenn es sich Robert Habeck es sich nicht doch noch einmal anders überlegt. Aus Verantwortung fürs Vaterland. Lars Klingbeil, unter dessen Ägide die SPD in nur vier Jahren zwei von fünf ihrer Wähler verlor, wird die Koalitionsverhandlungen mit der Union führen, um sich und den Apparat in die kleinste große Koalition aller Zeiten zu führen. 

Hält der Strohalmbann

Ein schöner Erfolg für den Mann aus Soltau, der die deutsche Sozialdemokratie spätestens 2029 als Kanzlerkandidat für die nächste Pleite fit machen wird. Bis dahin ist viel zu tun - die politische Polarisierung muss konserviert, der in anderthalb Jahren drohende Fall des ersten Bundeslandes an die Blauen argumentativ vorbereitet werden. 

Dann sind da noch die existentiellen Herausforderungen auf internationaler Bühne: Hält der EU-Strohhalmbann nach Trumps demonstrativer Rückkehr zur Plastikröhrchen? Lassen sich Wählerinnen und Wähler weiter hinhalten? Können Deutschland und Europa es mit Russland, einer Handvoll EU-Partnern und den USA gleichzeitig aufnehmen? Und wird Deutschlands exportorientiertes Wachstumsmodell weiterhin genug abwerfen, um sozialer zu regieren und den Rüstungshaushalt trotzdem demonstrativ weiter aufzublasen?

Die Zeitenwenden folgen mittlerweile im Monatsrhythmus aufeinander, doch die Zeiten ändern sich nicht. Wie in einer Zeitkapsel sind die Merkel-2000ern zwischen Flensburg und Füssen, Aachen und Oderaue konserviert. Rasend schnell zieht die Zukunft vorbei, nur die industrielle Basis verschleißt moralisch noch schneller. 

Die nächste Regierung, im Herzen Groko, im Inhalt Ampel, wird wieder viel Gegensatz zu einem fadenscheinigen Hemd aus politischen Gemeinsamkeiten stricken, das so eng sitzt, dass große Sprünge nicht zu fürchten sind. Aufbruchsstimmung wird durch den Neuzuschnitt von Zuständigkeiten simuliert werden. Von den überfälligen Themen darf sich nur die Schuldenbremse auf eine "Reform" freuen, die einer verschwiemelten Abschaffung gleichkommen wird.

Eingeigelt im Weiterso

Außerhalb des Regierungsviertels ahnen die Menschen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Die meisten wissen es sogar schon ganz sicher. Im politischen Berlin aber haben die Kämpfer gegen den Merz-Faschismus und ihre Zielscheibe noch einmal Gelegenheit, sich im Weiterso einzuigeln und den Stillstand abwechselnd mit Ablenkungsmanövern, Ankündigungen und Selbstbeschäftigung zu füttern. Hilft gar nichts mehr, tut es auch die Verteidigung der Brandmauer noch mal, die längst zum geheimen Wappentier der Republik geworden ist, der die Vergangenheit schon immer besser gefallen hat als alles, was da noch kommen könnte. Gestern ist die Währung, mit der man Zeit kaufen kann, um dringende Probleme auf die lange Bank zu schieben. 

Gestern steht heute hoch im Kurs. 

Montag, 24. Februar 2025

Finale in Fußfesseln: Schwarz-Rot, zum Anpfiff schon halbtot

Der Deutsche Bundestag in Berlin baut seit Jahren an einem progressiven Sichtgraben, hinter dem unsere Demokratie sicher vollzogen werden kann.

Alles danach ist wie alles davor. Eine von drei Ampelparteien können weiterregieren, beinahe wären es sogar zwei gewesen. CDU und CSU übernehmen die Führung von der SPD, die SPD ersetzt die Grünen als größerer Regierungspartner. Die Grünen hatten lange gehofft, noch an die Stelle der FDP rücken zu können, die ihre Restlaufzeit erreicht hat.  

Doch 13.000 Stimmen fehlten Sahra Wagenknecht, um Robert Habeck zurück ins Wirtschaftsministerium oder - der nächste grüne Fraktionschef im Bundestag träumte schon lange davon - ins Finanzministerium zu verhelfen. Ja, es kam am Ende schlimmer als erwartet. 

Fortsetzung des Stillstandes

Aber nicht so schlimm, wie es am Wahlabend noch ausgesehen hatte. Deutschland steht nicht vor dem Neuanfang, sondern vor einer entschlossenen Fortsetzung des Stillstandes. Four more years voll grundloser Zuversicht, ohne Plan und ohne Aussichten, ihn umzusetzen. Einmal mehr ist es den Parteien der Mitte gelungen, die Lösung der "ungelösten Probleme" (Friedrich Merz) glaubhaft genug zu versprechen, um gemeinsam eine Mehrheit im Bundestag zusammengewählt zu bekommen. Einmal mehr kommt es am Tag danach nicht zum großen Scherbengericht. Sondern nur zu ein wenig pflichtschuldigen Stühlerücken.

Die Vorstellungen von Schwarz und Rot und Grün liegen nach dem Wahltag in allen Bereiche so weit auseinander wie vorher. Es würde zu zweit reichen, die nächste Legislaturperiode zumindest anzugehen. Nächste Fortschrittskoalition.

Nächste Wackelversammlung. In nahezu keinem Bereich sind gemeinsame Beschlüsse möglich, ohne dass wenigstens ein Beteiligter seinen erklärten Grundprinzipien untreu werden müsste. Nur bei der Ablehnung der Einmischung aus Amerika, den Friedensplänen Trumps für die Ukraine und der notwendigen Aufrüstung sind sich Union, SPD und Grüne einig, so weit sogar, dass sie bereit wären, eher die Nato platzen zu lassen als das Gespräch mit Washington zu suchen.

Der einzige Kitt

Anti-Amerikanismus als einziger Kitt einer Koalition der Schwachen und Kranken. Darüber hinaus aber lärmend lauter Dissens bei Migrations- und Wirtschaftspolitik, beim Sozialen und bei der Energiepolitik, bei der Rente, beim Arbeitsmarkt, bei der Klimarettung und bei der weiteren Ausweitung der Verschuldung. Ob das reichen wird, die längste Rezession der bundesdeutschen Geschichte mit einem Befreiungsschlag zu beenden, wie ihn Friedrich Merz seinen Wählern versprochen hatte? 

Merz wird ein schwacher Kanzler. Der Christdemokrat, im Wahlkampf von Mutausbrüchen getrieben, die sich mit spontanen Furchtanfällen abwechselten, hat gegen eine von seinem künftigen  Koalitionspartner geführte Regierung, die so unbeliebt war wie noch keine vor ihr, nicht einmal fünf Prozent mehr geholt als sein Vorgänger, der als unbeliebtester Kanzler aller Zeiten in die Geschichtsbücher eingeht. Das größte Glück des Neuen im Kanzleramt besteht darin, nicht auch noch die Grünen zu brauchen, um seiner früheren Chefin Angela Merkel zu zeigen, was ihr früherer Fraktionschef alles kann.

Kein Klimamärchen aus Kenia

"Kenia" hätte als Begriff herhalten müssen, der dem abenteuerlichsten Regierungsgebilde aller Zeiten den Zauber des Anfangs zu verleihen. Das echte Kenia hat 56 Millionen Einwohner, es ist bekannt für Menschenrechtsverstöße, Kinderprostitution und die systematische Verfolgung von Homosexuellen auf der Grundlage anachronistischer Gesetze und der scheidende Bundeskanzler nutzte es im Mai 2023, um den Menschen daheim ein Klimamärchen aus Afrika zu erzählen

Das deutsche Kenia hätte sich am  afrikanischen Energiewunder orientiert, von dem das ZDF bewundernd berichtete, es gewinne "bereits 90 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien". Und das, während es seinen CO₂-Ausstoß seit 1993 vervierfacht, aber nach wie vor keine stabile Stromversorgung hat.

Dank Wagenknechts Pleite bleibt der Union die ganz große Koalition mit den Wahlverlierern erspart. Nur die SPD muss ran, aus vaterländischer Verantwortung. Noch in der Wahlnacht lieferte ein Speditionsunternehmen aus Rumänien im Auftrag der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin am Hintereingang des Willy-Brandt-Hauses eine Wagenladung mit Worthülsen ab. 

Von "unsere Demokratie" bis "politischer Neuanfang" über "besser erklären", "Blick nach Amerika" und "die EU muss jetzt gemeinsam" beziehungsweise "Europa muss jetzt fest zusammenstehen" ließ sich die älteste deutsche Partei komplett neu mit Phrasen ausstatten. 

Zwei Jahre Frist

Die Partei, die als einzige aktuelle und künftige Regierungskraft bereits einmal von den Behörden wegen "gemeingefährlicher Bestrebungen" verboten worden waren, weiß, dass es vier schwere Jahre werden, wenn alles gut geht. Die Opposition ist viel linker, sozialer und großzügiger zu Armen, Geflüchteten und den Opfern der kapitalistischen Verwertungslogik. Schlechte Karten für Lars Klingbeil, den neuen starken schwachen Mann an der Spitze der tief gespaltenen Partei, die nur darauf hoffen kann, dass der neue Niedersachse in den Schuhen von Brandt, Schmidt, Schröder, Schulz und Scholz in seiner langen Berufstätigkeit im Parteiapparat genug gelernt hat, die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Die Union dagegen wird den Reformmotor des nach der Fahne der Antifabewegung auch als "Anarcho"-Koalition bekannten Bündnisses wenigstens spielen wollen. Zumindest zwei Jahre lang, so rechnen die Strategen im Konrad-Adenauer-Haus, sollte das reichen, um die Geschäfte fortführen zu können, ehe voraussichtlich geschürt von Rechtsextremisten und russischen Bots wieder erste Unruhe wegen des anhaltenden Niederganges aufkommt.

Endkampf mit den USA

Zumindest den Endkampf mit den USA will Friedrich Merz dann hinter sich gebracht haben. Großzügig hat der Erste-Klasse-Passagier auf der USS Nato dem bisherigen Verbündeten noch in der Wahlnacht die Hand angeboten - er begrüße es, wenn die "USA weiter an Bord bleiben", sagte Merz über den langjährigen Waffenbruder. Lenke das Weiße Haus unter Donald Trump jedoch nicht entsprechend ein und verzichte auf seine Maximalforderungen bei Meinungsfreiheit, Ukrainekrieg und Revitalisierung mit der Kettensäge, werde er Europa in einen einsamen Zweifrontenkrieg gegen die Autokraten in Moskau und Washington führen.

Klare Worte, wie sie sich viele Wählerinnen und Wähler der Union schon so lange gewünscht hatten. Mag es auch sein, dass Merz trotz neuer Burgfriedenpolitik innenpolitisch wenig erreichen kann, gefesselt an eine Verteilungspartei wie die SPD und gejagt von einer Opposition, deren Taschen nur Zusammensetzung noch viel weiter offen sind als bisher. Mag es auch sein, dass sich das veränderte Europa auch nach der Rückkehr des alten, müden Sheriffs Deutschland nicht so einfach auf Linie bringen lässt wie früher, als Angelas Merkel sich einfach mit einem inzwischen verurteilten Straftäter zusammensetzte, um in "Stunden hektischer Krisendiplomatie" (Zeit) die Welt zu retten.

Das Endspiel um die Zukunft

Friedrich Merz weiß genau, was auf dem Spiel steht. Die kurze Zeit bis 2029 hat der 69-Jährige im Wahlkampf selbst immer wieder als letzte Chance der vielen Parteien der demokratischen Mitte bezeichnet, Wirtschaft, Wohlstand, das Land, Europa und damit "unsere Demokratie" zu retten. Die Wählerinnen und der Wähler haben mit ihrem Votum bestimmt, dass Merz mit Fußfessel, verbundenen Augen, in Handschellen und mit der SPD als zusätzlichem Fußeisen aufläuft.