Dienstag, 31. Dezember 2024

2024: Sehnsucht nach der Kettensäge

Nur ein Buchstabe unterscheidet Humor von Tumor, nur einer ist es auch bei Hohn und Lohn. Das E in "Politik" steht für Ehrlichkeit und das D in "EU" für Demokratie. Binsenweisheiten, an denen sich auch im Jahr 2024 nichts änderte. Wenigstens diese Gewissheiten, seit Generationen im Flüsterton weitergegeben von Vater zu Sohn und Mutter zu Tochter, sie sind geblieben. 

Viel mehr aber auch nicht. Zwar gelang der Übergang von der Milliarde zur Billion als Grundeinheit für Rettungspakete nicht, zwar scheiterte die Regierung, das aber im unnachahmlichen Stil ihrer gesamten Amtszeit. Der Krieg konnte nicht beendet werden, das amerikanische Wahlvolk zeigte sich unbeeindruckt von den europäischen Wünschen nach einer Erlöserin.  

Alle wählen falsch

Ringsum wählten alle falsch, selbst in der Mitte des ehemals "reichsten Landes der Welt" (ZDF). Nach mehreren Milliarden, die Staat und Gesellschaft - kurz "wir" - in den "Kampf gegen rechts" gesteckt haben, steht die neue NSDAP in Umfragen etwa wieder da, wo die alte vor knapp 100 Jahren war. Drumherum erfüllte sich erneut die Hoffnung nicht, dass am deutschen Wesen alle Welt genesen will. Statt begeisterter Bewunderung empfing deutsche Repräsentanten bei ihren gelegentlichen Ausflügen über die Stadtgrenze des politischen Berlin hinaus viel Bedauern und Mitleid. 

Dass es so schnell gehen kann mit einem Niedergang. Dass die hellste Kerze auf der europäischen Torte binnen nur eines Jahrzehnts zur roten Laterne wird. Die Welt, die lange Zeit kaum Notiz genommen hatte von dem kleinen Land auf dem alten Kontinent, das als letzte Großmacht der globalen Moral mit Waren handelt, die keiner mehr geschenkt haben will, sie trauerte mit.

Mit Glück nur ein Strafbefehl

Ja, die Zeiten, in denen Satire die Wirklichkeit an guten Tagen knapp überholen konnte, sie sind lange vorüber. Wer heute noch Witze reißt, wandelt am Abgrund. Wer seine Meinung allzu unverblümt in den Raum stellt, bekommt Behördenbesuch und - mit ein wenig Glück - nur einen Strafbefehl. 

Der Terror auf den Straßen ist nichts gegen den gefühlten Terror, der aus Texten kommt. 1992 titelte das Magazin "Titanic" mit der Zeile "Kohl schon wieder zehn Gramm leichter - ist es Aids?" Der Kanzler schwieg. Die Empörung blieb verhalten. Der Test, was dieselbe Zeile anrichten würde, tauschte die "Titanic"-Redaktion heute bei Bild und Text jeweils "Kohl" gegen "Lang", steht aus. Niemand will ins Gefängnis.

Die Schlechtesten gegeneinander

Wie zuletzt noch jedes war auch dieses Jahr nach Kräften bemüht, die vorherigen alt aussehen zu lassen, als wollte es beweisen: Es geht noch dümmer, noch verrückter, noch schräger und unterhaltsamer. Der "schlechteste Kanzler, den Deutschland jemals hatte" (Merz) stellt sich zur Wiederwahl, selbstbewusst mit Umfragewerten, mit denen früher niemand Anspruch auf eine Festanstellung als Kanzleramtspförtner angemeldet hätte. 

Doch der Oppositionsführer ist fast noch unbeliebter als der Amtsinhaber, auch die bisherigen Koalitionäre des Sozialdemokraten sind für viele keine Alternative, ebenso wenig die Partei, die sich selbst so nennt. Es ist niemand da, den irgendjemand mit gutem Gewissen wählen könnte, wenn er nicht zu einem jener neumodischen "Teams" gehört, bei denen Verblendung Teil der geistigen Grundausstattung ist.

Schlimmeres verhüten

Ein Vierteljahrhundert nach Helmut Kohl haben es die demokratischen Parteien wirklich geschafft, den Saal leerzuspielen. Wer im Februar noch wählen wird, wird es im Glauben tun, Schlimmeres verhindern zu müssen. Für etwas ist niemand mehr, nicht einmal die glühenden Verfechter von Transformation, Ausbau des Obrigkeitsstaates, Umbau der Wirtschaft und Öffnung der Grenzen, die in den vergangenen Monaten einen Vorgeschmack davon  bekommen haben, was geschieht, wenn die eigenen kühnen Träume in Erfüllung zu gehen drohen.

Alles bricht auseinander, weil längst nicht alle bereit sind, ihr Leben grundlegend zu verändern, auf Wohlstand zu verzichten und sich Sprachvorgaben zu unterwerfen, die die Welt verbessern sollen. Sobald diese Menschen, oft in den weniger besseren Vierteln der Großstädte und draußen auf dem Land daheim, den Eindruck bekommen, jemand wolle ihnen etwas aufzwingen, fahren sie die Stacheln aus. Und tun unbeirrbar das ganze Gegenteil, wie es der frühere Staatsfeind Wolf Biermann vor 60 Jahren in seinem Lied  "Was verboten ist, das macht uns grade scharf" prophezeit hatte. 

Aufbau der neuen Welt

So wird das nichts mit dem Aufbau einer neuen Welt, der Geburt des neuen Menschen aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Klimarettung und der Ablösung des Kapitalismus durch einen Sozialismus, der diesmal aber wirklich richtig gemacht wird.  Der Kampf hat Opfer gefordert, auch in diesem Jahr wieder. 

Die Welthoffnungsträgerin Kamala Harris verschwand ebenso von der Bühne wie Kevin Kühnert, die "Letzte Generation" gab ihren Klimakampf auf, die SPD ihre Vorsitzende, Deutschland die Pläne vom "grünen Stahl" und die einheimische Automobilindustrie die Absicht, schneller auf Elektroantrieb umzustellen als es Robert Habeck bei den 20 Millionen Gasheizungen im Land schafft.

Unerhörtes geschah. Die Grünen entdeckten ihre Leidenschaft für den Dax, die Schwarzen, dass ein Ex-Mitglied der Leitung der vom Bundesamt für Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuften Kommunistischen Plattform der SED keine Linke ist und damit kein Feind, zu dem kein Kontakt über die Brandmauer aufgenommen werden darf. 

Die Grünen sammelten sich nach einer Serie von schmerzlichen Niederlagen gegen die Wirklichkeit wie ein Mann hinter ihrem Klimaminister, der die Partei konsequent auf Machterhalt trimmte. Die Reihen wurden gesäubert, Last wurde abgeworfen und Reue gezeigt. CSU-Chef Söder polterte leiser, BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht will mit einer Umbenennung ihres Bündnisses bis nach der Bundestagswahl warten. Geht alles glatt, gibt es danach keine Linkspartei mehr. Und das BSW kann sich "Die Linke" nennen.

Rezession ohne R-Wort

Abschied ist ein scharfes Schwert, das weiß auch FDP-Chef Christian Lindner, der mit dem kleinsten Ampelpartner drei Jahre lang den "Steigbügelhalter" für eine Regierung spielte, die die Bundesrepublik in die längste Rezessionsphase ihrer Geschichte führte, es aber schaffte, das gefürchtete R-Wort bis fast zum Schluss völlig aus den Medien herauszuhalten. Lindner verlor die Nerven, als seine Partei sich fest im Umfragekeller einmietete.   

Olaf Scholz, der Chefsachenkanzler, bot ihm beherzt eine Gelegenheit, die Ampel in eine Fußgängerampel zu verwandeln: Wegen des Ukrainekrieges müsse der Finanzminister eine Notlage austricksen zu können.

So groß war die Not aber dann doch nicht. Kaum war Lindner entlassen, hatte sich die feierliche Ausrufung der Notlage erledigt. Der sozialdemokratische Lindner-Nachfolger Jörg Kukies kam um die Ehre herum, die längst Haushaltsnotlage aller Zeiten vom Ausrufungssims am Reichstag zu verkünden. Binnen Stunden brachte der frühere Goldman-Sachs-Manager, der in allen Spekulationssparten bis hin Equity Derivative Sales bewandert ist, den Bundeshaushalt in Ordnung.  

Operation "Abendsonne"

Trotz der massenhaften Neueinstellungen, die es seit der Bundestagswahl von 2021 in den Führungsetagen der Ministerien hatte geben müssen, um die Vielzahl der neuen Aufgaben zu bewältigen, die sich die Bundesregierung auf den Tisch ziehen musste, sind nun Kapazitäten da, die Treuesten der Treusten im Rahmen der "Operation Abendsonne" für ihre Dienste zu befördern, wie es immer schon Sitte war. Aus 20.458 Beamtinnen und Beamte in den Bundesministerien, mit denen die Große Koalition das Land noch mehr recht als schlecht verwaltete, wurden dank 1.629 zusätzlich geschaffener Planstellen 22.087. 

Ein Plus von acht Prozent, mit dem die Ampel-Ministerien es schafften, mit der Inflationsrate ihrer Regierungsjahre auf Augenhöhe zu bleiben. Das Geld ist da, niemand muss es bezahlen, denn viel kommt auch aus Europa. Dabei handelt es sich um eine Stadt in Belgien, von der aus auch in den kommenden Jahren weiterhin eine Frau Regieren simulieren wird. Ursula von der Leyens langer Kampf in verschwiegenen Hinterzimmern führte die Niedersächsin sechs Monate nach einer Wahl, bei der sie nicht kandidiert hatte, zum erwarteten Wahlsieg. Ein Ereignis, das in der Weltgeschichte bis dahin noch nie vorgekommen war.

Asketisch und wendig

Doch diese Ursula von der Leyen, asketisch schmal, streng und doch wendig wie ein Yogi, verkörpert das Wesen der EU wie niemand sonst. Was einst als großes Reformprojekt gestartet worden war, hat  nur 30 Jahre nach dem Vertrag von Maastricht den Zustand der Fossilisation erreicht. Dieser komplexe Vorgang der Versteinerung vollzieht sich normalerweise in geologischen Zeiträumen.

Unter von der  Leyen aber schaffte es die EU, mit noch mehr noch größeren Plänen noch schneller zu scheitern als gewohnt. Die Lissabon-Strategie, mit der sich die EU in den wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt hatte verwandeln wollen, brauche von der feierlichen Verkündung bis zum stillen Begräbnis noch zehn Jahre.

Noch mehr Wiederaufbau

Vom Nachfolgeprogramm "Europa 2020" für ein noch "intelligenteres, nachhaltigeres und integrativeres Wachstum" war schon nach sieben nirgendwo mehr die Rede. Von der Leyens Programmpaket aus "Green Deal" und "EU-Wiederaufbauplan", aus "Aufbau- und Resilienzfazilität" genannten neuen Schulden, Gesundheitsunion, gemeinsamer Armee, Abgasstrafenregiment, Lieferkettenüberwachung, Chips- und KI-Act und einer "pragmatische Umsetzung, um gleichzeitig zu dekarbonisieren und zu industrialisieren" ist schon wenige Tage nach der Bekanntgabe der fantastischen neuen Namen, die die 26 Kommissare ihren funkelnagelneuen alten Ressorts gegeben haben, keine Rede mehr.  

Die Sehnsucht nach einem tabula rasa, die Sehnsucht nach einer Kettensäge, sie ist unterschwellig, aber überall zu spüren. Das Schlimmste, was passieren könnte, ist in der Vorstellung derer, die sich gut eingerichtet haben auf dem sinkenden Schiff, dass die richtig liegen könnten, die den Kurs ändern wollen. Noch fürchterlicher wäre nur, sie behielten Recht.


5 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Kettensäge? Spalthammer!

Ich weiß auch nicht, warum alle meinen Hauklotz Saskia nennen.

Anonym hat gesagt…

Sensationeller Text! Nicht nur analytisch, auch gestalterisch. Neidische Grüße

Anonym hat gesagt…

OT
Torben (sic) Botterberg "Politik und Filmfestivals: Wie Filme gesellschaftliche Debatten beeinflussen"
Jouwotsch ist ein Systemmedium, aber so was von.

Anonym hat gesagt…

OT
<< Rechtspopulist 31. Dezember 2024 at 11:28

... ... ...

Schon Napoleon sagte: „Törichter ist kein Volk auf Erden. Keine Lüge kann grob genug ersonnen werden, die Deutschen glauben sie.“ >>
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Sagte er eben nicht. Oh Herr, lass Hirn herabfallen! --- Platsch!

Anonym hat gesagt…

Das Lied zum Cover.
https://www.youtube.com/watch?v=QEXsvYbF-1c
Noch gebügelter, geschrubbter, generischer kann man das Lied nicht arrangieren. Erinnert aber an das gruselige Easy-Listening nachmittags auf Stimme der DDR.