Sonntag, 8. September 2024

Wohlstand 2.0: Weg mit der Wachstumswehmut

Robert Habecks Weissagungen von 2011 sind eingetroffen: Niemandem wird es schlechter gehen, vielen aber viel besser.

Von ihm war die Idee der Bundesbetriebsferien, von ihm war auch die Warnung Richtung VW, dass bis 2025 ein Elektroauto für höchstens 20.000 Euro angeboten werden müsse, sonst sei der Ofen bald aus. Immer hat Robert Habeck recht behalten, niemals wurde ihm ein Irrtum nachgewiesen. 

Das macht in Wolfsburg, Kassel, Zwickau und den anderen Automobilbaustandorten Zehntausenden von Arbeitern und Angestellten Hoffnung, dass der grüne Kanzlerkandidat die Dinge wirklich vom Ende denkt: "Wir brauchen keine Autofirmen" hatte Habeck schon als junger Dachs in der holsteinischen Landespolitik einen Blick in die Zukunft gewagt, der damals gerade begann, mit Mut und Tatkraft zu gestalten.

Vorhersage trifft genau ein

Dreizehn Jahre danach ist es fast so weit. Offiziell werden "maues Management, maue Konjunktur, China, Elektroauto" (Die Zeit) als Begründung für die Bedrohungslage beim ehemals wertvollsten Konzern der welt angegeben. Doch wer Habecks Wirken schon länger verfolgt, erkennt den großen Plan, der beharrlich und in kleinen Schritten umgesetzt wird. 

Alles folgt einer kühnen Prämisse, die der damals gerade 41 Jahre alte und bundesweit noch recht unbekannte Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein 2011 öffentlich gemacht hatte: Weniger Autos seien besser als mehr Autos, stimmte er einem Ratsschluss des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu. Und ergänzte ihn um einen echten Habeck: "Und die wenigeren Autos müssen weniger Benzin verbrauchen als heute."

Bhutan als Vorbild

Habeck hat Recht behalten.
Robert Habeck hatte das, was künftig als Wohlstand gelten soll, zu jener Zeit, als "Degrowth" noch ein Fremdwort war, bereits fest definiert. Nicht mehr Wirtschaftswachstum und Kaufkraft, sondern 21 andere Kriterien für Wohlstand würden zählen. Eine Idee, der sich Bundeskanzler Olaf Scholz auf Anregung des früheren Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" erst viele Jahre später anschloss. Dass weniger Autos nicht weniger Wohlstand bedeuten, ist heute erwiesen. 

Obwohl allein Volkswagen eine halbe Million Autos weniger verkauft, als die größte deutsche Mobilitätsschmiede aus alter Gewohnheit herstellt, wurde kein Lohn gekürzt, kein Gehalt eingedampft und nicht einmal die saftige Dividende zusammengestrichen, von der vor allem das Land Niedersachsen als größter Anteilseigner profitiert.

Habeck, der sich heute keineswegs damit brüstet, hatte schon vor dreizehn Jahren vorhergesagt, dass "weniger Autos noch nicht mal zu weniger Wirtschaftswachstum führen" und "ganz sicher aber nicht zu weniger Wohlstand, sondern zu neuen Branchen". Der "nationale Wohlfahrtsindex" ("NWI"), der anders als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) auch Orchideenbereiche beleuchtet, Gefühle widerspiegelt und die emotionalen Umstände der freiwillig empfundenen Lebensqualität einbezieht, relativiert das Leben unter bedrückenden Verhältnissen ohne Wachstumshoffnungen und Aussicht auf die Wirkung von Dynamisierungspaketen.

"Nationaler Wohlfahrtsindex"

"Wirtschaftsschwach" gilt hier bei der Messung als Vorteil: Selbst wenn das BIP wie seit Jahren in Deutschland stagniert, ist der NWI in der Lage, einen Anstieg auszuweisen. Arbeitslose haben mehr Zeit und weniger Stress, nicht hergestellte oder verkaufte Autos  sparen Wasser und Strom und Benzin, angetackerte Flaschendeckel mindern die Plastikbelastung der Meere, wegfallende Partys, Vergnügungen und Volksfeste minimieren die Schäden durch Tabak-, Alkohol-, Drogen-und Messermissbrauch. Wer nicht fährt, fährt nicht verkehrt, Verkehrsunfälle bleiben aus, Krankenzeiten gehen zurück und nicht gehaltene Hunde und Katzen fressen nichts.

Weniger Autos, weniger Stahl, weniger Exporte, weniger Geschäftsmodell, weniger sogenannte Wettbewerbsfähigkeit - das "grüne BIP" misst Wohlstand wachstumsunabhängig und entkoppelt so das schlechte Gefühl vieler angesichts einer Vielzahl von schlechten Nachrichten vom gewünschten Zustand eines Musterlandes, dessen Selbstgefälligkeit sich in Unmut, Ärger und Hetze äußert, sobald selbst Schönrechnen nicht mehr verbergen kann, dass dauerhafte Stagnation bei steigenden Preisen Schrumpfung bedeutet.

Schrumpelnde Wirtschaft

Das Zusammenschrumpeln der Wirtschaft hatte Habeck bereits vor 13 Jahren als Chance bezeichnet. Nicht auf die Zahlen kommt es an, sondern darauf, wie sie hingenommen werden. Wenn Menschen erst begriffen hätten, dass das Fehlen einer Einkommensspreizung, abgeschaltete Kernkraftwerke und die Abschaffung von Maismonokulturen in der Landwirtschaft genauso Wohlstand seien wie ein sicherer Arbeitsplatz, ein volles Konto und eine gebuchte Fernreise, dann wachse die Einsicht, dass es auch ohne Wachstum geht. 

Als der Bundeskanzler im vergangenen Jahr den Regierungschef von Bhutan empfing, Repräsentant eines asiatischen Elendsstaates, der so bettelarm ist, dass das Prokopf-Einkommen seiner Bürger noch hinter dem von Lesotho, Burundi und Dschibuti liegt, zeigte er fasziniert von der geistig-moralischen Wende, die am Arsch von Asien gelungen ist. Statt mit einem Bruttoinlandsprodukt, das kaum vorzeigbar ist, rechnen die knapp 800.000 Bhutaner einfach mit einem selbstausgedachten "Bruttonationalglück" (Tagesschau). Das hat kein anderes Land. Das macht Bhutan zum Weltmarktführer, ohne dass es irgendeiner Art von Mühe oder Anstrengung bedarf.

Wenn das Schrumpfen wächst

Wenn das Schrumpfen wächst, hat das wunderbare Nebenwirkungen. Das Schöne an dieser Art Wert- und Wohlstandsvernichtung ist doch, dass der Staat dabei immer gewinnt und dass das kaum jemand bemerkt. Die Berge an Altschulden schrumpfen, die Steuereinnahmen aber explodieren förmlich. Nur der Staat könne andererseits die höheren Kosten stemmen - folglich müsse er sich solidarisch zeigen und den Forderungen der Gewerkschaft nach 10,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt für den öffentlichen Dienst nachgeben. Nicht einmal dieser große Schluck aus der Pulle gleiche doch die Reallohnverluste bis hierher aus. "Acht Prozent 2022, in diesem Jahr vermutlich nochmal um die sechs Prozent: Das heißt, Ende des Jahres werden die Menschen 14 Prozent weniger Kaufkraft mit ihren bestehenden Löhnen haben", hat der DIW-Chef errechnen lassen.

Sonnige Aussichten, die ein Diskussionspapier des "Denkwerks Demokratie" schon Jahre zuvor am Horizont erblickt hatte. Die "Degrowth"-Experten hatten für SPD, Grüne und Gewerkschaft nach der "Gesellschaftsordnung der Zukunft" gesucht und sie im Minuswachstum gefunden. Deutschland solle seine Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auf ein völlig neues Fundament stellen, in dem völlig neue Werte gelten: Statt stetigem Wachstum, stabiler Preise, hoher Beschäftigung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht wären nachhaltige Staatsfinanzen, nachhaltiger Wohlstand, soziale Nachhaltigkeit und schließlich ökologische Nachhaltigkeit ein lohnendes Ziel, um gut zu leben.

Die Konsequenz der Vision

Wer keine Großkonzerne und keine Exportindustrie zu hat, ist in diesem neuen wirtschaftlichen Sinn besonders stark. "Wir brauchen hier keine große Auto- oder Petroindustrie", hatte Robert Habeck seinen Plan schon früh umrissen. Das Potenzial liege bei "den Life-Sciences, der Bioökonomie, neuen Produktionsketten, einer Renaissance der Landwirtschaft, den Erneuerbaren mit all ihren Verästelungen". Die Strategien, die der spätere Vorsitzende der Grünen in Schleswig-Holstein testete, strafte die konventionellen Wachstumstheoretiker Lügen und wies nach, dass es unnötig ist, "weiter an einem qualitätsblinden Wachstumsbegriff festzuhalten". Weniger wird mehr, Bescheidenheit boomt, Konjunktur entsteht aus Reparatur. 

Die gute alte Gute Gesellschaft

Der große Umbau, er ist seitdem gut vorangekommen, dort, wo alles begonnen hat, sogar nocht stärker als runherum. Das preisbereinigte BIP von Schleswig-Holstein lag zuletzt bei minus 1,1 Prozent, sogar noch schlechter als das ohnehin bescheidene deutsche Bruttoinlandsprodukt, welches im letzten Jahr um 0,3 Prozent zurückging. Wirtschaftliche Transformation ohne Wachstumswehmut setzt auf eine neue gesellschaftliche Vorstellung von Lebensglück, die die gesamte Volkswirtschaft so klug steuert, dass nicht irgendwelche toten Zahlen besser werden, sondern im Sinne der "Guten Gesellschaft", die die sozialdemokratische Vordenkerin Andrea Nahles einst als sozial regulierten Gegenentwurf zum Wachstumskapitalismus vorgeschlagen hatte.

Was vor 15 Jahren ein kühner Traum einer Frau mit Ambitionen war, ist zu einem guten Teil Realität geworden. Um "gutes Wachstum" zu erreichen, das auch negativ sein kann, entschließen sich Bäcker, nicht mehr zu backen, Kneiper die Türen und pressure groups aus der Zivilgesellschaft fordern unermüdlich höhere Kfz-Steuern, niedrigere Geschwindigkeiten auf der Autobahn, mehr Maut und weniger Parkplätze. 

Genialer Kniff

Das rechnet sich, denn wer länger fährt, steht weniger herum, und wer weniger herumsteht, schafft mehr, ohne mehr zu tun. Der geniale Kniff am wachsenden Schrumpfen, wie es der Habeck-Plan von 2011 den Deutschen in Aussicht stellte, besteht weniger in einer drastischen Transformation als vielmehr in einem sanften Hinübergleiten in eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die sich selbst genug ist, und das etwa im Zustand der Jahre zwischen 2010 und 2015. Wie Endfünfziger bei aller simulierten Geschäftigkeit oft nur noch auf den Tag des Renteneintritts warten, hat Robert Habeck für die gesamte Gesellschaft Kurs gesetzt auf letzte Lebensjahre in Demut und Bescheidenheit. 

Das Gesparte noch verfrühstücken. Den in den fetten Jahren angefutterten Wohlstandsspeck gemütlich verstoffwechseln. Das Licht des Glaubens an den unaufhaltsam voranschreitenden Fortschritt abdimmen. Ohne Wehmut schaut der wohlstandsverwöhnte Boomer zurück auf ein Vernichtungswerk an Klima, Natur, Umwelt und Gemeinschaft, das ihn und die Seinen zur fürchterlichsten Generation hatte werden lassen, die jemals auf Erden wandelte und wirkte. 

Lange, fast zu lange hat es gedauert von Robert Habecks dringlicher Botschaft, dass "wir keine Autofirmen brauchen", bis zu den ersten Schritten zum Automobilausstieg. Noch ist nichts entschieden, aber wenn jetzt alles ganz schnell geht, kann die Umkehr gerade noch gelingen.


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

In 'ner Sekunde Schlösser bau'n
Zwei Tage einzieh'n und alles kaputthau'n
Alles Geld der Welt verbrenn'n
Und heut die Zukunft kenn'n
Und das ist alles nur in meinem Kopf


Andreas Bourani, 2011

n0by hat gesagt…

Wäre es nicht sinnvoll für die Olivgrüne Planung, frei werdenden industrielle Kapazitäten für die Rüstung zu nutzen?

Anonym hat gesagt…

[ Was unternehmen Scholz und Habeck, damit die Unternehmen in Deutschland bleiben? Stemmt sich die Regierung genug gegen den Industrie-Abbau in Deutschland?

Danieli: „Aus meiner Sicht wird der Auszug der Industrie aus Deutschland von der politischen Führung ignoriert. ]
Oh heilige Einfalt! Das wird nicht "ignoriert", sondern mit großem Wohlgefallen gesehen.