Sonntag, 3. November 2024

Angstblüte: Rette sich, wer kann

Mit großer Kaltblütigkeit hat Christian Lindner dem Niedergang seiner Partei über Jahre hinweg zugeschaut.

Was für ein Eklat. Ein ganzes langes Jahr hatte die ehemalige liberale Partei Deutschlands ihrem eigenen Untergang mit der gelassenen Ruhe eines Pokerspielers zugeschaut. Ihre Wähler wanderten ab, ihre Sympathisanten wandten sich anderen Hobbys zu. Parteileiter Christian Lindner stimmte allem zu, was Grün und Rot auf die politische Agenda haben, stets gelang es ihm, noch schlimmeres zu verhüten. Und nie bekam er Applaus dafür, nicht für seine Punkte-Pläne und nicht für seine Kaltblütigkeit.

Glaube an ein besseres Morgen

Das Land verkam. Die Wirtschaft verfiel. Wahlen gingen in Serie verloren. Der 45-jährige Youngster im Vizekanzleramt aber verlor den Glauben nicht an ein besseres Morgen. Eines Tages würde der Befreiungsschlag kommen. Die FDP würde die Fesseln des Sozialstaatsfundamentalismus abschütteln. Und auferstehen aus der Asche des Verrats an nahezu allen freiheitlichen Werten. Von einem Volk, das sich nach neuen Führern sehnt, begeistert gefeiert.

Ganz so weit ist es noch nicht. Aber ein Jahr vor der Bundestagswahl hat die erste Angstblüte im Hans-Dietrich-Genscher-Haus ein "Positionspapier" sprießen lassen: "Wirtschaftswende Deutschland - Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit" führt auf 18 Seiten aus, wie aus "unverändert großen Stärken" wie "Innovationskraft und geistiges Eigentum, qualifizierte Beschäftigte, ein kapitalstarker Mittelstand und eine industrielle Basis, die ihre Anpassungsfähigkeit schon oft bewiesen" hat ein Staatswesen werden konnte, das jammert, sich am Alten festklammert, nicht auf die Strümpfe kommt und schon gar nicht mehr auf die Beine.

Zu viel Mühe

Lindner hat sich Mühe gegeben mit seiner Antwort auf Robert Habecks vielbeachtetes und noch häufiger gelobtes Grundsatzpapier zur Umgehung der Schuldenbremse durch ein weiteres prächtiges Sondervermögen und dem Ausbau des Staatseinflusses auf die Wirtschaft durch Bundesprämien auf Investitionen. 

Aber das hätte er sich auch sparen können. Kaum war sein "Konzept" ruchbar geworden - ein Leak, den Verschwörungstheoretiker dem FDP-Parteichef sofort selbst andichteten - ging es nicht mehr um den Inhalt. Sondern darum, dass das ja wohl die Scheidungsurkunde der Ampel sei. 

Von der "neoliberalen Phrasendrescherei" über "Papiere, die nicht helfen" bis zu "nicht zu verwirklichen" oszillierten die Reaktionen. Das auch noch "gerade jetzt", wo Hitler vor der Tür steht. "Als würde man einem Auffahrunfall zuschauen, nannte es die grüne Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge, die die Säuberungswelle in ihrer Partei glücklich überstanden hat, im Falle einer Neuwahl vor der Zeit aber wie so viele Grüne um ihren Platz im Bundestag bangen müsste.

Hoffen auf ein Wahlwunder

Für SPD und Grüne ist Lindner zu früh dran. In den Zentralen der beiden größeren Regierungsparteien lebt die Hoffnung noch, dass ein gnädiges Schicksal die Wirtschaft von ganz allein wenden wird, dazu Harris im Weißen Haus und gute Gaben aus Amerika, ein bisschen von der üblichen Vergesslichkeit der einfachen Leute und ein paar schöne Wahlplakate mit ganz viel "neu" und "sozial" und "gerecht" drauf. 

Und schon ist ein Wahlwunder wie 2021 nicht mehr vollkommen ausgeschlossen. Bis dahin wird es schon noch gehen, davon sind sie im politischen Berlin überzeugt. Vielen anderen Ländern gehe es doch nach wie vor viel schlechter. Das müsse man draußen im Land nur besser erklären.

Lindner hielt sein Pulver trocken. Der gewiefte Taktiker, der die FDP nach ihrem letzten Scheintod nahezu im Alleingang wiedererweckt hatte, wusste, dass er nur diese eine Patrone hat: Den Abschied aus der Fortschrittskoalition, die das Land nach Ansicht vieler in drei Jahren mindestens so weit zurückgeworfen hat wie Merkel in 16.

Besser als die Lage

Dass ihn jetzt die Nerven im Stich gelassen haben, kann nur bedeuten, dass die miserable Stimmung besser ist als die Lage: Die Regierung kommt vor lauter Gipfeln nicht mehr zum Regieren. Der mystische "Wachstumspakt" vom Frühjahr ist immer noch nicht mehr als ein Versprechen. Alles, was die drei Regierungsparteien noch zusammenhält, ist das Spekulieren darauf, dass der eigene Abschied eines Tages so inszeniert werden kann, dass die anderen beiden an allem schuld sind.

Christian Lindner hält den Moment nun wohl für gekommen. Ausdrücklich zitiert er schon im Titel den Begriff "Wende" aus dem Lambsdorff-Papier von 1982, das damals das Ende der sozial-liberalen Ehe einläutete. Und neben dem "geringen Produktivitätswachstum" und dem "geringen Arbeitsvolumen" prangert er auch den "deutschen Sonderweg beim Klimaschutz" an - einen bisher als Kraftkern der Koalition geltender Kurs, der Europas größter Industrienation eine "politisch forcierte Dekarbonisierung des Kapitalstocks" auferlegt, der "zu stark steigenden Energiekosten" führe und "langlebige und weiterhin nutzbare Güter privater Haushalte (wie etwa Heizungen oder PKW) an Wert" verlieren lasse.

Eben noch überzeugt

Das war bis vor ein paar Tagen durch die Überzeugung legitimiert, dass es sein muss. Führt nun aber zu "hoher ökonomische Unsicherheit, verschlechterten Standortbedingungen in der Energieversorgung, zur Bindung von Finanzmitteln des Staates für Subventionen und soziale Ausgleichsmaßnahmen und zur Zurückhaltung von Haushalten und Unternehmen bei Investitionsentscheidungen". Jetzt reicht es. Rette sich, wer kann! 

Die "Wirtschaftswende", die Lindner bereits im Sommer leise flüsternd ausgerufen hatte - keiner der anderen Koalitionäre sah eine Notwendigkeit, mitten in den Ferien darauf zu antworten - ist die Pistole, die der FDP-Chef seinen Kollegen Scholz und Habeck auf die Stirn setzt. Lindner will das Soziale kürzen, bei der Verweigerung noch höherer Schulden beruft er sich auf die EU-Schuldenregeln, er will die "Marktwirtschaft als Treiber der Erneuerung" und er meint damit nicht den Ausbau der staatlichen Technologieselektion und der immer und aufwendiger planwirtschaftlichen Lenkung des Ressourceneinsatzes durch Verbote und Subventionen. 

Den Menschen vor sich selbst retten

Nicht einmal Olaf Scholz würde in einer solchen Welt regieren wollen, geschweige denn Saskia Esken, Lars Klingbeil oder die Grünen, für die nur der strenge, obrigkeitliche Staat den Menschen vor sich selbst retten kann. Wie das Ganze ausgehen wird, hängt nun ganz von Amerika ab. Je nach Ausgang der Wahlen in den USA werden sich die drei Ampel-Parteien ab Mittwoch neu positionieren: Weiter nach links oder noch weiter? Für die "wirtschaftspolitische Neuausrichtung" des Landes wird in keinem Fall Platz bleiben. 

Und die FDP steht in den letzten Monaten oder nur Wochen ihrer Existenz als politisch bedeutsame Kraft vor der interessanten Wahl, mit den beiden anderen unterzugehen. Oder ohne sie.


4 Kommentare:

Carl Gustaf hat gesagt…

Lindners Versuch der Ampelflucht kann auch als eine Art des Rückwärtsausparkens verstanden werden. Aber dagegen haben sich die Grünen gottseidank inzwischen fix ein neues Verbot ausgedacht: https://www.welt.de/vermischtes/article254297082/Kiel-Gruenen-Politikerin-will-Rueckwaertseinparken-verbieten.html

ppq hat gesagt…

lindner parkt nicht aus. der ist längst zu fuß auf der flucht

Anonym hat gesagt…

A Popo Rückwärtsrein- und -rausfahren: Sind da in Kiel nicht auch noch andere sogenannte Parteien zugange? Wieso wird der Schnalle nicht Paroli geboten?

Anonym hat gesagt…

A Popo Rückwärtsrein- und -rausfahren ...
Hat sich, laut Pipi, v o r l ä u f i g erledigt. Lieber wäre mir gewesen, dass man die Schnitte unter amtliche Betreuung gestellt hätte. In der Ostmark: "Besachwaltet", oder so ähnlich.