Ein Wochenende später ist die Sache im Grundsatz klar. Wer jetzt Fragen stellt oder Behördenhandeln infrage, wer Schuldige sucht, fassungslos ist über das, was sich aus 18 Jahren Lebensgeschichte des Bernburger Arztes Taleb Al Abdulmohsen in Deutschland ergibt, oder gar Wut und Ohnmacht fühlt, gibt dem mutmaßlichen Mörder von Magdeburg im Nachhinein recht.
Dass vielfache Hinweise auf die Gewaltfantasien des Flüchtlings aus Saudi-Arabien nicht beachtet wurden, dass Ämter und Behörden abwiegelten und sich für nicht zuständig erklärten, werfe Fragen auf, heißt es überall. Schon beunruhigend, dass ein "Anhänger des globalen Rechtsextremismus" sich als Flüchtlingshelfer habe tarnen können, um gegen Asyl und Migration mobil zu machen. Doch deswegen schon wieder vom modischen "Staatsversagen" zu reden, sei eine Instrumentalisierung des Anschlages im Wahlkampf, die niemand wollen könne.
Fair geht vor
Gerade noch rechtzeitig haben sich die demokratischen Parteien inklusive der - kurzfristig in die bürgerliche Familie aufgenommenen Linken - auf ein Fairnessabkommen für einen gelingenden Wahlkampf geeinigt. Niemand soll Trennendes überbetonen, niemand soll mit frei erfundenen Geschichten Stimmung machen oder hastig den Stab brechen über Entscheidungen von Strafverfolgern, gegen Schwachkopfverbrecher vorzugehen, nicht aber gegen einen Mann, der schon 2013 mit einer ersten Anschlagsdrohung aktenkundig wurde.
In der Stunde der Not, dass das Wahlvolk in ein paar Wochen fast alle Parteien mit dem Bade ausschüttet, sind Parteibücher dicker als Tränenwasser. Zusammenhalten von Söder bis zur Kommunistischen Plattform, vom Team Habeck über die neuen Neoliberalen in der Kettensägen-FDP bis zu der AG Anonymer Sozialdemokraten in der SPD, das ist das Gebot der Stunde. Sich nicht locken lassen von Leuten, die mit Vorwürfen um sich werfen, weil sie spalten wollen.
Wahrheit braucht Zeit
Aufarbeitung braucht Zeit, gerade weil die Geschichte der Gewaltandrohungen der "mutmaßlich für den Anschlag in Magdeburg verantwortlichen Person" (BAMF) bis in eine Zeit zurückreicht, als das progressive Deutschland noch vergeblich für ein Verbot der NPD kämpfte und die Junge Union der SPD standhaft gegen eine Große Koalition mit der Merkel-CDU auftrat.
Abdulmohsen nutzte seinerzeit noch ein Telefon, um Handlungen anzukündigen, "die international Beachtung" finden würden. Was blieb ihm auch übrig. X war damals noch Twitter, keine Kloake des Bösen, an dem sich US-Milliardäre mit unzulässigen Meinungsäußerungen in den deutschen Wahlkampf einmischten. TikTok, die chinesische App, über die Russland für ein paar Pfennige die rumänische Präsidentschaftswahl torpedierte, gab es noch nicht.
Hetze nach Feierabend
Eine Hausdurchsuchung später gelang es, den Mediziner gesellschaftlich zu integrieren. Abdulmohsen fand ein Auskommen, er betreute Suchtkranke und machte sich im Justizsystem als "Dr. Google" einen Namen. Seine Tätigkeit als Aktivist, Onlinehetzer und Gewaltandroher verlegte er auf die Zeit nach Feierabend. Nur, wenn es gar nicht anders zu schaffen war, ließ er sich krankschreiben. Hinweise auf sein Treiben gab es. Als Gefahr wurde der "aggressivste Islamkritiker" nicht gesehen, denn Taleb Al Abdulmohsen kämpfte mit offenem Visier, unter Klarnamen und als gern gesehener Gast bei FAZ. "Zeit" und BBC.
Natürlich braucht es vor diesem Hintergrund jetzt nichts dringender als einen neuen Anlauf zur Vorratsdatenspeicherung. Bundesinnenministerin Nancy Faeser drängt CDU und FDP, Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse zu geben. Der Staat braucht nicht nur das Recht, auf der Suche nach Taschenmessern in die Handtaschen älterer Damen schauen zu dürfen, sondern "alle notwendigen Befugnisse und mehr Personal", um "die Menschen in Deutschland vor entsetzlichen Gewalttaten zu schützen". Hätte es etwa die biometrische Überwachung schon vor Magdeburg gegeben, davon ist die scheidende Innenministerin überzeugt, dann.
Hoffnung auf Vergessen
Während die großen Gemeinsinnsender Trauer tragen und die Bundespolitik auf gnädiges Vergessen der Tragödie über die Feiertage hofft, ist die Gefahr einer "Instrumentalisierung" als fürchterlichste Folge des Anschlages ausgemacht worden. Betroffenheit und Schock sind erlaubt, Empörung und Wut hingegen den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährden damit Ruhe und Ordnung.
"Nur nicht schrein, mit der Zeit wird das schon, alles bringt euch die Evolution", schrieb Theobald Tiger in seinem gleichnamigen Gedicht schon vor 100 Jahren, als es nach den Reichstagswahlen von Anfang Dezember 1924 noch immer keine Regierung gab, die Alliierten drohten, Köln räumen zu lassen und trotz gesenkter Reparationszahlungen kein Aufschwung in Sicht kam. Es braucht jetzt Geduld, Geduld und Zutrauen zu den Verantwortlichen.
Annalena Baerbock hat umgehend eien Aufarbeitung aller Hintergünde des Anschlages zugesagt. Sobald Zeit ist, wird das alles mit Mannheim, Solingen und Corona zusammen aufgearbeitet. Ein Abwasch. Und eines Tages wird mitgeteilt werden, was es über Taleb Al Abdulmohsen zu sagen gibt.
Bis dahinnun aber bitte nur noch Besinnlichkeit.
2 Kommentare:
Da die Spiegelsterne ihren Topmüll vor normalen Menschen verstecken, muss die URL reichen.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-und-fdp-und-gruene-nach-magdeburg-bundespolitiker-warnen-vor-ueberbietungswettbewerb-nach-anschlag
Mit Überbíetungswettbewerben hat man sich nach dem Nichtgeheimtreffen der AfD-Nichtverschwörer oder nach Verhaftung der Reichsrentnerarmee ja schon ausreichend ausgetobt.
Im Salär kassieren und Schuld von sich weisen sind deutsche Experten alle Spitze, im Arbeitsalltag jedoch auch nicht klüger als der Buntesdurchschnitt. Dafür aber zusätzlich mit ignorant arroganten Bürokraten- und Beamtenstandesdünkeln gesegnet.
Wer vom Ausbildungsbeginn an im mentalen Zwangsjackenmilieu von Gesetzen, Paragrafen, Vorschriften und Bescheiden unterwegs ist, die ihm jede Reaktion vorschreiben, ist zu normal intelligenten Denkprozessen nicht mehr fähig. Und ein genau so unterbelichtet obrigkeitshöriges Gehorsamsvolk wählt sich solche Gestalten dann klatschaffig zu Häuptlingen.
Einzelne Menschen mögen zwischenzeitlich kluge Ideen entwickeln, im Herdentriebtaumel sind die jedoch schnell vergessen, dominiert der Rudelmechanismus und rennen alle den bewunderten Alphatieren nach. Diese animalisch archaische Verhaltensprägung nennen sie dann selbstbeweihräuchernd soziales Wesen.
Was haben sie in der Masse von Jahren ihrer sogenannter Zivilisation denn eigentlich geschafft?
Einen modernen 800m-Turmbau zu Neo Babel, den gesamten Planeten verwüsten könnende Waffen und ein Häufchen Metall, das bei seinem Schneckentempo hundertausende von Jahren brauchen wird, um den Nachbarstern Alpha Centauri zu erreichen, falls technisch weiterentwickelte Aliens es nicht einfangen, die goldene Hitparaden-Schallplatte auslesen und beim mitteilungsüchtigen galaktischen Prekariat neugierig zu Besuch kommen.
Sind sie genetisch komplett anders, haben wir eine Chance, sind sie uns ähnlich, dann war's das mit Homo Faber, dessen gesamte Kulturgeschichte aus einem nie endenen Krieg um Rechthaberei, Macht und Geld besteht.
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