Freitag, 4. Oktober 2024

Zitate zur Zeit: Zur Erinnerung, Ihr Untertanen

Klare Kante gegen Besserwisser: An wissenschaftlich begründete Regeln müssen sich fast alle halten.

Zur Erinnerung, Ihr Untertanen: Es ziemt dem Untertanen, seinem Könige und Landesherrn schuldigen Gehorsam zu leisten und sich bei Befolgung der an ihn ergehenden Befehle mit der Verantwortlichkeit zu beruhigen, welche die von Gott eingesetzte Obrigkeit dafür übernimmt.

Aber es ziemt ihm nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermute ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit derselben anzumaßen.

Gustav von Rochow beschreibt in einem frühen Traktat das gesunde Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertan

Ein deutscher Traum: Kraft durch Bäume

Seraphina Senkel ist heute bekennende Waldliebhaberin. Die junge Thüringerin gibt auch Seminare, in denen sie Interessierten Wege weist, wegzukommen von der Fixierung auf ein lange als "normal" verstandenes traditionelles Geschlechtsleben mit ausschließlichem Humanbezug.

Seraphina Senkel litt wie eine Hündin. Der Lockdown damals, der so viele Infektionsketten unterbrach, dass die größte Pandemie seit dem Mittelalter schon zwölf Monate später nirgendwo mehr ein Thema war, fesselte die freischaffende Freizeit-Coachin in den heimischen vier Wänden.  

"Ich habe zwar einen kleinen Balkon", erinnert sie sich, "und dort habe ich auch immer versucht, mein Yoga zu machen." Funktioniert aber habe das nie so richtig, "weil mein Kopf sich einfach hinausgesehnt hat, in die Freiheit einer offenen Welt ohne Türen, Fenster und Decken, die einem auf den Kopf fallen.

Endlose Wochen

Zwei endlos lange Wochen hielt es Senkel damals daheim aus. "Am Ende bin ich beinahe die Wände hochgegangen." Schließlich wagt sie das Unmögliche: Morgens halb vier, es ist ein noch kühler Frühlingsmorgen im zweiten Lockdown im zweiten Pandemiejahr, steigt Seraphina Senkel durch ein Kellerfenster auf der Rückseite ihres Wohnblocks am Rande des thüringischen Städtchens Gera hinaus ins Freie. 

Dort gelingt es ihr, mit ein paar raschen Schritten in ein naheliegendes Gebüsch zu entkommen, ehe mögliche Aufpasser auf sie aufmerksam werden. Senkel erzählt das heute selbstbewusst, ohne Reue. Sie wissen, dass Verstöße gegen die sogenannten Pandemieregeln zwar nicht verjährt seien, aber nur noch die Täter verfolgt würden, die damals auf frischer Tat ertappt wurden. "Ich fühle mich da jetzt wieder sicher."



Zu diesem neuen Lebensgefühl entscheidend beigetragen hat ausgerechnet jeder Tag, als die sportliche Verwaltungsangestellte den Bewachern vom Seuchenschutzkommando unbemerkt entkam. "Ich spürte einerseits eine Sehnsucht nach Natur in mir, bemerkte aber andererseits, dass ich den Kopf schon frei bekam, als ich unter dem Blätterdach eines nahen Wäldchens ankam." 

Zehen tief im Laub

Aufatmend spaziert Senkel mehrere Stunden über Wege, die aufgrund der besonderen pandemischen Lage globaler Natur schon wochenlang niemand mehr betreten hat. "Ich habe meine Schuhe ausgezogen und meine Zehen tief in das feuchte Laub gegraben", erzählt sie. Das sei eine Befreiung gewesen. "Wieder spüren, dabei zur Ruhe finden", beschreibt sie ihre Gründe, gern in den Wald zu gehen und dort die Zeit zu vergessen. 

Für Seraphina Senkel, die sich heute nach einem alten deutschen Traum des Autos Friedrich Schnack poetisch die "Waldgeliebte" nennt, ist das Tiefe, Dunkle, Wilde, das gerade viele Frauen fürchten, ein Resonanzraum und ein lebendiges Wesen, "das ich liebe und das mich bedingungslos zurückliebt". Sie empfinde Bäume, Büsche, Pilze, Nadeln und Wurzelgeflecht heute als Partner, die ihr hülfen, sich selbst zu verorten und im betörend duftenden Waldboden zu erden. "Für mich ist das das stärkste Aphrodisiakum", gesteht Senkel mit einem schüchternen Seitenblick, denn "aus der entstehenden Verbundenheit, mit der die Natur in mich eindringt, ziehe ich eine tiefe Befriedigung im ursprünglichen Wortsinn".

Rettung vor Depressionen

Eine Erfahrung, die Seraphina Senkel vor Trübsinn, Mutlosigkeit und womöglich sogar vor klinischen Depressionen gerettet hat. Immer wieder hat sie die Nähe ihres neuen Freundes Wald gesucht, immer wieder hat sie "Energieschübe" empfangen, die sie als "orgiastisch" beschreibt. Um diese Erfahrung mit anderen Menschen zu teilen, die wegen ihrer Fixierung auf ein von der Gesellschaft lange als "normal" verstandenes traditionelles Geschlechtsleben mit ausschließlichem Humanbezug höchst unglücklich sind, begann sie zuerst im Freundes- und Bekanntenkreis Coachings in Waldliebe anzubieten.

Die Nachfrage für ihren ganzheitlichen und lösungsorientierten Ansatz war sofort groß. "Ich habe die ersten paar Gruppen mitgenommen und sie quasi ungeschützt in die faszinierende Welt des Waldes eingetaucht", schildert sie die entscheidenden Momente ihres Neustarts als Forest-Coachin. Schon eine Woche später habe sie ihren Job in einer öffentlichen Verwaltung gekündigt und beschlossen, dass der "Wald nun mein Zuhause sein wird". 

Barfuss durch feuchtes Laub

Senkel ist anzusehen, wie gut ihr das getan hat. Ihr Coaching im Wald ist mit körperlicher Bewegung verbunden; das Barfussgehen in der Natur brachte ihr nicht nur neue Gedanken, sondern auch die Belebung von Muskelgruppen, die sie längst vergessen hatte. Die Konzentration auf das eigene Empfinden und sinnliches Erleben der Natur habe ihr einen Schub an Selbstbewusstsein gegeben, erzählt sie begeistert. 

Heute lebe sie ungeregelter als in der hektischen Enge der Zivilisation, zurückgeworfen nur auf den Wald als Projektionsfläche, die unbewusste seelische Inhalte sichtbar und spürbar mache, aber keine Kommentare abgebe. "Im Spiegel der Natur sieht man ganz allein sich selbst und alle Antworten, die wir suchen, müssen wir uns im eigenen Kopf geben."

Der knorrige Lindenbaum, die stechende Mücke, der Schmetterling, der moosbewachsene Stein - sie alle sind Seraphina Senkels Liebhaber, auf ihrer Frequenz findet die 27-Jährige innere Resonanz mit der Natur.  Sie spüre heute viel Unbewusstes, habe Zukunftsvisionen für die gesamte Menschheit und gewinne aus einer erwartungslosen Haltung eine Energie, die ihr guttue und dafür sorge, dass sie sich wohlfühle. 

Persönlicher Kraftort

Am liebsten setze sie sich den Elementen inzwischen ohne festes Schuhwerk und wetterfeste Kleidung aus, nur ausgestattet mit ausreichend Zeit, um in sich und den Wald hineinzulauschen. "Ich stelle mich in diesen langen Momenten breit und stabil hin, halte die Augen geschlossen und stelle mir vor, dass meine Wurzeln tief in den Boden reichen". Bewusstes Atmen helfe ihr, sich vorzustellen, dass ihr Atem und der Wind zwischen den Bäumen eins seien, dass ihr Blut bis in die Wurzelspitzen fließe und sie eins werde mit der Vegetation. "Wenn sich ein Gefühl guter Erdung einstellt, ein Kribbeln wie von Strom,  weiß ich, dass der Wald mich auch fühlt."
 

Seraphina Senkel öffnet dann die Augen und beginnt mit dem achtsames Sehen: Sie betrachtet ein einzelnes Blatt, lässt den Blick zum Blätterdach eines Baumes schweifen, nimmt die Grüntöne in sich auf und wirft Blicke auf den Boden, wo kleine Käfer versuchen, an ihr aufwärts zu krabbeln. "Ich öffne meine Sinne ganz und gehe eine Verbindung mit der Mitwelt ein, die für mich zur Quelle eines persönlichen Kraftstromes wird." Tiefer und stärker fühlen könne kein Mensch, ist die Waldgeliebte sicher. "Und das ist es, was ich meinen Coaching-Teilnehmern beizubringen versuche."

Donnerstag, 3. Oktober 2024

Tag der Deutschen: Kurs klare Kante

Im kommenden Jahr geht es um die Verlängerung des Mietvertrages für dieses Haus.

Zum 34. Jahrestag der Wiedervereinigung der Reste des ehemaligen Deutschen Reiches ist das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik vergiftet. Ost und West sind gespalten, der Naziblock marschiert, die Zeiten, als "Merkel muss weg" noch als schrecklichste Ausprägung eines Missbrauchs der vom Staat gewährten Meinungsfreiheit galt, sind lange vorüber. Trotz aller Schutzmaßnahmen, die von den deutschen Geheimdiensten und der EU getroffen wurden, sind Hetzer und Hasser überall unterwegs, um Zweifel zu säen.

Im großen Einheitsinterview mit PPQ hat mit Werner Sauber von der Deutschen Stiftung für Engagement für den guten Zweck (DSEGZ) über ein Land gesprochen, das immer mehr einem Mann gleicht, der verzweifelt versucht, sich aus einem mächtigen Berg aus Treibsand zu befreien. Je heftiger er rudere, desto schneller sinke er ein, sagt Sauber, der die Zeit für gekommen halt, lieber zu Vereinen, nicht zu Spalten, und zu versöhnen statt zu verhöhnen.

Der wichtige Strippenzieher der Zivilgesellschaft, geboren im brandenburgsichen Mirow, spricht zum neuerlichen "Tag der deutschen Einheit" erstmals Klartext zu den sich häufenden Anfeindungen gegen die Demokratie und er empfiehlt eine klare Strategie der Einheit der demokratischen Parteien mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl.

Ein neuerlicher Hitzesommer, Attacken auf Politiker, Übergriffe gegen Engagierte, Kriege, Krisen, Vorwürfe gegen die Regierung - die Atmosphäre in Deutschland ist angespannt wie immer. "Wir erleben ein erschreckendes Maß von Anfeindungen gegen unsere Demokratie", sagen Sauber mit Blick auf die Scharfmacher. "Die Wortwahl wird immer radikaler und schlägt auch in Gewalt um. Das bereitet mir große Sorgen."

Werner Sauber, der zuletzt als Wahlkampfbeobachter in Thüringen unterwegs war, plädiert vor diesem Hintergrund dafür, die Reihen der Demokraten entschlossen zu schließen. Was die Minderheit am rechten Rand tue, sei dann egal. Die Bundestagswahl im kommenden Jahr habe eine besondere Bedeutung. "Barfuss oder Lackschuh, das ist diesmal wieder die Frage." Es gehe wie immer darum, "unserem Land und unserer Demokratie einen Dienst zu erweisen - und die richtige Parteienkonstellation zu wählen", warnt Sauber.


PPQ: Herr Sauber, die Sicherheitsbehörden haben in diesem Jahr schon mehr Übergriffe auf Politiker registriert als jemals seit Beginn der Zählungen. Bei über der Hälfte kommen die Täter nicht einmal aus dem rechten Spektrum. Was ist los in diesem Land?

Sauber: Die hohe Zahl von Übergriffen auf Politiker ist eindeutig ein Warnsignal. Wir müssen auf der Hut sein. Die Stimmung ist schlecht, aber aufgeheizt, den Menschen geht es gut, aber sie haben schlechte Laune. Das wird von bestimmten Adressen genutzt, um ein eigenes Süppchen zu kochen. Wenn wir nicht aufpassen, verdirbt sich das Land daran den Magen. 

PPQ: Wie unerwartet kommt das für Sie?

Sauber: Wir erleben ein erschreckendes Maß von Anfeindungen gegen unsere Demokratie. Mal sind Politiker die Zielscheibe, mal die Medien, mal Demonstranten, mal Gegendemonstranten. Aber eben auch zunehmend unser Staat insgesamt. Die Polizei habe ich jetzt ganz vergessen. Aber die Wortwahl wird immer radikaler und schlägt auch in Gewalt um. Zerstörte Plakate, Geschrei an Wahlkampfständen, Widerworte, die selbstbewusst vorgetragen werden und nicht mehr hinter vorgehaltener Hand. Das bereitet mir große Sorgen.

PPQ: Haben wir eine Situation wie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts? Ist Hitler bald wieder da? Wie sehen Sie das?

Sauber: Wir sind noch längst nicht so weit wie in der Weimarer Republik. Aber auch damals haben sich Worte und Taten immer mehr hochgeschaukelt. Kneipenschlägereien, rechts gegen links, links gegen rechts. Wenn Sie sich umschauen, erinnert manchmal schon manches daran. Aber am Ende ist die Weimarer Republik nicht an zu vielen Nationalsozialisten zugrunde gegangen, sondern weil es zu wenig aufrechte Demokraten gab und zu viele Kommunisten. Das hat sich glücklicherweise geändert.

PPQ: In manchen Parteien gibt es die Kommunisten ja noch, andere bestehen gerichtlich festgestellt aus Faschisten. Was kann demokratische Politik tun, damit sich das Klima trotzdem wieder entspannt?

Sauber: Wir Demokraten müssen zusammenstehen. Wir dürfen keine Zweifel daran nähren, dass unser Weg richtig ist, weil er wahr ist. Wir müssen noch besser erklären, dass es keine Alternative gibt, dass die Renten stabil bleiben, dass die Armut weiter bekämpft wird, dass wir Europa neu denken und neu handeln müssen, wo es um die Sicherheit geht. Natürlich werden in der Politik auch Fehler gemacht. Aber selten. 

 

Letztlich leben wir alle in einem sehr guten Staat und in einer wirklich funktionierenden Demokratie in einem guten Europa mit einer funktionierenden Völkerfamilie. Das müssen wir selbstbewusster sagen und uns gegen die Feinde der Demokratie wehren, die anderer Ansicht sein zu müssen glauben. Und das kann nicht die Politik allein, sondern muss die Gesellschaft insgesamt tun, einschließlich der Medien: Hartnäckig widersprechen, wo Kritik kommt, Nörgler und Zweifler in die Schranken weisen. Dann wird es.

PPQ: Das ist leicht gesagt, aber die Republik polarisiert sich immer mehr. Die Rechten eilen von Erfolg zu Erfolg, weil sich die, die an die Alternativlosigkeit nicht glauben wollen, hinter den Fahnen dieser Hetzer versammeln. Was will die Union dagegen tun?

Sauber: Alle Parteien im Bundestag verlieren an die AfD. Das ist nicht gut, aber besser, als wenn es deren Fantasien vom Staatsstreich umgesetzt worden wären. Die Entwicklung bietet uns so sicher Gelegenheit, zu mehr Gemeinsamkeit zu finden. Ich rate dazu, weniger über die AfD zu reden, sondern vielmehr darüber, wie gut es Deutschland geht. Seien wir doch selbstbewusst! Sagen wir ruhig, dass wir 79 Jahre nach einem verlorenen Weltkrieg die sind, die in Europa ein Wörtchen mitreden, die ihren nachhalrig, wertschätzend und gerecht erneuern und der Welt ein gutes Beispiel geben! Wir haben Wachstum, Renten, Diäten und Reallöhne steigen, all das haben viele andere nicht. Das müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern nur immer wieder sagen.

PPQ: Aber viele Menschen glauben, Deutschland verändere sich zu ihrem Nachteil. Ein Argument, das einst auch die Grünen groß gemacht hat.

Sauber: Die deutsche Urangst war damals die um das Klima. Das war legitim. Heute müssen wir noch besser erklären, was wir alles schon erreicht haben: Der Atomausstieg ist beendet. Das Ozonloch verdübelt. Der Energieausstieg auf einem guten Weg. Auch die Zahl der Flüchtlinge ist ganz leicht zurückgegangen, und wir wollen sie möglichst weiter reduzieren oder zumindest auf dem gegenwärtigen Niveau halten. Wir kontrollieren auch unsere Grenzen. Ist das nichts? Wir arbeiten mit anderen Ländern an Vereinbarungen für Grenzverfahren und schauen dabei nicht kleinlich darauf, ob es sich um eine Diktatur handelt, die gegen die Menschenrechte verstößt. Die Welt ist eben komplizierter geworden, die Antworten müssen einfacher werden. Die demokratischen Parteien arbeiten hart, sie zu finden. Und wir haben Erfolg.

PPQ: Indem die CDU, die SPD, die Grünen und die FDP ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik korrigiert haben, meinen nun aber besonders Schlaue, das habe man ja schon immer gesagt. Delegitimiert das mit Blick auf die Bundestagswahl nicht Bemühungen, das tun tun, was mancher Wähler schon 2015 und 2016 gefordert hat?

Sauber: Richtig, das Ziel der demokratischen Parteien ist inzwischen auch, die Zahl der Flüchtlinge spürbar zu verringern. Dank er europäischen Lösung, die die EU gefunden hat, kann das erreicht werden, ohne dass wir selbst etwas tun müssen. Es dauert eben nur seine Zeit. Normalerweise hätte dieser kluge Schachzug die Wähler überzeugen müssen. Aber das braucht noch Weile und in dieser Übergangsphase nicht einzuknicken, das ist unser Ziel. Die Aufgabe bleibt also vor allem, den Sturm durchzustehen, bis die europäische Lösung greift. Das kann aber gelingen, weil in der nationalen Politik niemand mehr auf seine eigene Verantwortung festgenagelt werden kann. 

PPQ: Das klingt nach einer klaren Strategie. Aber im kommenden Jahr müssen sich alle Parteien dem Votum der Wählerinnen und Wähler stellen. Wenn nun alle durch eine Tür wollen, wo bleibt denn da die Unterscheidbarkeit? Könnten die Koalitionspartner und die anderen demokratischen Parteien nicht ebenso gut gleich mit einem Konsenskandidaten in den Wahlkampf gehen?

Sauber: Das ist wäre gerade in diesen Zeiten schön, verbietet sich aber aus Respekt vor den demokratischen Institutionen. Zu gut sind vielen Älteren noch die DDR-Sitten mit der Nationalen Front in Erinnerung. Nein, diese Bundestagswahl hat eine besondere Bedeutung, enorm, wegweisend. Diesmal geht es vielleicht mehr denn je darum, unserem Land und unserer Demokratie einen Dienst zu erweisen - und aus einer Parteienkonstellation, die wie unsere seit Jahren für Stabilität, Sicherheit und Gesundheit in ganz Europa steht, sollen Wählerinnen und Wähler weiterhin frei wählen können, wem sie am besten zutrauen, gemeinsam mit den anderen Demokraten die besten Lösungen zu finden.

PPQ: Sind denn die Bewerber um den Platz im Kanzleramt aus ihrer Sicht geeignet?

Sauber: wenn wir uns aus demokratietheoretischerf Sicht jemanden backen könnten, wäre das sicher eine Persönlichkeit, die leitend und wertbildend in die großen Debatten eingreifen kann, charismatisch, jung, eloquent und sympathsich. Talkshowerfahren, aber nicht verschlissen. Telegen, aber kein Schauspieler. In Dingen der Globalisierung ebenso zu Hause wie in der Kommunalpolitik, unängstlich, in den europäischen Partnerländern angesehen, in der Welt der Wissenschaft geschätzt. Musikalisch wäre auch schön,wichtiger aber. Er oder sie müsste zupackend wirken. Gern auch mit einer soliden wissenschaftlichen Ausbildung oder zumindest einem sauberen Doktortitel. Sie oder er müsste die Gesellschaft zusammenführen können. Zugleich sollte es aber auch jemand sein, der die Rechten ausgrenzen kann. Und der im harten politischen Geschäft auch physisch standhält. So jemanden haben wir aber nun mal nicht.

Tag der Deutschen Einheit: Darum musste es der 3. Oktober sein

Landauf, landab tragen die schönsten Straßen den Namen "Platz der Einheit".

Im Frühjahr erst startete einer jener hinterlistigen Angriffe auf die demokratische Grundordnung, die sich als Verteidigungsaktionen tarnen. Bodo Ramelow, ein westdeutscher Gewerkschafter, der im Osten Karriere als Politiker gemacht hat, sprach dem Grundgesetz seine Legitimation ab. Es müsse eine "Verfassung" daraus werden, nicht wie ein Deutschland üblich von Politikern hinter verschlossenen Türen ausgehandelt, sondern in einer "Volksabstimmung" beschlossen, versuchte der vor dem Machtverlust stehende Ministerpräsident Thüringens sich in Ost-Populismus auf Reichsbürger-Art.  

Große, leere Geste

Eine Art großer, leerer Geste sollte Verschwörungstheoretikern recht geben, die seit vielen Jahren behaupten, Deutschland fehle eine Verfassung. Sie alle dürften dann, wie in Artikel 146 Grundgesetz vorgesehen, eine beschließen, sorgfältig formuliert und auf Nebenwirkungen abgeklopft. Danach, so die Hoffnung, wäre endlich Ruhe an dieser Front. 

Es ist natürlich nicht dazu gekommen. Bodo Ramelow blieb mit seiner Behauptung, das Grundgesetz sei gar keine Verfassung. Andere Ministerpräsidenten versicherten, dass "von Volksabstimmungen zum Artikel 146 Grundgesetz kein einziger Ostdeutscher etwas" habe. Und man vielmehr wie immer und immer weiter daran arbeiten müsse, Ungerechtigkeiten abzubauen, statt Ungläubige davon zu überzeugen, dass es die Bundesrepublik wirklich gebe.

Der Bleikern Europas

Sie ist ja da, sie existiert ja wirklich. Sie gibt Pässe aus und sie schützt ihre Institutionen immer besser, ihre Politiker und Ehrenamtlichen. Sie kämpft gegen den Hass, um ihren Rang als Industrie- und Exportnation. Sie ist der Bleikern ganz unten im vereinigten Europa, das Schwergewicht, dass den immer wieder verrückt auseinanderstrebenden Verbund der 27 Staaten, die jeder einzelne vor allem auf seinen eigenen Vorteil bedacht sind, zusammenhält und dort bezahlt, wo am Ende einer fehlt, der das Loch in der Rechnung stopft.

Vom Ziel des Hades-Planes, mit dem eine verschwiegene Runde aus Spitzenpolitikern ein knappes Jahr nach dem Anschluss der DDR nach Artikel 23 eine weitreichende Strategie für ein deutsches Europa entworfen hatten, muss kaum mehr gesprochen werden. Dass Deutschland viele genuine Rechte nach Brüssel abtrat, erfolgte einst in der Hoffnung, über den Umweg Europa daheim kommoder regieren zu können.

Wenn eine Richtlinie der Kommissare das Tragen von Hüten vorschreibt, verschiedenfarbige Socken verlangt oder das Kaugummikauen verbietet, wären die Deutschen stets die Ersten, die einander bei Verstößen bei den Behörden melden. Den Widerstrebenden aber könnte jede Bundesregierung sagen, dass sie selbst ja auch nicht glücklich ist mit dieser oder jener Anweisung aus dem Kommissariat. Aber Befehl ist Befehl.

Geschenk an die Neuen

Die "emotionale Fremdheit", die der altlinke Westdeutsche Ramelow seinen ostdeutschen Landeskindern hatte symbolisch schenken wollen, damit sie endlich "ihre Fremdheit gegenüber dem Grundgesetz überwinden", sie wurzelt jedoch nicht nur im Akt des formalen "Beitritts", der den Osten 1990 zum integralen Teil des Westen machte. 

Die Entfremdung rührt auch daher, dass die Ostdeutschen nur ein Jahr nach jenem Beitritt um Mitternacht die Erfahrung machen mussten, dass ihnen die neuen Herren einen Feiertag gestohlen hatten. Der 7. Oktober, traditionell der "Tag der Republik" war zwar schon im ersten Jahr der Einheit weggefallen. Doch weil er 1990 auf einen Sonntag fiel, bemerkte das niemand. 

Nun aber, 1991, war die Empörung groß. Statt mit dem 3. Oktober einen freien Tag dazuzubekommen, fort, standen sich die verbliebenen Arbeiter und Angestellten in den neuen Ländern nun kein bisschen besser. Doch es hatte vor dem 7. Oktober passieren müssen, um zu verhindern, dass das andere, das hässliche Deutschland trotzig noch einmal Jubiläum feiert. Man durfte aber auch nicht bis zum 9. November warten, weil das Datum historisch mehrfach "vorbelastet" war, wie Kommentatoren und Historiker rechtzeitig herausgefunden hatten. 

Helmut Kohl, damals Kanzler und noch nicht exkommuniziert, brauchte keine Volksabstimmung, um den 3. auszusuchen. An einem 3. Oktober hatte Albrecht der Bär sich in einer Urkunde erstmals selbst als Markgraf von Brandenburg bezeichnet, nachdem es ihm gelungen war, mit einem Völkermord an den Slawen für klare Besitzverhältnisse in Mitteldeutschland zu sorgen. 

Zarenkrönung in Moskau

An einem 3. Oktober wurde die Deutsche Katharina II. in Moskau zur Zarin gekrönt, die den rechtmäßigen Herrscher zuvor weggeputscht hatte. An einem 3. Oktober annektierte Preußen das im Deutschen Krieg besetzte Königreich Hannover. An einem 3. Oktober einigen sich Kaiser Franz Joseph I. und Zar Nikolaus II. im Jagdschloss Mürzsteg, für Ruhe auf dem Balkan zu sorgen. An einem 3. Oktober wird Prinz Max von Baden erster Reichskanzler. An einem 3. Oktober beginnt die erste Kinderlandverschickung.

Ja, sagt sich Helmut Kohl leise, wir nehmen den 3. Oktober.

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Deutsche Pronomenbewegung: Sie und er und 1000 Fragen

Machte sich immer für die Unterscheidung in nur zwei Geschlechter stark: Europas prominenteste deutsche Sozialdemokratin Katarina Barley.

Es gehört ein hartes Herz dazu, eine gepanzerte Seele und natürlich auch ein gewisses Maß an Gewissenlosigkeit, das alte Märchen von den "zwei Geschlechtern" immer wieder zu erzählen, obwohl  Wissenschaft, Publizistik und der Deutsche Fußballbund sich schon lange einig sind: Niemand weiß genau, wie viele Geschlechter es gibt. Doch dass es mehr als zwei sind, steht fest. Das deutsche Personenstandsgesetz (PStG) erlaubt seit Dezember 2018 die vier verschiedenen Angaben männlich, weiblich, ohne Angabe und divers. Das soziale Netzwerk Facebook bietet bis zu 66 zur Auswahl an und die Antidiskriminierungsmeldestelle des Bundes sprich von immer "drei" amtlichen Varianten.

Prominente Stichwortgeber

Dennoch gibt es sie, die Leugner, die Hetzer und Zweifler, die sich auf prominente Stichwortgeber wie die frühere Bundesjustizministerin Katarina Barley beziehen und sich deren fragwürdige Parolen (oben) zu eigen machen. Der Geschlechterkampf ist ein Kulturkampf geworden, in dem eine breite Mehrheit tolerant bereit ist, wertschätzend, respektvoll und nachhaltig auf die Gefühle der Mehrheit derer Rücksicht zu nehmen, die am eigenen Geschlecht zweifeln. Während eine laute Minderheit Ewiggestriger jede Gelegenheit nutzt, die queere Realität zu leugnen, bohren Aktivisten wie Lann Hornscheidt dicke Bretter, um daraus ein neues Haus für alle zu bauen.

Ein wichtiger Baustein besteht aus Pronomen, genauer gesagt Personalpronomen, die als Signalbegriffe genutzt werden, um gefühlte Geschlechtsidentitäten im Alltag durchzusetzen. Die Idee dazu kommt aus den USA, wo auch die gesamte Gender-Debatte erfunden wurde. 

Schon frühe Aktivisten dort bemerkten dabei einen schweren Mangel der englischen Sprache: Da das Idiom in den meisten Fällen weder männliche noch weibliche Zuschreibungen kennt, können Begriffe wie "Firefigther", "President" oder "Scienist" nicht wie im Deutschen durch ein Fantasiesternchen zu einer Waffe im Geschlechterkampf umgeschmiedet werden. 

In der Buchstabensuppe

Als Alternative bleibt nur die plakative Selbstbezeichnung mit Personalpronomen wie she, her oder us, wahlweise werden auch kurze, selbst ausgedachte Buchstabengruppen wie xa, pu oder lz verwendet. Im Deutschen eigentlich unnötig, doch wie jede andere Mode schwappte auch diese mit Macht in die progressive Szene, die sofort daran ging, zu den selbst angehefteten Traditionspronomen sie, er und es auch frei erfundene "Neopronomen" wie xier, dey, hen, ens und sier zu verwenden.

Wobei sich ausgerechnet diese geplante Verwendung im Alltag als schwierig herausgestellt hat. Zwar haben junge, einfallsreiche Tüftler und Innovatoren aus Niedersachsen bereits vor Monaten einen weltweiten Durchbruch mit der Erfindung eines Pronomen-Button erzielt. Doch obwohl dadurch viele Unsicherheiten, inwieweit man fragen darf und was genau man noch sagen, behoben wurden, ist die Frage der korrekten Anwendung von Fantasiepronomen weitgehend unklar.

Schuld der deutschen Sprache

Schuld ist die deutsche Sprache, die von alters her vorsieht, dass zur Ansprache ausschließlich die geschlechterneutralen Pronomen "Sie", "Du" und "ihr" benutzt werden. Geschlechtsbezogene Personalpronomen wie "er" und "sie" finden Verwendung nur als Mittel der Kommunikation in der sogenannten dritten Person: Sprechen zwei über einen anderen, dann ist der er oder sie ist sie. 
 
Sind er oder sie hingegen zugegen, sind sie Du und oder - in der distanzierten Höflichkeitsform - "Sie". Zum "Er" oder "Sie" im Sinne es geschlechterberücksichtigenden Personalpronomen würde nur gegriffen, handelte es sich bei der oder dem Betreffenden um eine Königliche Hoheit, die mit Pluralis Majestatis angesprochen wird: Von sich selbst mit "Wir". Von allen anderen mit "Ihr" oder "Eure".

Grammatikalische und semantische Hürden, die sich bisher einer weiten und so wichtigen Verbreitung der vielen, vielen Neopronomen in den Weg legen. Das Pronomen "xier" wurde bereits vor 15 Jahren von Illi Anna Heger erfunden und in einem jahrelangen aufwendigen Prozess mit einer ganzen Herde von Possessivpronomen wie xiesa, xiese, xies und den zugehörigen Artikeln und Relativpronomen dier/dies/diem/dien/dust umgeben. Längst ließen sich damit Fernsehsendungen, Show und Filme auf Deutsch produzieren, die auf Untertitelung nicht verzichten könnten. 

Kaum Anwendungsmöglichkeiten

Doch obwohl die wegweisende deutsche Sprachinnovation den Anspruch hat, komplett geschlechtslos zu sein, um damit theoretisch jede:r/s angesprochen werden kann, dessen Geschlecht man nicht weiß oder der sich vielleicht nicht mit all den bekannten Pronomen identifizieren kann, wird die Möglichkeit kaum genutzt.

Immer wieder gibt es aufklärende Beiträge engagierter Medienarbeiter, die vorgeben  zu erklären "wie man Neopronomen richtig nutzt". Doch nicht nur dem Fantasiewort "dey", das ebenso wie "xier" über ein umfangreiches und schwer verständliches Buchstabensystem um sich herum verfügt, ist nicht alltagstauglich, obwohl es genderneutral zu sein vorgibt.

Bei "dey" wird die Endung -e an Wörter geklebt, die sonst in der maskulinen Form gewesen wären. Doch bei der Verwendung fällt auf: Auch "dey" erlaubt das Reden über andere, die abwesend sind. Nicht aber deren direkte Ansprache. Es fehlt auch hier an Lebenssituationen, die zur Sprache passen. So wie niemand jemanden jemals mit "er" oder "sie" anspricht, tun es weite Teile der Bevölkerung auch nicht mit ens, dey, plups und schmotz, so dass große Teile der Arbeit der agilen deutschen Pronomenbewegung gar nicht auf fruchtbaren Boden fallen können.

Mit Hilfe aus den USA: Als das ZDF sein eigenes Twitter erfand

Große Ziele für eine Welt ohne Milliardärsfaschismus: Im Winter 2023 schmiedete das ZDF ehrgeizige Pläne für ein eigenes Social-Media-Portal.

Weltmännisch und cool, so kam die Meldung rüber. Wie so viele Politiker, Kunstschaffende und Aktivisti hatte auch das ZDF die Nase voll vom Milliardärsfaschismus auf X, das schon als Twitter so schrecklich gewesen war, dass etwa aufrechte Sozialdemokraten die Plattform flohen wie das Dritte Reich und lieber zu TikTok gingen. Unter Elon Musk aber entwickelte sich der Schrecken zur Hölle, das Grauen zu einer Grabeshöhle für die Wahrheit, wie sie auch das ZDF jeden Tag sendet. In Mainz fiel der Entschluss: Wir bauen uns eine eigene Plattform, auf der wir sicher und bequem Gleichgesinnte ansprechen, überzeugen und ohne Widerspruch am Fortschritt arbeiten können.

Ankündigung und Erwartung

Es brauchte nicht lange, dann waren Partner gefunden. Gemeinsam mit öffentlich-rechtlichen Anstalten aus Kanada, der Schweiz und Belgien arbeite man einem "Forschungsprojekt für offenen Dialog im Netz", teilte ZDF-Intendant Norbert Himmler stolz mit. "Die Demokratie lebt von einem offenen und fairen Dialog in der Gesellschaft", begründete er die Investition von Gebührengeldern der Beitragszahler in einen Bereich weit jenseits des Programmauftrages, "einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben".

Himmler weiß, wie eine solche Ausweitung der Kampfzone am besten verkauft wird. Man dürfe den besagten "fairen Dialog" nicht "den amerikanischen Großplattformen überlassen", übersetzte er die "medienkapitalistischen Heuschrecken"  des ARD-Framing-Manuals von 2019 in eine zeitgemäße Formulierung. Das geplanten Projekt 'Public Spaces Incubator' werde Wege aufzeigen, "wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk unabhängige und faktenbasierte Kommunikationsräume in der digitalen Welt aufbauen" könne. "Unser gemeinsames Ziel ist es, der Zunahme von Hass, Gewalt, Propaganda und Diffamierung in den sozialen Medien mit einer öffentlich-rechtlichen Alternative zu begegnen." 

Technischer Meinungsfreiheitsschutz

Schon nach etwas mehr als einem Jahr lagen die ersten Ergebnisse zu möglichen technischen Lösungen für einen erweiterten Meinungsfreiheitsschutz im Netz vor, allesamt von der gemeinnützigen Organisation New Public sorgfältig so designt, dass Nutzerinnen und Nutzer nicht mehr mühsam selbst Meinungen äußern, Kommentare verfassen oder ihre Ansichten öffentlich machen müssen. 

New Public, ein Projekt der in Washington beheimateten National Conference on Citizenship, hat dazu verschiedene spielerische Aktionsmöglichkeiten für die künftige "nicht-profitorientierte digitale Kommunikation" (ZDF) erdacht. So sollen als Ersatz für - häufig zweifelhafte oder uneindeutige - geschriebene Kommentare sogenannte "Comments Slider" zum Einsatz kommen. Dabei handelt es sich um simple verschiebbare Regler, mit denen Debattenteilnehmer ihre Ansichten in einem zuvor festgelegten Meinungsspektrum verdeutlichen können, ohne dazu eine Tastatur benutzen müssen.

Schieben statt Schreiben

Ergänzend kommen "Public Square Views" genannte Livestreams zum Einsatz, wie sie sich "vor allem junge Menschen" wünschen, die nach Erkenntnissen des ZDF "in Online-Räumen einfach nur zusammen sein" wollen. Dieses Grundbedürfnis befriedigen die öffentlichen Zuschauerplätze: Auf gezeigte Inhalte können die Userinnen und User mit Emojis reagieren, zudem werde es die Möglichkeit geben, an Blitzumfragen teilzunehmen. Wer das tut, werde mit der Einladung in einen Chatroom belohnt, in dem er dann einzelne Szenen des Streams kommentieren könne. Damit sei es möglich, "auf einfache, unterhaltsame und kurzlebige Weise, "Erlebnisse miteinander zu teilen und "sich am Diskurs zu beteiligen". 

Das erklärte Ziel des ZDF, die Diskussion im Netz nicht allein amerikanischen Plattformen zu überlassen, erreicht das Zweite mit Hilfe seines amerikanischen Partners New Public und dessen Team aus "researchers, engineers, designers, and community leader" zudem auch mit den "Representing Perspectives", die, wie der Name schon sagt, verhindern sollen, dass womöglich falsche Mehrheiten die Oberhand in Diskussionen gewinnen. Ein "Prototyp" für gelenkte "Gesprächsräume" weise Userinnen und User beim Schreiben von Kommentaren bestimmte Rollen zu, die "von den Redaktionen, die das jeweilige Angebot betreuen, festgelegt" würden. 

Redaktionen entscheiden über richtige Meinungen

"Dadurch kann die Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven verdeutlicht werden, und Redaktionen haben die Möglichkeit, unterrepräsentierte Perspektiven stärker zu betonen", lässt das ZDF schon einen ersten Blick in die gekämmten und geföhnten Debatten einer Zukunft zu, die ohne die "privatwirtschaftlich meist aus den USA heraus geführten Plattformen" auskommt, "die Regeln nach Gutdünken von heute auf morgen ändern können und deren Maßnahmen gegen Desinformation und Hass ebenfalls vor allem vom Gutdünken der Eigentümer abhängen" (ZDF). 

Beim ZDF wird das nicht zugelassen sein. Die öffentlich-rechtliche Alternative, an der das Forschungsprojekt "Public Spaces Incubator" aus den USA tüftelt, wird "bürgerliches Engagement und den demokratischen Diskurs im digitalen Raum abseits von Hasskommentaren und zunehmender Desinformation" ermöglichen, indem "innovative Bausteine für offene und respektvoll geführte Online-Diskussionen" bisherige Werkzeuge wie Kommentare, Gefällt-mir-Klicks und die bei X von vielen engagierten Öffentlichkeitsarbeitern so gefürchteten Community Notes so lange ersetzen, bis "sich Menschen besser verstehen und vernetzen sowie soziale Technologien kompetent verwenden, pflegen und unterhalten können".

Schon 2025 soll das Unternehmen scharf geschaltet werden. Zwei Jahre von der Idee bis zur Umsetzung wären für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein neuer Rekord. Schneller ist noch keine Totgeburt zur Welt gekommen.

Dienstag, 1. Oktober 2024

Ostdeutsche Studie: Gutes Rad ist nicht teuer

Die Menschen zum Radfahren zu bewegen, auch wenn sie vielleicht gerade gar kein Ziel haben, ist dringend nötig. Mehr als 87 Prozent der 83 Millionen deutschen Fahrräder werden derzeit deutlich zu wenig bewegt.

Er gilt als der Schlüsselstein zur klimagerechten Mobilität, aber auch als das Stiefkind der Parteiprogramme bei der großen Transformation. Radfahrer müssen sich immer wieder mit Forderungen nach neuen Steuern auseinandersetzen, ihnen wird nachgesagt, dass sie die Verkehrsregeln nicht kennen oder aber absichtlich missachten und Versuche, den deutschen Schwerlastverkehr mehr als bisher mit Lastenrädern abzuwickeln, scheiterten oft schon am Wetter. Es fehlt an Radwegen, weil die zuerst einmal in Peru gebaut werden müssen. Und es fehlt an flotten, glatten Radfernautobahnen, über die Pendler morgens auch mal 70 oder 90 Kilometer zur Arbeit brausen können.

Zwei Räder statt vier

Wie aber kann das Werk doch gelingen, von dem so viel abhängt? Was braucht die Gesellschaft, um sich von den geliebten vier Rädern zu verabschieden und sich mit zwei oder drei zu bescheiden? Das Climate Watch Institut im sächsischen Grimma hat in einer neuen Studie im Auftrag des mittelständischen Fahrradreifenhersteller Caroli Tires festgestellt, dass der Weg lang, das Ziel aber keineswegs unerreichbar ist. Und verlockend: zwei statt vier Rädern "spare schon mal die Hälfte", sagt einer der Forschenden.

Auf Basis verschiedener Datenerhebungen und Umfragen, die zum Beispiel miteinbeziehen, unter welchen Umständen Menschen sich sicher genug fühlen, um aufs Rad zu steigen, haben die Wissenschaftler um Studienleiter Herbert Haase ein alltagsnahes Szenario entworfen, wie die Radbenutzungsquoten deutschlandweit gesteigert werden könnten, ohne dass die Radinfrastruktur dazu deutlich besser sein müsste als heute.

Instruktionen zur Umsetzung

Es gehe dabei nicht um einen Investitionsplan, sagt Studienleiter Haase, denn "auch wir wissen um die finanziellen Grenzen, die der Bundespolitik und der EU derzeit gesetzt sind". Das Potenzial, das Millionen Menschen bilden, die bis heute kaum oder nie mit dem Rad fahren, könne jedoch auch auf anderen Wegen gehoben werden. "Unser Ziel war es, genau solche Wege zu zeigen." 

Die Studie "How can people be forced to cycle? Instructions on options for action", veröffentlicht im Zweiradmagazin "Crankshaft & Chain", nennt vor allem politische, verwaltungstechnische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, um den Radverkehrsanteil bis 2035 zumindest zu verdreifachen. Große Neubauvorhaben etwa zu Fahrradstraßen und Fahrradwegen seien dazu nicht nötig. "Es würde vollkommen ausreichen, dass heutige Straßen, die zumeist überwiegend von Autos genutzt werden, in großem Stil umzuwidmen."

Fahrradnetz für alle

Alles an Wegen von bis zu 30 Kilometern im jeweiligen Umkreis zum Fahrradnetz zu erklären, Tempo 30 nur für Zweiräder aufheben und für Fernfahren eine barrierefreie Integration in den ÖPNV planen - aus dieser "konsequente Flächenumverteilung zu Gunsten des Radverkehrs" folge zwangsläufig eine größere Bürgerbeteiligung. "Wer daran gehindert wird, mit dem Auto zu fahren, sucht nach Alternativen und findet sie im Rad." 

Angeregt werden dazu neben Straßensperrungen und Fahrverboten in den Städten "preispolitische Maßnahmen" wie höhere Treibstoffpreise, höhere Steuern und gezielte neue Abgaben wie etwa eine Streckenmaut. Biete der Radverkehr dann auch immer noch kein "qualitativ hochwertiges und günstiges Angebot, das direkt an den öffentlichen Personenverkehr andockt", so werde er doch konkurrenzfähig auch in Bereichen, in denen viele auf der Suche nach individueller Mobilität heute noch ins Auto steigen, obwohl sie wissen, wie schwer das globale Klima darunter zu leiden hat.

Locken und zwingen

Locken, aber auch zwingen, das sind die beiden Teile der Zange, in die die CWI-Forscher Radfahrunwillige künftig nehmen wollen. Einer zunehmend alternden Gesellschaft müsse Mut gemacht werden, trotz gewisser altersbedingter Blessuren aufs Rad zu steigen. Dazu will das CWI eine "positive Fahrradkultur" entwickeln - gemeinsam mit Städten und Gemeinden sollen Fahrradlehrgänge, Fahrradfeste und Fahrradexkursionen veranstaltet werden, um noch zögernde Menschen mitzunehmen. An Material für eine erste Ausfahrt fehlt es nicht: Fast 83 Millionen Fahrräder stehen heute schon in deutschen Haushalten, etwa 87 Prozent werden allerdings kaum oder gar nicht genutzt.

Das zu ändern, sieht die CIW-Studie auch Investitionen vor. So sollen bis 2070 47.000 Kilometer Radwege neu gebaut oder saniert werden, 12.000 Kilometer sogenannter Winterwege sollen zugleich überdacht und mit seitlichen Windschutzpanelen versehen werden. Gelingt es, diesen ehrgeizigen Plan umzusetzen, rechnen die Forschenden bundesweit mit einer Steigerung des Anteils des Radverkehrs von aktuell 13 Prozent auf 73,2 Prozent.  In der Fläche zwischen weitgehend verlassenen Ortschaften etwa in Ostdeutschland könne die Zahl auch höher liegen - wenn der Gesetzgeber sich nicht scheue, die dringende Empfehlung zur Einführung fester Radverkehrszeiten umzusetzen. "Das wären etwa Tage oder auch Stunden, an denen Menschen aufgefordert wären, mit dem Rad zu fahren." 

Das Rad als Retter

Aus der Sicht von Rad- und Umweltaktivisten ist das schon lange dringend nötig. Trotz vorhandenem Fahrradpark und vielen bereits gut ausgebaute und sicheren Radwegen verursacht der Verkehr immer noch mehr Treibhausgase, als ihm nach den Pariser Klimabeschlüssen zustehen. Eine Verdreifachung des Radverkehrs würde bis zu 19 Millionen Tonnen Treibhausgase einsparen, eine Versechsfachung fast 40 Millionen. 

Das wäre sogar mehr als ein allgemeines Haustierverbot auf Deutschlands Klimarechnung einzuzahlen verspricht, hat es das Wissenschaftlerteam um Herbert Haase ausgerechnet. Zum Vergleich: Die Untersagung der privaten Zucht von Haus- und Kleintieren brächte rund 18 Millionen Tonnen Einsparung im Jahr, etwa zehnmal so viel wie ein Tempolimit. Mehr Radfahren senkt den Ausstoß noch weit deutlicher.

Dokusoap-Preis: Große Suppenkelle für die "Tagesschau"


 Die "Tagesschau" wurde jetzt mit dem Medienpreis "Große Suppenkelle" geehrt.

Seit dem 26. Dezember 1952 ist die allabendliche "Tagesschau" der Ort, an dem die Deutschen zusammenfinden. Hier werden Wahrheiten verkündet, Fakten passend eingeordnet, Zusammenhänge weggekürzt und nach der guten, leichten Nachricht zum Dessert gibt es den Sport mit Weltbewegendem von Biathlon und Fußball und zum versöhnlichen Abschluss das zunehmend warme Wetter.

Deutschlands erfolgreichste Soap

Die Sendung funktioniert dabei wie jede gute Soap: Die Protagonisten, die einmal erfolgreich eingeführt wurden, bleiben für immer. Gestalten wie der Papst, wie auch immer er gerade heißt, führende Politiker aus dem In- und Ausland, Wissenschaftlernde, berühmte Verbandsvertreter, Sportler und Kulturschaffende leisten zumeist über Jahrzehnte ihren Beitrag zu den "15 Minuten Ruhm" (Andy Warhol) jeden Abend, die das Zweite Gesetz der Mediendynamik als Sendungslänge vorschreibt.

Dass die bis heute erfolgreichste Sendung der öffentlich-rechtlichen Sender jetzt im vorpommerschen Greifswald mit dem Medienpreis "Große Suppenkelle" geehrt wurde, verwundert kaum. Zwar gilt der von bürgerschaftliche engagierten Frauen und Männern ins Leben ausgelobte Preis eigentlich klassischen Soap-Formaten wie "Lindenstraße", "Rote Rosen" oder "Hartz und herzlich", doch aufgrund der Einschaltquoten und der gerade in den Zeiten von Fake News und Hasshetze gewachsenen Bedeutung der Informationssendung Nummer 1 im deutschen Fernsehen entschied die Jury sich dennoch für den Klassiker unter den deutschen Seifenopern. 

Da wird Handwerk verstanden

"Die Tagesschau beweist ihrem Publikum jeden Abend, wie gut sie ihr Handwerk versteht", lobt Jury-Sprecherin Sölke Müller-Möller. Selbst die zumeist über Jahre hinweg unverändert genutzten Kulissen und das nur selten wechselnde Darstellerensemble mindere die Wirkung der Sendebemühungen kaum. "Vor der klassisch-blauen elektronischen Wand wird das Genre nicht neu definiert, aber jeder Vorabend  mit Themen gefüllt, die der Redaktion am Herzen liegen."

Erklärtes Ziel ist es, nicht nur selbst über Gendern, Cancel Culture, Klima und Wärmepumpen zu sprechen, sondern darüber, wie gut die Politik die Notwendigkeit dieser und - oft in schneller Folge wechselnder - weiterer Themen in die Gesellschaft vermittelt. Die "Tagesschau" sei dabei eine große Hilfe, sagt Müller-Möller. 

Oft nur knapp angerissen, ersetzen liebevoll gedrechselte Miniaturen aus Faktenteilen, Bruchstücken von Begebenheiten und bündig zusammengefassten Empfehlungen dazu, was jedermann davon meinen sollte, pointierte Erklärstücke mit allzu fachlichen Einzelheiten. "Stets spürt der Zuschauernde das Bemühen, auf verschiedene Aspekte der Themen zu verzichten und stattdessen klare Botschaften zu vermitteln."

Mehr als Information

Die Begründung der Jury des mit 52.000 Euro dotierten Suppenkelle-Preises lobt denn auch überschwänglich. "Die ,Tagesschau' ist mehr als nur Information, sie ist auch Erziehung und Unterhaltung". Auch Konkurrenzangebote wie "Heute" vom ZDF iel vorgenommen – und schon in den ersten Ausgaben bemerkenswert viel richtig gemacht. Das klassische Late-Night-Konzept mit einer Mischung aus Monologen, Einspielern und Gästen hat die Satirikerin von Anfang an so sehr gesprengt, dass ihre Show binnen kürzester Zeit eine ganz eigene Dynamik entfaltet hat, die sie im deutschen Fernsehen unverwechselbar macht. 

"Gekonnt setzt die ,Tagesschau' ihr Stammensemble ein, um mit Hilfe oft ikonisch wirkender statischer Bilder von vorfahrenden Limousinen, auf flachen Podien stehenden Politiker*innen und Aufsagern von Korrespondenten, die zuweilen Tausende Kilometer vom Ereignisort entfernt stehen, an einem großen Fortsetzungsroman namens ,Gegenwart' zu schreiben", heißt es in der Laudatio des Merkel-Autobiografen Horst Hallig. Die "Tagesschau" nehme aktuelle Themen der Gesellschaft auseinander, zumeist in Form eines kurzen satirischen Monologs, den der Moderierende im Studio vorlese. 

Authentisches Gepränge

Danach erfolge eine Präsentation eilig ablaufender Videoschnipsel, die zwar nichts zur Erhellung beitragen, der jeweiligen Folge aber ein authentisches Gepränge verleihen. "Die größte Stärke der Sendung ist zweifelsohne, dass es ihr gelingt, das so glaubhaft rüberzubringen, dass der weitgehend hohle Kern der Sendung unter der Menge an schnell hintereinander verabreichten vermeintlichen Informationen verschwindet."

Eine Methode, die die Redaktion in den vergangenen Jahren perfektioniert habe, ohne sich von Widerspruch beirren zu lassen. Was genau wann und warum gesendet wird, hänge oft nicht vom reinen Nachrichtenwert ab, lobt Hallig die Gesamtkomposition. Wichtiger sei häufig die Mischung, die aus gleichermaßen unterhaltsamen und wie lehrreichen Einspielfilmen bestehen solle, in denen die Redaktion mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hält, ohne sie laut trommelnd als Debattenbeitrag zu entwerten. 

Als wichtigste Zutat zum Erfolgsrezept gelten die sogenannten "häufig vorkommenden Prominenten", kurz "hvP". Ihre Gesichter erst machen aus der "Tagesschau" eine Soap, die das Publikum in den Bann zieht, die unterschiedliche Charaktere gegeneinanderstellt und den Zuschauenden die Wahl ihres Kämpfers biete. Böse Protagonisten wie Trump, Putin, Xi und Weidel stehen auf der einen Seite, gelegentlich verstärkt von Erdogan, Meloni und Höcke. Gegenüber halten Heldenfiguren wie Ursula von der Leyen, Olaf Scholz, Robert Habeck und Joe Biden dagegen. 

Keine Selbsthilfegruppe

"Was schnell in einer Art Selbsthilfegruppe hätte enden können, besticht durch einen hohen Grad an Sachkenntnis und Tiefgang beim Weiterentwickeln von Geschichten", sagt Sölke Müller-Möller. Das gelinge einerseits durch die Auswahl der Gäste, die häufig, aber abgesehen von Sonderlagen nicht täglich auftauchen. Andererseits aber auch durch die Erwähnung unterschiedlicher Auffassungen, von denen dann  eine herausgehoben und bezeugt werden, um die Spannung zu erhalten.

"Die ,Tagesschau' ist sicherlich keine Sendung für Zuschauernde, die eine Lust auf Erkenntnisgewinn spüren", sagt Horst Hallig, "aber ganz gleich, ob es um Armut in Deutschland oder den Klimawandel geht, die Botschaft ist immer klar: Hier steht etwas Störendes, Abzulehnendes, Umstrittenes, dort jemand, der die Lösung hätte". 

Die Verleihung der Große Suppenkelle solle dieses Engagement ehren und die kontinuierliche Arbeit am Format würdigen. "Dass die Sendung keine Angst davor hat, dass Zuschauern nach 15 Minuten weniger wissen als zuvor, ist eine Wohltat in einem Genre, das viel zu oft auf die schnelle Infomationsvermittlung aus ist."