|
Weniger ist mehr und gar nichts manchmal alles: Statt D-Wort und H-Wort durch ,Okay, Boomer' zu ersetzen, wahrt die "Tagesschau" weiter einen äußeren Anschein von Seriosität. |
Es war eine schwere Geburt bis zu diesem enormen Sprachschritt in eine gerechtere Zukunft. Monatelang hatte sich ein Sonderteam der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin die Köpfe heißdiskutiert, man hatte gebrütet, geplant und verworfen, schließlich ging es diesmal nicht um irgendetwas.
Sondern um eine echte Zeitenwende: Nach Jahrzehnten hatte die ARD die BWHF damit beauftragt, eine neue Begrüßungsanrede für die nach wie vor beliebteste deutsche Nachrichtensendung zu designen. Gerechter und nachhaltiger sollte sie sein, dazu mehr Menschen mitnehmen und leichter im Abgang schmecken.
D-Wort und H-Wort
Hintergrund der Entscheidung, sich vom sogenannten D-Wort ebenso zu trennen wie vom H-Wort war die in der Zivilgesellschaft immer lauter werdende Kritik an der Ausschließeritis, die mit beiden Begriffen einherging. Wer sich weder als "Dame" noch als "Herr" definierte, werde vom Empfang der Tageswahrheiten ausgeschlossen, hieß es.
Die traditionelle Ansprache "meine Damen und Herren" in der Begrüßung zum Start der Nachrichtensendung um 20 Uhr, die erst im Oktober mit der "Großen Suppenkelle" ausgezeichnet worden war, nehme nicht alle Zusehenden mit. Immer mehr Menschen definierten sich weder als "Dame" noch als "Herr". Immer mehr Politiker verzichten nicht nur auf Inhalte, sondern auch auf die früher für angemessen gehaltene Form.
Bürgerlichkeit, Sitte, Verbildlichkeit, Höflichkeit. Sämtlich Konzepte von vorgestern. Coole Gemeinsinnsenderkinds von heute sprechen einander mit "Bro" an und ihre Empfänger mit Du. "Die Systemgastronomen des Infotainments verheißen zwar keine Verbindlichkeit mehr", hat der Netz-Philosoph Michael Nongrata beschrieben, "aber immerhin Inklusion. Und wer das beklagt, sollte schon gute Türen haben!"
73 Jahre mit D- und H-Wort
Für die BWHF, die mit frischen Worthülsen
schon große politische Krisen gelöst und
europäische Brandherde gelöscht hat, eigentlich ein Routineauftrag. Allerdings waren sich die Mitarbeitenden von BWHF-Chef Rainald Schawidow von Anfang an der Brisanz des Auftrages bewusst.
Seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1952 hatten Generationen von Nachrichtensprechern Generationen von Zuschauenden als "Damen und Herren" begrüßt, unabhängig von deren wirklichem Geschlecht. "Dass ein Bruch mit dieser Tradition sorgfältig geplant und sensibel umgesetzt werden muss, war uns klar", beschreibe Schawidow.
Nur die Frage, wie die
neue Ansprache lauten soll, blieb über Monate unbeantwortet. Anfänglich favorisierte Überlegungen, D-Wort und H-Wort im gewohnten Satz "Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur 'Tagesschau' durch den Begriff "meine Zuschauenden" zu ersetzen, scheiterten am Einspruch von Benachteiligtenvertretern, die Schawidow zufolge darauf hinwiesen, dass alle nur Zuhörenden damit brüskiert würden.
Vorschlag aus der Jugendbrigade
Auf ein einfaches, "Hey, ihr da", eingebracht von einer Jugendbrigade der BWHF, konnte sich die Abnahmekommission nicht einigen. "Es gab Vorbehalte, weil zwar richtigerweise auf die abnehmende Förmlichkeit selbst im politischen Betrieb hingewiesen wurde, doch bei der ,Tagesschau' immer noch zumindest auf einen äußeren Anschein von Seriosität Wert gelegt wird."
Deshalb sei auch das "Hallo, grüß Euch alle" nicht mehrheitsfähig gewesen. "Obwohl Bürgerinnen und Bürger ja längst von allen möglichen Firmen, Parteien, Institutionen, Sendern und Behörden geduzt werden, schien einer Mehrheit der Findungskommission die Zeit noch nicht reif für so einen Schritt."
Auch das "Ok, Boomer", mit dem die Sprecher einer Mehrheit der Findungskommission zufolge künftig jede Sendung hätten eröffnen sollen, fiel nach langen Beratungen durch. "Alle anderen Generationen hätten sich benachteiligt und nicht ausreichend mitgenommen gefühlt, da waren wir uns sicher."
Rücksicht auf den ländlichen Raum
Eine Begrüßung im Stil des großstädtisch-progressiven Umgangs mit
N-Wort, S-Wort und M-Wort hingegen "hätten wohl viele Bürgerinnen und Bürger gerade in den ländlichen Gegenden kaum verstanden". In Hamburg habe man Widerstand befürchtet und mit Rücksicht auf den Charakter der Sendung als letztes Lagerfeuer der Nation von einer Lösung wie "Guten Abend, meine D-Worte und H-Worte, ich begrüße Sie zur 'Tagesschau' verzichtet.
Nachdem auch weder ein freundschaftliches Kumpel-Hallo noch das nordische "Moin, Moin" noch "Servus, Leute" oder das aus der Willkommenskultur bekannte "Salem Aleikum" eine Mehrheit fanden, kam die Rettung in letzter Minute. "Ein junger Mitarbeiter wies darauf hin, dass es im politischen Geschäft üblich ist, über alles das, wovon
man nicht sprechen will, einfach zu schweigen."
An diesem
Vorbild habe man sich dann orientiert und sowohl D-Wort als auch H-Wort einfach gestrichen. "Ungewöhnlich, dass wir als Bundesworthülsenfabrik nicht spannende Neubegriffe wie Euro-Rettungsschirm", "Energiewende" und "Wachstumspakt", "Mietpreisbremse",
"Stromautobahnen" oder "Putinflation" ins Gespräch bringen", sagt Rainald Schawidow, für den die einfache Auslassung irritierender und verstörender Worte auch eine Premiere ist. Schawidow ist umso mehr zufrieden mit der gefundenen Lösung. "Wir haben gezeigt, dass weniger mehr ist und gar nichts manchmal alles", sagt er stolz.
5 Kommentare:
Neben der Inklusion wird das Thema Exklusion zu stiefmütterlich behandelt.
Ich schlage vor
Guten Abend meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Neger - außer AfD!
OT das Internet hilft Fefe
Fefe: Wer baut eigentlich Autopiloten, die das Schiff in ein Riff fahren?
Jemand, der weiß, dass Autopiloten und autonomes Fahren zwei verschiedene Dinge sind.
"Guten Abend allerseits" frei nach Heribert Faßbender würde gehen. Da sind Alle mit eingefangen.
"-seits" - sehr tendenziös
der unbestechliche karl doemens fasst es wunderbar zusammen: https://www.derstandard.at/story/3000000246465/der-amerikanische-rechtsstaat-hisst-die-weisse-fahne
Kommentar veröffentlichen