Sonntag, 19. Januar 2025

Verpuffte Verwarnung: Digitale Kriegserklärung

Henna Virkkunen Europas neue oberste Meinungsfreiheitsschützerin
Henna Virkkunen ist die neue starke Frau der EU für die Durchsetzung der europäischen Variante der Meinungsfreiheit im Netz. Abb: Kümram, Buntstift auf Butterbrotpapier

Der Warnschuss ist verpufft. Die große Geste hat alle Luft gelassen. Obwohl die neue EU-Digitalkommissarin Henna Virkkunen nur wenige Wochen nach Dienstantritt einen Rückzieher vom Rückzieher bei der Genehmigung von Posts von US-Milliardär Elon Musk auf seiner Plattform X gemacht hat, bleibt die erwünschte Wirkung aus.  

Nach der öffentlichen Beteuerung von Facebook-Chef Mark Zuckerberg, die Meinungsfreiheit auch gegen den Widerstand Europas wiederherstellen zu wollen, hat auch der Suchmaschinenkonzern Alphabet der EU-Kommission mitgeteilt, dass es keine Pläne gebe, sogenannte "Faktenprüfungen" in Suchergebnisse und YouTube-Videos einzubauen. Unter Berufung auf den häufig als EU-Gesetz bezeichneten Digital Service Act hatte die EU das als "Anforderung" bezeichnet, die US-Konzerne erfüllen müssten. 

Ultimatum an X

Um dem Verlangen Nachdruck zu verleihen, war das seit mehr als einem Jahr laufende Verfahren gegen die Kurznachrichtenplattform X verschärft worden - Henna Virkkunen, EU-Exekutiv-Vizepräsidentin  für technische Souveränität und Digitale- und Grenztechnologien, hatte X-Besitzer Elon Musk aufgefordert, interne Dokumente zur Verfügung zu stellen, die Auskunft über "Änderungen an Algorithmen" geben.

Sollten die Informationen bis Mitte Februar nicht herausgegeben und der Behörde Zugang zu bestimmten Programmierschnittstellen gewährt worden sein, drohte die EU dem Unternehmen mit der Verhängung einer Geldbuße in Höhe von bis zu sechs Prozent des weltweiten Jahresumsatzes.

Kommissionschefin Ursula von der Leyen folgt damit ihrer Strategie, der EU einen "Weg in eine neue digitale Welt" zu ebnen, indem die umfassenden europäischen Regeln genutzt werden, um die ausländischen Multis zu melken. Befürchtungen, dass die Kommission trotz vieler Forderungen aus der Zivil- und Mediengesellschaft vor den Tech-Konzernen einknicken könnte, hatten zuletzt Zweifel geweckt, ob das gegen den sich formierenden Widerstand aus den USA weiterhin möglich sein wird. 

Symbolische Friedensgeste

Als symbolische Friedensgeste Richtung Washington hatte von der Leyen noch vor dem Dienstbeginn der neuen Kommission den als Scharfmacher geltenden Franzosen Thierry Breton aussortiert - in der Hoffnung, dass die freien Meinungsextremisten Musk, Zuckerberg und der hinter ihnen vermutete Donald Trump sich damit beruhigen lassen und auf eine offene Kraftprobe im digitalen Raum verzichten.

Ein Irrtum. Erst nutzte der "Staatsfeind Nummer 2" (Spiegel) Elon Musk den gewährten Spielraum weit über Gebühr aus. Dann schloss sich der bis dahin handzahme Mark Zuckerburg mit einer unverblümten Kriegserklärung, in der er sich zur Behauptung verstieg, er müsse die "freie Meinungsäußerung wiederherstellen" und im Zuge dieser Restauration der Grundrechte auch die „institutionalisierte Zensur“ in der EU beenden.

Verweigerung von Google

Henna Virkkunen, ausgebildete Philosophin und Trägerin des "Energy Award" der EU-Parlamentszeitschrift, blieb in dieser Situation kaum etwas anderes übrig, als ein Zeichen zu setzen. Die Hoffnung aber zerstob, bei den Multi-Billionen-Konzerten damit ein Umdenken zu erzwingen. Weder hat X bisher auf das Ultimatum reagiert noch hat sich Zuckerberg hin zum Einlenken entschlossen. Ganz im Gegenteil: In einem Schreiben an Renate Nikolay, die stellvertretende Generaldirektorin der Abteilung für Inhalte und Technologie der Europäischen Kommission, hat nun auch noch die Alphabet-Tochter Google erklärt, die im neuen EU-"Verhaltenskodex für Desinformation" geforderte Integration von Faktenprüfungen nicht umsetzen zu wollen.

Ein demonstrativer Affront, galt doch die in Europa mehr noch als in den USA dominierende Suchmaschinenfirma bisher als willigster Partner der Gemeinschaft bei der Umsetzung von Plänen, die Verbreitung von "ungefilterten Meinungen" (Roman Poseck) zu verhindern. Jetzt aber behauptet Google, dass die Befassung von Faktencheckern "für unsere Dienste nicht angemessen oder effektiv" sei. Wie X und Facebook werde eine von Nutzern übernommene Kollektivbewertung, die immer vergangenen Jahr bei YouTube eingeführt wurde, vielleicht ausgebaut, so dass Benutzern selbst kontextbezogene Notizen zu Videos hinzufügen könnten. 

Mangel an eigener Infrastruktur

Für die Pläne der EU, die seit 2018 als "freiwillig" geltenden Schutzmaßnahmen für richtige Meinungen mit einem offiziellen Verhaltenskodex im Rahmen des DSA verpflichtend zu machen, ist das ein schrecklicher Rückschlag. Da die EU selbst über keinerlei digitale Infrastruktur wie Videoplattformen, Kurznachrichtendienste oder irgendwelche sozialen Netzwerke verfügt, sind die Hebel der Kommissare kurz, die US-Anbieter zu disziplinieren. Kaum eine Regierung in einem EU-Land wird es wagen, in einem Nahkampf mit den digitalen Giganten einen Krieg mit der eigenen Bevölkerung zu riskieren, indem sie eine Sperrung der Dienste nach brasilianischem Vorbild verfügt.



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