Lissabon II lockt: Mit neuen Milliardenschulden will Mario Draghi die EU planmäßig aus der Wachstumsdepression führen. |
Als Mario Draghi im Mai 2000 den Vorsitz des Wirtschafts- und Finanzausschusses der Europäischen Union übernahm, war alles noch frisch. Fast roch sie noch nach Farbe, die Lissabon-Strategie, mit der die EU sich in den wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt verwandeln wollte. Der Euro war eine strahlende Vision, die Gemeinschaft ehrgeizig, der Plan kühn: Könnte man mit Regulierung bis zum äußersten Anschlag, strengen Planvorgaben, mit Verboten, Maßgaben und verbindlichen politischen Zielen die Produktivität und Innovationsgeschwindigkeit auf einem Kontinent erhöhen, der kurz davor stand, Staaten mit völlig unterschiedliche Volkswirtschaften mit dem eisernen Band einer einheitlichen Währung zu fesseln?
Ein umjubeltes Experiment
Ein spannendes Experiment, dessen Start von Jubel umtost war. Immerhin aber gaben sich die Staatenlenker zehn Jahre Zeit bis zu Erfüllung. Zehn Jahre gelten im politischen Raum als idealer Korridor. Zumeist reicht diese Zeitspanne, um Dinge vollkommen in Vergessenheit geraten zu lassen. Droht doch ein Tag der Abrechnung, wird häufig schon vor dem Enddatum ein neues Fass aufgemacht: Noch hochfliegendere Pläne und ehrgeizigere Ziele ersetzen dann das absehbar scheiternde Ursprungsvorhaben. Ein neuer Name motiviert zudem regelmäßig zu neuer Zuversicht. Zugleich wird dann immer die Zeitspanne verlängert - im Fall der "Lissabon-Strategie" folgte "Europa 2020", für noch "intelligenteres, nachhaltigeres und integrativeres Wachstum".
Mario Draghi war immer dabei, mal hier und mal dort, aber stets in wichtiger Funktion. Wie die anderen aus dem nur zwei, drei Dutzend führender Köpfe umfassenden Zentralpersonalvorrat der Gemeinschaft stellte der wackere Italiener Weichen hier und Weichen da. Er sagte als EZB-Chef den Satz von "egal, was es kostet", rettete damit den Euro und durfte mit 74 schließlich italienischer Ministerpräsident werden. Nur kurz allerdings, denn nach nur etwas mehr als einem Jahr gab er den Regierungsauftrag zurück.
Glück für die EU
Zum Glück für die EU, die schon lange jemanden gesucht hatte, der ihr sachlich und ganz ehrlich Auskunft darüber gibt, wie sie 25 Jahre nach der Ausrufung der Lissabon-Strategie wirtschaftlich dasteht. Hat die Gemeinschaft der 27 wie geplant Japan und die USA hinter sich gelassen? Ist die größte Staatenfamilie "im Rahmen des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt" geworden? Und wie steht es um die geplanten Innovationen, die "als Motor für Wirtschaftswachstum" hatten dienen sollen?
Draghi, als früherer EZB-Chef den Umgang mit Millionen - anfangs - und Milliarden gewohnt, hat nun geliefert. Und eine klare Rechnung aufgemacht: Ein knappes Vierteljahrhundert nach dem großen Sprung von Lissabon braucht die EU für Innovationen Investitionen von bis zu 800 Milliarden Euro, selbstredend zusätzlich zu allem, was an Sonderschulden und Wiederaufbauprogrammen sonst so unter die Leute geworfen wird. Das sind rund 4.000 Euro pro Arbeitnehmer in der EU, mithin keine Summe, die Ursula von der Leyen nicht aus dem Ärmel schütteln könnte, würde man sie lassen.
Niemand hat Schuld
Das ist aber auch schon das Positive am Urteil des EU-Altinternationalen. Denn Mario Draghi ist es in dem Jahr, seit er beauftragt wurde, herauszufinden, "wie die EU ihre Wirtschaft wettbewerbsfähig halten kann" (Tagesschau) augenscheinlich nicht gelungen, herauszufinden, warum sie über diese Frage überhaupt nachdenken muss. Natürlich, "Sorge bereiten ihm die USA und China", zwei Wirtschaftsräume, in denen es irgendwie anders läuft, um nicht zu sagen besser. Aber liegt das an der Sprache dort? Am Wetter?
Er weiß es nicht. Fakt sei aber, dass in Europa die Produktivität schwach, sehr schwach" ausfalle, so dass sich "zwischen der EU und den USA eine große Lücke im Bruttoinlandsprodukt aufgetan" habe. Mit der Folge, dass das "verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen sei wie in der EU und die europäischen Haushalte den Preis in Form eines entgangenen Lebensstandards gezahlt" hätten.
Nicht hat Gründe
Nur woran das lag, war offenbar nicht herauszubekommen. Draghi ist zwar der verpassten Digitalisierung auf die Spur gekommen, er hat auch herausgefunden, dass die EU kaum Hightech-Konzerne vorzuweisen hat und im Internet die zwölfte Geige spielt. Ursachen aber hat das nach Angaben des inzwischen 77-Jährigen keine.
Hier mal was verpasst, ja, unglücklich. Dort nicht aufgepasst und überholt worden, nun ja, nicht zu ändern. Nur vier der 50 größten Technologieunternehmen der Welt seien europäische Unternehmen, hat Draghi in seinen einjährigen Recherchen ermittelt. Wer hätte das gedacht? Darüberhinaus aber "fragt euch nach den Gründen nicht!" (Heinrich von Kleist). Kein Gedanke daran, dass bestimmte politische Weichenstellungen es gewesen sein könnten, die Europa einen sicheren Platz im Besenwagen des Fortschritts beschwert hat.
Überregulierung? Planwirtschaft? Politische Zielvorgaben, die Firmen in den Käfig behördlich geförderter Innovationen zwingen? Ein Kapitalmarkt, der so kompliziert und überbeaufsichtigt ist, dass selbst die wenigen erfolgreichen Neugründungen lieber in Übersee an die Börse gehen? Mario Draghi hat 13.000 Gesetzte und Rechtsakte gefunden, die die EU mit 30.000 zusätzlichen Beamte und Beauftragte erdacht und eingeführt hat. Doch der erfahrene Italiener wäre kein alter EU-Kämpe, wenn er anfangen würde, am Europa der Bürokraten herumzukritteln, nur weil es dringend nötig erscheint.
Der Ablenker
Nein, dem Mann, der an der Wiege der Lissabon-Strategie stand, schwebt stattdessen eine Fortsetzung der bisherigen Erfolgsgeschichte vor. Welche Regulierungen, rechtsakte und EU-Gesetze bräuchte es, um mit noch mehr Planwirtschaft, mehr Zentralismus und weiteren 13.000 kleinteiligen Vorschriften alles zu verändern, aber nichts? Nur noch größer, schöner und mit einem noch neueren Namen. Ein "Marshallplan" soll es sein, das zieht immer, irgendwer soll aus dem Geldtopf, der so heißt, von dem aber nicht klar ist, wer ihn füllen wird, mächtige "zusätzliche jährliche Mindestinvestitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro" ausschütten. Beantragung, Vergabe und Kontrolle könnten sich am Corona-Wiederaufbaufonds orientieren. Das würde wenigstens ein Drittel der nicht vorhandenen Mittel sparen, so dass der Rest deutlich länger reichen dürfte.
Die Magie der großen Zahl, keiner weiß sie besser einzuschätzen als Mario Draghi, dem aus jahrelanger Tätigkeit als Populist auch sehr gewärtig ist, wie sich wichtige Fragen durch belanglose Details überblenden lassen. Dass seine Milliardenforderung einer Förderung von irgendwas, was niemand weiß, "mehr das Doppelte der Hilfen aus dem Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg" betrage, ist ebenso hilfreich wie es der Hinweis gewesen wäre, dass Geld Tore schießt, aber die Abwehr Meisterschaften gewinnt.
Draghis Thema
Draghis Thema ist denn auch ein ganz anderes. Treu im Dienst der europäischen Sache empfiehlt der Italiener die Aufnahme neuer Gemeinschaftsschulden nebst neuer Instrumente zum Eintreiben von EU-Eigenmitteln, eine Paraphrase, die im Europäischen für eigene EU-Steuern, EU-Einfuhrzölle und EU-Extraabgaben wie die auf Plastik steht. Hochverschuldete Länder wie Italien (sic) und Frankreich sind schon lange dafür, Deutschland und die Niederlande wehren sich noch. Doch wie lange können sie das, wenn der Euro-Retter Draghi die Europäer vor einer "existenziellen Herausforderung" warnt? Wer will schon schuld sein, wenn es wieder nicht klappt mit dem wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum?
Lissabon II schimmert schon am Horizont. Neue, riesengroße Pläne. Zentrale Planung, Leitung und Durchführung. Engmaschige Aufsicht über Innovationen. Neue Cookie-Aufhebungscookie-Richtlinien. KI-Act und Chips-Act und die "Senkung der Energiepreise"! Dazu die "Verringerung der Abhängigkeit von anderen Ländern" durch eine bessere "Justierung der Klimapolitik in der EU". Mario Draghi hat Hoffnung mitgebracht, dass eine weitere Runde großer Ankündigungen weitere Jahre für ein bedingungsloses Weiterso kaufen können.
Gleichschritt oder Tod
Es hält sogar für nicht unmöglich, sondern für "sehr wahrscheinlich, dass die Dekarbonisierung eine Wachstumschance ist". Voraussetzung aber sei Einigkeit in allen 27 Mitgliedsstaaten und die Durchsetzung gleicher Regeln und Vorschriften auf dem gesamten Kontinent - ein Ding also, das in der EU noch niemals gelungen ist. Bleibt es diesmal dabei, so Draghi, bestehe "die Gefahr, dass die Dekarbonisierung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wachstum zuwiderläuft". Um noch mehr Vorschriften führt also gar kein Weg herum.
4 Kommentare:
Ja, ein echtes Desaster. Aber hoch verdient hat sich der Urnenpöbel das. Man wählt jeden daher gelaufenen Depp/in und wundert sich dann. Ich finde es erfreulich wenn die, also die wählenden Staatsbürger, die das Problem verursacht haben, jetzt auch die Konsequenzen tragen müssen.
Auch, dass sie es sich widerstandslos gefallen lassen von den UNGEWÄHLTEN in Brüssel ausnehmen zu lassen, erfüllt mich mit Freude.
Wenn NUR die mediengläubigen Trottel und nur die die Konsequenzen zu tragen hätten, wäre es mir eine Lust und Genugtuung. Leider ist dem nicht so, sondern unsereiner muss mit dran glauben.
Nun, man beschäftigt sich entweder mit dem Thema des sich-entziehens, oder man gehört zu den Massenmenschen. Sie wollen ein gutes Leben INNERHALB dieses Systems? Gerne, aber dann halt auch die Nebenwirkungen bezahlen.
Schon mal gehört? : Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.
Schon mal gehört? : Double bind.
Man tut schon, was man kann. Viel ist es ja nicht. Gegen einen Riesenberg Mist ist schwer anzustinken.
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