Dienstag, 3. September 2024

Nach dem Wahldekabel: Ochs und Esel in ihrem Lauf

Der gesamte Westen schwelgt in Nostalgie: Wäre es doch noch alles, wie es früher war.

Kevin Kühnert stand mit einem leeren Blick vor der Kamera. Das Gesicht über dem anlassangemessenen schwarzen Halbanzug bleich, das Haar wirr, die Augenringe dunkel. Wer aber geglaubt hatte, dass der Strippenzieher der Nach-Schröder-SPD Anflüge von Einsicht zeigen würde, wurde umgehend eines Besseren belehrt. Nicht ganz gut, diese Wahlergebnisse. Aber nicht so schlecht, wie sie hätten sein können. Verglichen mit den Umfragen vom Mai hat die SPD in Sachsen mehr als 100 Prozent zugelegt. Kevin Kühnert, ein politisch gesehen immer noch blutjunger Funktionär ohne jede Lebenserfahrung außerhalb der sozialdemokratischen Blase, pfiff vor dem Wald aus Mikrofonen. Es war ein misstönendes Lied, das nicht einmal das eigene Gefolge überzeugen konnte.

Historischer Wendepunkt

Die deutsche Sozialdemokratie, sie hatte den Schierlingsbecher nahezu ausgetrunken. Offenbar völlig überrascht von dem, was da mit Ansage gekommen war, zeigten sich die Spitzenfunktionäre vollkommen unvorbereitet. Saskia Esken, die Frau, die die deutsche Sozialdemokratie an diesen historischen Wendepunkt geführt hat, an dem sie den Kanzler stellt und zugleich keine Rolle mehr spielt, bügelte Einwände gegen die SPD-Strategie ähnlich souverän wie Kühnert ab. Es gibt nichts zu bereuen. Die Botschaft war richtig. Nur die Zustellung ist bisher nicht gelungen. "Daran müssen wir arbeiten." Vielleicht würde mehr vom Selben helfen. Vielleicht lernt das Pferd das Sprechen. Vielleicht stirbt auch der böse König.

Das politische Berlin, am Tag nach dem Wahldebakel, bei dem SPD, Grüne und FDP den Osten verloren, war es in Hochform. Auf einer Skala von "Wir haben verstanden" bis "die Ampel in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf" schlug der Zeiger bei "Keinen Fußbreit der Wirklichkeit" an. Die SPD hatte, jeder konnte es Esken am Gesicht ansehen, kollektiv den Kopf verloren und ihre letzten Freunde dazu. Der Plan B für den absehbaren Fall einer mit Krachen verlorenen Wahl war es, Plan A als trotzdem richtig zu loben. Nur die parteieigene Presse übernahm die kühne Deutung: Das RND, Teil des unüberschaubaren Medienimperiums der deutschen Sozialdemokratie, das seiner Partei seit Jahren mit großem Engagement auf die Strümpfe zu helfen versucht, erklärte kurzerhand, Sachsen habe gezeigt, dass der traurige Teilhaber noch "Gewinnen" könne.

Wilde Wendungen

Es heißt jetzt wegdiskutieren, beschwichtigen, sich selbst etwas Schönes vormachen. Wie die SPD litten auch die Grünen sichtlich unter dem plötzlichen Liebesentzug. Wähnte sich die Partei der Baerbock und Habeck eben noch auf der Seite der Sieger der Geschichte, stand sie nun da wir ein begossener Pudel. Ricarda Lang, die am Wahlabend ihre weiche Seite gezeigt hatte, zeigte sich wenig später schon überzeugt, dass es nicht die späten und dafür umso wilderen Wendungen der grünen Migrationspolitik waren, die für die Wähler eine Rolle bei ihrer Entscheidung gegen die einstige Beinahe-Volkspartei gespielt hatten. Überhaupt sei der Flüchtlingszustrom kein wichtiges Thema gewesen. Vielmehr habe die CDU schuld, auf die Grünen eingehackt habe, um die Demokratie zu beschädigen. 

Ricarda Lang (l.) mit langem Gesicht.
Von der FDP war gar nichts zu hören, abgesehen von der Durchhalteparole des Vorsitzenden, dass nun "Handlungsdruck" bestehe und er "die Schnauze voll" habe. Unklar wovon genau, aber nur noch Stunden kann es dauern, bis Christian Lindner mit einem neuen Bündel von Beschwörungsvokabel um die Ecke kommt und Dynamisierungspakete, Wirtschaftswenden und akute Wummse ausruft. Schuld an allem, und das kränkt alle am meisten, ist der Osten, die Blage, die man sich vor 34 Jahren reingeholt hat und deren Undankbarkeit nur noch übertroffen wird von der Frechheit, mit der sie alle Wahlempfehlungen und Warnungen vor dem Vierten Reich in den Wind schlägt.

Sehnsucht nach der Bonner Republik

Die Sehnsucht nach der alten Bonner Republik, sie sitzt in allen Fernsehrunden. Wie demokratisch könnte es doch zugehen, wären da nicht die, die die Demokratie nie verstanden haben als die Herrschaftsform, in der die Regierenden den Regierten sagen, wen sie in Betracht ziehen dürfen, um sich regieren zu lassen. Wie schön könnte das politische Leben sein, wäre man noch unter sich. Aber nein, es soll nicht sein. Der Osten ist undankbar. Der Osten hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Der Osten will nicht, was er zweifellos sollen muss, will er doch noch werden, wie der Westen ist. 

Kein Vergleich ist zu groß, kein Hirngespinst zu dünn. Bettina Schausten, nicht irgendwer, sondern Chefredakteurin des ZDF, gelang es, den Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen und den demokratischen Unfall bei der Thüringen-Wahl in eine direkte historische Beziehung zu stellen. Vom Wahltag an wird verbal zurückgeschossen. An jedem anderen Tag wären die neuen Mehrheitsverhältnisse aus Mainzer Sicht hinnehmbar gewesen. Aber nicht am 85. Jahrestag!

Die Taz, in der Bonner Republik als emanzipatorisches Projekt gestartet, gestand milde zu "es sind ja nicht alle schlecht in Sachsen", fand aber doch, dass "so schlecht eigentlich nicht" gewesen sei, was die Grün*innen den Wäh­le­r*in­nen angeboten hätten. Nur scheine es fast, "als könnte die Partei machen, was sie will – am Ende steht sie doch mies da." Diese Ossis. Als seien es nicht die Grünen gewesen, die sie damals aus dem verrotteten Osten retteten. Haben denn alle Ex-DDR-Bürgerinnen und -Bürger schon vergessen, wie die Öko-Partei in den Monaten der Diskussion um den Vollzug der deutsche Einheit mit dem Slogan "Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter" in den Bundestagswahlkampf zogen?

Last des Versagens

Sie sind da in der Kochstraße einer großen Sache auf der Spur, bekommen aber bald Gelegenheit, noch tiefer recherchieren. Denn statt Umzukippen unter der Last des Versagens, das droht, eine gesamte Legislaturperiode auf den knappen Geschichtsbucheintrag "vier verlorene Jahre" zu reduzieren, leuchten alle Ampel-Lampen unbeeindruckt weiter. In den Stunden der Not gilt es standhaft zu bleiben, nicht am eigenen Angebot zu zweifeln und den Laden offenzuhalten. Vielleicht kommen die Kunden ja doch wieder. Haben nicht auch die amerikanischen Ureinwohner immer von der Rückkehr den endlosen Büffelherden in die Weiten der Prärie geglaubt?

Niemand kippt um, keiner tritt zurück, keiner verlässt den Pfad, keiner geht allein! Man ist sich selbst genug. Und alle zusammen, wieder einmal "untergehakt" (Scholz), beantworten die Flucht der Wählerinnen und Wähler vor der Ampel in die Arme der Extremisten mit einem trotzigen Weiter so. Dann sollen sie doch sehen, wie weit sie kommen ohne uns! Zwischen Wählerbeschimpfung und offen geäußerten Zweifeln an der Einsichtsfähigkeit der Wähler in die Notwendigkeit, eine sehr gut arbeitende Regierung zu unterstützen, liegen nur einige Interviews, einige Talkshows und die dicken Türen zu den Hinterzimmern der Parteizentralen.

Kurs Selbstverzwergung

Der kühne Kurs der Selbstverzwergung, das Aufbauprogramm für die Ränder, die regelmäßige Fütterung der Populisten, all das verdient uneingeschränkten Respekt. Wenn Parteien nicht nur ein Programm haben, sondern echte Überzeugungen, dann dürfen sie um den Preis ihrer Glaubwürdigkeit nicht umfallen und nicht vom rechten Pfad abweichen. Auch nicht, wenn ihnen die Mehrheit nach Jahren geduldigen Wartens auf das grüne Wirtschaftswunder, die billigen Strompreise und das Anspringen der Wirtschaft von der Fahne geht. Obwohl doch innere Sicherheit, Wirtschaft, Energie- und Klimapolitik, Grenz- und Migrationspolitik kurz davor stehen, sich eines fernen Tages vielleicht doch als erfolgreich zu erweisen.

Die Reihen fest geschlossen

Es hat dann eben nicht sollen sein. Hauptsache, die Reihen bleiben fest geschlossen, dann kommen auch die Wähler wieder. Die Zentrumspartei bezeugt es, die Christliche Bayerische Volkspartei liefert den lebenden Beweis und die Unabhängige Arbeiter-Partei könnte Geschichten darüber erzählen, wie Prinzipientreue sich auszahlt. Innere Überzeugung ist es, nach der sich der Wählerwillen biegt: Das Volk weiß nichts, oder doch nur das, was ihm ausreichend deutliche erklärt worden ist. Es folgt dann denen, die es führen. Daher ja der Name "Volk".

Schaden nimmt die Demokratie nur, wenn Parteien ihre Überzeugungen für ein Butterbrot mit dich gestrichener Macht verkaufen. Wenn aus kruden Thesen unabweisbare Erkenntnisse werden, sich verfassungswidrige Vorschläge in unumgängliche Maßnahmen und die Opfer menschenverachtender Diktaturen über Nacht remigriert werden, um eine alte Nazi-Forderung umzusetzen. In der Erwartung, eine Mehrheit der Menschen werde das unmittelbar an der Wahlurne honorieren. Auch wenn nicht, bleibt eine Galgenfrist, im aktuellen Fall von noch mehr als einem Jahr. So lange darf durchregiert werden, denn so lange ist die Koalition legitimiert.

Politisches Hebelgesetz

So geht Demokratie und so besteht sie auch derzeit ihre Funktionsprobe. Es wirkt das politische Hebelgesetz: Je später das Ende, desto schmerzhafter wird es. War die Wahl der AfD anfangs noch ein simples Signal an alle anderen, sich und ihre Politik zu ändern, zeigt sich nun: Wenn die das nicht tun wollen, treibt sie der Wähler dorthin, wo sie wollen müssen oder untergehen werden wie ein Stein. Die Warnsignale werden seit Jahren lauter. Die Hilferufe der Wählerschaft sind so schrill, dass Ohrenzuhalten nicht mehr hilft. Aber zugehört wird nicht, basta. 

Die jetzige Regierung hat das eine nicht getan und das andere nicht vor. Vor die Wahl gestellt, dem Wähler ein besseres Angebot zu machen oder einfach weiter, hat sich die SPD für den Satz "Olaf Scholz ist unser starker Bundeskanzler und wird unser starker Bundeskanzler-Kandidat sein" entschieden und die Grünen für den Kampf gegen das "Schlechtreden" und Optimismus vor der Brandenburg-Wahl. Der liberale Justizminister zitiert aus den Tagebüchern von Goebbels oder Göring. Unübersehbar wird alles besser erklärt, polierter angeboten und für dümmer verkauft.

Über den Elefanten sprechen die Clowns. Das ist Demokratie. 


5 Kommentare:

irgendwer hat gesagt…

Die Last des Versagens trägt sich leichter, wenn man in Umfragen auf 5 bis 6 % gehyped wird, wie in Sachsen und Brandenburg, so dass so manches Wählende sein Kreuzchen nicht für verschwendet hält, wie es bei 3 bis 4%-Prognosen der Fall wäre...

Anonym hat gesagt…

Buschmann: AfD ist anti-marktwirschaftlich.

Grund war Höckes Ankündigung, keine Stihl-Motorsägen mehr zu kaufen.

Grund war, dass Stihl die Produktion in das bekannte Niedriglohnland Schweiz verlagern will, weil es in Buschmanns Republik zu irre wird mit Kosten und Bürokratie.

Und so schnell schließt sich der Kreis zum Attribut 'anti-marktwirschaftlich'.

Anonym hat gesagt…

A propos 1. September
Wenn man dem Göring-Link folg:
Der Sturz des Regimes gleich zu Anfang sei durch Daladier verhindert worden. Pilsudski habe ihm sagen lassen, er sei zum Einmarsch in Deutschland bereit. Aber Daladier habe gezögert und schließlich nein gesagt (wohl weil die Volksstimmung in Frankreich für einen Krieg nicht zu haben war).
1935

Oder mit den Worten eines bekannten CCC-Mitglieds: Ach. Ach was.

Anonym hat gesagt…

Während der Perestroika wurde Rakowski 1988 rehabilitiert (Bolschewokiblödia)
Hättense mal bleibenlassen sollen!

Anonym hat gesagt…

Überhaupt lehr- und aufschlussreich zu lesen: Ein kurtzwweylig Lesen von Christian* Rakowski.
Erklärt unter anderem, warum sich die Ankkank-Mächte, obwohl Sieger, mit dem Versailler Diktata selber auch ins Knie ge ... haben.
*Er hieß so, war aber keiner ...