Montag, 9. September 2024

EU-Wahl: Aus den Augen, aus dem Sinn

"Es kann nur eine geben", aber ein paar mehr Frauen werden es dann doch nicht der neuen EU-Kommission. Nur nicht so viele wie versprochen.

Was war das für eine Aufregung im Mai! EU-Wahl, "Schicksalswahl" (Table-Media). Ein neuer Präsidierender für 440 Millionen Menschen wird gesucht, die Demokratie steht auf dem Spiel. Die europäische Sozialdemokratie setzte auf Nicolas Schmit, einen Luxemburger. Deutschland schickte Ursula von der Leyen ins Rennen, die allerdings nicht selbst kandidierte. Der Sieg war dennoch ihrer. Trotz Rechtsrutsch und Linksrutsch gelang es der alten und neuen Chefin der EU-Kommission, sich nach sechs Wochen intensiver Hinterzimmerverhandlungen weitere fünf Jahre im Amt zu sichern.

Aus dem Fokus

Als das geschah, war die EU schon wieder aus dem Fokus des öffentlichen Interesses gerutscht. Sie waren noch da, das größte, zumindest in Teilen demokratisch gewählte Parlament der Welt. Sogar  bekannte Gesichter hatten es wieder nach Straßburg geschafft, abgestraft und gedemütigt, aber glücklich und nicht ohne große Ansprüche. Auch in Brüssel lief der normale Betrieb unbeeindruckt von der Wahlentscheidung der Europäer weiter wie zuvor. Josep Borrell kämpfte für die palästinensische Sache. Sein Kommissarskollege Thierry Breton gegen X. Ursula von der Leyen für eine paritätische Besetzung ihrer künftigen Gehilfenrunde.

Fast 100 Tage sind seitdem vergangen. Hundert Tage, in denen die Kommissionspräsidentin ihrem Ziel nicht nähergekommen ist. Die aber immerhin dafür gesorgt haben, dass sich wirklich niemand mehr daran erinnert, was im Mai alles auf dem Spiel gestanden haben soll. In Brüssel ist business as usual, das Raumschiff ist unterwegs zu Zielen, die niemand kennt, nicht einmal die Frauen und Männer auf der Kommandobrücke, deren Namen niemand weiß, weil sie noch nicht durch alle Gremien gewürfelt wurden und die Zustimmung der europäischen Staatenlenker wie die der nun wieder 720 Abgeordneten noch aussteht.
 

Torpedo für den Paritätsplan


Die Mitgliedsstaaten haben von der Leyens Plan torpediert. Eigentlich hätten alle 26 - abzüglich Deutschlands, das die Chefin stellt - je zwei Kandidaten für den ihnen zustehenden Kommisarsposten machen sollen. Eine Frau, einen Mann. Je nach Verhandlungsverlauf und Kompromissgepuzzel hätte Ursula von der Leyen dann paritätisch besetzt: Hier ein Mann, dort eine Frau. Versprechen, die in den Partnerländern bestimmten Anwärtern gemacht worden waren, wären unter Umständen reihenweise an der Geschlechterarithmetik gescheitert. 

Also machten die Regierungen reihenweise nicht mit. Kein einziges Land benannte zwei mögliche Kommissare. Von der Leyen bekam Namen, aber überwiegend die von Männern. Sie bekam Vorschläge, aber aus vielen Hauptstädten nur einen. Als die Frist auslief, stand die 65-Jährige mit 17 Männern und nur sieben Frauen da. Eine Blamage sondergleichen, denn von europäischer Solidarität, einem Zusammenrücken in schweren Zeiten und den gemeinsamen Ziehen an einem Strick blieb wieder einmal nicht viel. Es drohe eine Kommission "Von der Leyen II", der weniger Frauen angehören als irgendwann in den vergangenen 20 Jahren, heißt es in Brüssel.

Bauchlandung in Brüssel

Wenigstens aber findet die Bauchlandung des Paritätsplan unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. So sehr die EU in den zwei Wochen vor den drei Wahltagen im Mai - auf einen einzigen können sich die Mitgliedsstaaten seit 50 Jahren nicht einigen -  die Schlagzeilen dominierte, so still ist es in den Monaten seitdem um alles geworden, was die EU betrifft. 
 
Seit Ursula von der Leyen die Krone der "Queen of Europe" (Morgenpost) Mitte Juli zum zweiten Mal aufgesetzt bekam, ist der Nachrichtenfluss aus dem Berlaymont-Palast versiegt. Nichts dringt aus der sagenhaften Herzkammer der europäischen Verordnungsdemokratie, die den Weltrekord bei den meisten verliehenen Energieeffizienzzertifikaten trägt. Hin und wieder Genörgel über den "bedenklichen Trend" bei der Verweigerung gleicher Chance für Frauen durch den "Old Boys Club". Ab und an Gemecker über den Rechtssrutsch, der auch die Kommission bedroht.

Mehr war nicht zu hören aus der "weltweit größten Union von Demokraten" (Bundesregierung), der sogar mehr junge Menschen vertrauen als dem Funktionieren der Demokratie selbst (Bertelsmann-Stiftung). Als Orban nach Russland flog, meldete sie sich zu Wort, mit einem Aufruf zum Boykott. Die X-Kriege gingen weiter, denn dass Thierry Breton weitermachen wird, steht außer Frage. Der Mann ist erst 69. Auch Borrell macht weiter mit seinen Angriffen gegen Israel. Erst wenn Kaja Kallas aus Estland durch die Gremien ist, wird eine Anschlussverwendung für den 77-Jährigen gesucht.

Funkstille im Barleymont

Darüber hinaus aber war Funkstille. Die EU schwieg sich zu Klimafragen ebenso aus wie zur Migration, die anhaltende Wirtschaftskrise spielte keine Rolle, es gab keine Neuigkeiten zum Asylgesetz und als der Milliardenbetrug mit Zertifikaten für CO2-emittierende Unternehmen aufflog, erinnerte sich in der Gemeinschaft niemand laut an die Absicht vom letzten Jahr, gegen Greenwashing vorzugehen.
 
Die "Schicksalswahl"  (Focus) ist ausgegangen wie das Hornberger Schießen. Alles ist neu, und genau wie zuvor. Die "Gleichstellung der Geschlechter" in der Kommission ist allem Anschein nach das einzige Problem, das Europa mit Europa hat. Die üblichen hundert Tage Schonfrist nach der Wahl hat Ursula von der Leyen zumindest schadlos überstanden - wie schon vor ihrer Anmeldung zur Fortsetzung ihrer Tätigkeit hat auch danach bisher niemand erfahren, was sie vorhat, wohin sie den Kontinent lenken will, ob Klima weiter Schwerpunkt bleibt, was mit dem milliardenschweren Corona-Wiederaufbau-Programm werden soll, das immer noch nicht in Gang kommt.

Falls die Frau, die bis heute den Rekord für die meisten verschiedenen Ministerposten hält, schon etwas weiß, hat sie es niemandem verraten. Es hat sie aber auch keiner gefragt.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Bevor man die ganz großen Projekte stemmen kann, muss man erstmal das Geplärre im Internet darüber abstellen.

Anonym hat gesagt…

>>> Auf nius.de hat Ben Brechtken einen linksliberalen Kommentar zu diesem Thema verfasst. Ein Auszug:

Um dem Wählerwillen nach einer Politik rechts der Mitte und einer Abwahl der Ampel zu entsprechen, gibt es nur eine Chance: Eine CDU-Minderheitsregierung, die sich von der AfD tolerieren lässt. Eine Regierung ohne antibürgerliches Personal, ohne völkischen Mief ... <<<

Was ist denn das für ein seltenes Vögelchen, und, was ist "völkischer Mief"?