Donnerstag, 14. November 2024

Trauerspiel im Hohen Haus: Abschiedsgala der Entrückten

Eine informelle Verabredung der demokratischen Parteien mit dem Bundespräsidenten erlaubt es Deutschland, wieder hoffnungsfroh in die Zukunft zu schauen. Aquarell: Kümram

Das Land ausgeweidet, die Wirtschaft im Ampelschock. Ein ganzer Staat unregiert wie die Bundesländer Thüringen, Brandenburg und Sachsen seit Monaten schon. Beinahe schien es, als würde der Streit um den Wahltermin auch noch zerreißen, was von den Gemeinsamkeiten der Parteien des demokratischen Blocks in Berlin übrig ist.  

Staatskrise in Zeitlupe

Der Kanzlernde beharrte stur auf seinem Wunschwahltermin im März. Der Oppositionsführer scharrte mit den Hufen, er wollte keinesfalls noch so lange warten. Der ehemalige Koalitionspartner der deutschen Sozialdemokratie schob der SPD alle Verantwortung zu. Der verbliebene zeigte sich indifferent: Einige Politiker der Grünen forderten schnelle Entscheidungen. Andere einen späteren Wahltermin. Alle einigten sich in der Mitte, um eine Konfrontation zu vermeiden, die nur wieder Wasser auf die Mühlen derer gewesen wäre, die behaupten, im Ernstfall hacke keine Krähe einer anderen das Auge aus.

Dass Markus Söder Scholz "uncool" nennt und Merz eine Zusammenarbeit ablehnt, ehe der Kanzler nicht abgetreten ist, ist das Höchstmaß an Konfrontation, das sich die Duellanten leisten. Als ging es nicht um Leben und Tod, sondern um die Farbe des nächsten  Kleinwagens, Lippenstiftes oder iPhones, debattiert eine müde Elite Schicksalsfragen wie ein Kindergarten den Vorfall gestern in der Sandkiste: Hat Sören-Ahmed böse Worte gesagt? Oder hat Sisa-Malte gleich mit Dreck geworfen? 

Eine Staatskrise in Zeitlupe, im ungünstigsten Moment, wie die scheidende Außenministerin Annalena Baerbock direkt nach dem Regierungsbruch messerscharf analysiert hatte: In den USA mit Joe Biden im Weißen Haus noch auf absehbare Zeit "kein handlungsfähiger Präsident". Und im deutschen Kanzleramt nur noch die Aktentasche, bekanntgeworden als tragischer Star eines verzweifelten Versuches des noch immer amtierenden Amtsinhabers, die Kette der Fehler und Fehlentscheidungen seiner alles in allem recht tragischen Amtszeit durch launige Tiktok-Filme vergessen lassen zu machen. Der Zeitplan zum Neuanfang steht. 

Angst vor Zufallsmehrheiten

Doch das Interregnum, in dem die Parteien des demokratischen Blocks übereingekommen sind, aus Angst vor "Zufallsmehrheiten" (Friedrich Merz) für mindestens drei, eher aber fünf Monate keinerlei Entscheidungen mehr zu treffen, droht ein langes und quälendes zu werden. Die einen können nicht mehr. Die anderen dürfen noch nicht. Alle zusammen sind darauf bedacht, einander zart anzufassen. Wer weiß, wen man wann noch einmal dringend brauchen wird.

Der "Schlagabtausch" im Bundestag war denn auch weniger Scherbengericht als Pflichtübung. Schon vorab waren die Vertreter des demokratischen Blocks übereingekommen, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Zu grober Klotz auf groben Keil, das droht doch nur, die Demokratie noch weiter zu beschädigen. 

Das große Gemeinschaftsgefühl

Ein großes Gemeinschaftsgefühl von noch enger zusammenstehen und jetzt erst recht klare Kante zeigen war zu spüren. Es war nicht alles schlecht. Viel ist versucht worden, erst das eine, meist danach immer das Gegenteil. Nicht alles ist gelungen, aber die 5.000 Helme, die wird der Ukraine niemand mehr wegnehmen können.

Und auch Klimageld der vergangenen drei Jahre wird keine künftige Bundesregierung mehr rückwirkend an die Bürgerinnen und Bürger zahlen müssen, nur weil es mal so versprochen wurde. Die neue CO₂-Steuer, sie hat sich bewährt, die gelegentlich selbst in der Regierungsmannschaft aufkommenden Zweifel daran, dass sich die Bevölkerung auch diesen Milliardencoup noch gefallen lassen würde, sie sind einer großen Zufriedenheit gewichen. Der Kanzler lobte seine Erfolge. Der Oppositionsführer mochte kaum widersprechen. Auch sein zentrales Vorhaben ist ein Weiterso, nur mit neuen Farben.

Weiterso in neuen Farben

Vieles an diesem Tag im Parlament wirkte schon wie ein Vorgriff auf den Wahlkampf des Jahres 2029. Keiner, der dort sprach, hat den Schuss gehört, der am 6. November durch die USA donnerte. Niemand sieht irgendeinen Grund, etwas Grundsätzliches zu ändern. Der Wahlkampfmodus, der sich ankündigt, ist der gewohnte: Ein weitschweifiges Herumreden um alle ernsthaften Probleme, die zu lösen man sich nicht wagt oder vermeiden will, um dabei nicht zu versagen. Stattdessen mehr vom Üblichen: Leere Versprechen. Hochfliegende Pläne. Ein starker, bis tief ins Private hinein fürsorglicher Staat. Und eine gemeinsame Front gegen alles, was dabei nicht mitwill.

Dass der Vize-Kanzler, der einen Wahlkampf 2025 bereits fulminant gestartet hat, fehlt, wirkt wie ein Menetekel. Ein kaputtes Flugzeug hinderte Robert Habeck daran, rechtzeitig zu einer Debatte zu erscheinen, in die seine Stimme hervorragend gepasst hätte. Zwar griff keiner hier niemanden ernsthaft an, doch der Chef von "Team Robert", wie Grünen sich jetzt nennen, hätte in seiner Rolle als Philosoph wunderbar aufspielen können inmitten der Scholz, Merz und Lindner, denen er in aller Abgewogenheit die Beschädigung der politischen Kultur, die Abwertung des politischen Systems, rechte Rhetorik und das Beschreiten rechtspopulistischer Abwege hätte vorwerfen können.

Auftritt der Aussortierten

"Vor uns liegt jetzt eine Zeit, die definitiv nicht einfacher werden wird", sagt Annalena Baerbock an seiner Stelle, ehe sie dafür plädiert, "die richtigen Entscheidungen zu treffen, auch über den Tag hinaus". Mutige Sätze, Sätze wie Donnerhall von einer, die Robert Habeck gerüchtehalber aussortieren will. Hier aber ist sie noch einmal, die erste und letzte gescheiterte grüne Kanzlerkandidatin, die wie Nachfolger mit einem Buch in den Wahlkampf gestartet war, auf dem ihr Name stand. Damals war Baerbock sicher, damit durchzukommen. Heute will sie "Sicherheit geben, für uns und unser Europa und unsere Nachbarn". 

Wichtig sein nun, nimmt sie den Tenor der Veranstaltung auf, "staatliche Institutionen zu stärken". Keine Kompromisse: "Unser wunderbares Land ist so stark, wie wir demokratische Parteien es jetzt gerade machen", sagt sie, "und das ist unsere Verantwortung". Wer da nicht in sich geht und tief ergriffen ist, heißt Lindner oder Merz, die beide regungslos zu Boden schauen, während Baerbock erinnert: "Wir sind die drittgrößte Volkswirtschaft, wir sind die viertgrößte Volkswirtschaft in Europa". Wer hätte das gedacht. 

Eispreise im Corona-Winter

Eine Rede ohne Zentrum, eine Rede, die zum Anlass passt. Es geht dann um die "Corona-Winter", in denen "niemand weggelaufen" sei, um die Eispreise und um die Notwendigkeit, alle zu schützen, "die einkaufen gehen", und um Busfahrer, die morgens aufstehen, aber nicht verhindern können, dass der Bus trotzdem zu spät kommt, obwohl Robert Habeck "all diese Investitionen geleistet hat". 

Annalena Baerbock trägt die offenbar von einer KI zusammengepuzzelte Rede mit Verve vor, bis hin zum passenden Schlusssatz, in der sie von "gemeinsamen Partnern" spricht. Wie alle Auftritte hier und an diesem Tag dient auch dieser ausschließlich der Selbstvergewisserung. Es ist eine Abschiedsgala der Entrückten, die eine "Parallelwelt" (Merz) bewohnen, die sie für das wahre Leben halten.

Hurra, wir leben noch

Hurra, wir leben noch! Wie Scholz und Merz zuvor tut auch Baerbock nicht einmal so, als habe sie etwas entfernt Inhaltliches beizutragen. Die düsteren Wirtschaftsaussichten, die drohenden Entlassungswellen in der Wirtschaft, die Ratlosigkeit der Nochregierenden, aber auch der Opposition, wie sich ein Land mit rekordhohen Steuereinnahmen auch nur halbwegs weiter über Wasser halten soll: Bei der "Rede-Schlacht um Deutschlands Zukunft" (Bild) geht es zu wie Habecks am Küchentisch.

Ein Trauerspiel im x-ten Akt, von dem vielleicht nur die Scholz-Drohung bleiben wird, dass "öffentlicher Streit nie wieder die Erfolge der Regierung überlagern" dürfe. Auf entsprechende Gesetze dürften sich die demokratischen Parteien in den verbleibenden Monaten bis zur Wahl leicht ohne Zufallsmehrheiten einige können, Schließlich haben sie, so wie die Sache steht, am Ende alle etwas davon. 

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