Tief im Westen trauern viele Menschen einer Vergangenheit nach, die es nie gegeben hat. Das prägende Gefühl dahinter ist als Westalgie bekannt. |
Der Westen als eine Erfindung von Westdeutschen, die nie in dem Land gelebt haben, das sie heute vergöttern. Bundesrepublik, wie stolz das klingt, wenn sie es sagen. Der Staat, der unterging, als Millionen arme, entrechtete und konsumentwöhnte Ostdeutsche beitraten, hat sich in den Jahren seit 1990 grundlegend gewandelt. Die alte Bundesrepublik der verbotenen Schwangerschaftsabbrüche, der erlaubten Vergewaltigung in der Ehe, der Unterdrückung der LGBTÜA-Gemeinde, der dauernd infrage gestellten Westbindung und der willfährig gebeugten Knie vor der ostdeutschen Diktatur ist für eine Generation nachgewachsener Westalgiker zu, Sehnsuchtsort geworden.
Grundgesetz war Konsens
Damals, so sagen sie, sei das Grundgesetz noch Konsens gewesen. Sogenannte "rechte" Parteien hätten keine Chance gehabt, die Natur war ursprünglich und noch nicht zerstört und niemand sprach von einer Spaltung der Nation, die von Bayern bis Holstein stolz war auf ihre Fußballweltmeister, ihre Erfinder und die mächtigen Konzerne der sagenumwobenen Deutschland AG. Der ehemalige Spitzenpolitiker Armin Laschet ist einer, der dieser Zeit hinterhertrauert, als weiße, deutsche, männliche Politiker die Welt zu regieren schienen.
Das, was in der alten Bundesrepublik an Machtkämpfen stattfand - mit Massenstreiks, Massenarbeitslosigkeit, Drogen als Massenphänomen und Bundestagsreden, für die heute die Sonderpolizei zum Kampf gegen Hassreden zuständig wäre - nennt der Mann aus Nirdrhein-Westfalen "Jahrzehnte Demokratieschulung hatten". Das sei es, was dem Osten fehle, die dortigen Diktaturerfahrungen verhinderten Demokratiefähigkeit. Denn klar sei: Was sich nicht nach dem Bild formen lasse, das die vorgeben, die es besser wissen, sei zum Rückfall in dunkle Zeiten verurteilt, in denen Diktatoren regieren und Kriege geführt werden.
Überhöhung einer Zeit, die es nicht gab
Die Ansicht, dass es nur so sein könne, nennt die Wissenschaft "Westalgie". Dabei handelt es sich um eine Überhöhung einer Zeit, die so nie existiert hat, die sich aber im Nachhinein vor allem für Jüngere als Erlösungskult anbietet. Vertreiben aus einem vermeintlichen Paradies fühlen sich nicht die, die gezwungen waren, dort tatsächlich eine Zeit lang zu leben. Sondern deren Nachfahren - so wie alte Palästinenser, Türken und Syrer froh sind, der Enge und der Rückständigkeit der arabischen Welt entkommen zu sein, Jüngere sie aber vergöttern, leben Westaltiker ihre Sehnsucht nach der alten, untergegangenen Bundesrepublik, die sie nie gekannt haben.
Vorbild sind echte, alte, kernige Westdeutsche wie der gebürtige Tscheche Maxim Biller, der 2009 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Hymne auf den alte Westen sang. Diese Bonner Republik sei "das so ziemlich coolste, freiste Land der Welt", ein Sehnsuchtsort für alle Menschen. Erst der "lähmende Einfluss der xenophoben, deutschnationalen, provinziellen, für immer bolschewistischen Duckmäuserossis" habe sie zuschanden geritten.
Schuld ist der Ossi
Schuld sind immer die anderen. Opfer ist man immer selbst. So denken Westalgiker heute nicht mehr einzeln, sondern als größte gesellschaftliche Gruppe, die die Schaltstellen in den Behörden besetzt, die Pressure Groups der NGOs führt, in den Medien Kritik an Abweichlern übt und abends in den Echtholzparkettwohnungen in den Bionadevierteln "Tatort" schaut als wäre es ein Gottesdienst.
Besonders typische Produkte und Riten aus Zeiten der frühen Konsumgesellschaft unter Adenauer, Schmidt und Kohl erlebten seit der Vertreibung aus dem Paradies durch die hinterwäldlerischen Ossi eine Renaissance. Die "Tagesschau" versammelt die Gemeinde noch immer zum allabendlichen Gottesdienst vor der Tageswahrheit, der "Tatort" ist ein ebensolches religiöses Ritual. Als zentrales Medium der Westalgie gelten in der Tat die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender, die ihre Nachrichtenprogramme traditionell nach dem Leitsatz gestalten, dass jeder nur so viel wissen müsse, wie für die Erfüllung seiner Aufgabe unbedingt nötig sei.
Die guten alten Zeiten
Der Rest ist pure Westalgie, eine Rückbezogenheit auf die guten alten Zeiten, als deutsche Politiker noch nach Afrika flogen und dort für ihren guten Gaben gefeiert wurden. War es nicht schön? Aber immer mit Sahne!
Es ist ein Verlustgefühl, dass überzeugte Westdeutsche ohne anderweitige Wurzeln empfinden. Sie glauben sich an Tage zu erinnern, als China, Osteuropa oder Arabien dankbar waren für jeden Tipp aus Bonn, wie sie ihre Länder auf Vordermann bringen könnten. Kanzler auf Staatsbesuch wurden weltweit gefeiert. Sie genossen höchste Ehrerbietung und jedermann erhoffte sich von ihnen Hinweise darauf, wie er seinen Staat auch so erfolgreich machen könne, am beste, ohne ihn zuvor komplett in Trümmer zu zerlegen.
Wissen in der DNA
Dieses Wissen scheint fest in der westdeutschen DNA verankert. Obwohl heute kaum mehr ein deutscher Staatsmann irgendwohin auf Staatsbesuch unterwegs ist, weil all die Krisen die ständige Anwesenheit daheim erfordern, geht die große Gruppe der Westalgiker weiterhin davon aus, dass die Welt darauf wartet, von Deutschland auf den richtigen Weg gebracht zu werden. Der Westalgiker sieht sich als Vorbild, ja, als Erlöser. Seine Überzeugungen, dass Wind und Sonne keine Rechnung schicken, bald die ganze Menschheit aus der Kernenergienutzung aussteigen werde und die EU so gut sei, dass sie nur noch besser gemacht werden müsse, um zu funktionieren, hält er für alternativlos.
Die Wahrnehmung des Westalgikers ist eine spezielle, fein entwickelt, um nur noch wahrzunehmen, was die eigenen Erwartungen bestätigt. Der Westalgiker kann nicht enttäuscht werden, so oft ihm auch falsche Versprechungen gemacht worden sind. Wieder und wieder vertraut er Parteien und Politikern, sobald sie ihm zusagen, nun aber wirklich tun, was sie schon letztes und vorletztes Mal versprochen haben. Der Verkaufsschlager vor jeder Wahl, der den Westalgiker überzeugt, ist die Versicherung, dass es diesmal ernst gemeint sei mit der Politik für das Volk, nach den Vorstellungen aus dem Volk.
Parolen mit Wiedererkennungswert
Parolen mit hohem Wiedererkennungswert und die Heiligen Bücher aus den Jahren der Besatzungszeit ohne eigene staatliche Souveränität appellierten an die Erinnerungen und Erfahrungen Westdeutscher, an die Zeit, als sie noch nicht teilen mussten, weil sie noch nicht wiedervereint waren. Erkennungssymbole sind kultige Bekleidung wie der Syltpullover, Lederslipper von Breuninger und die klobigen Ray-Ban-Sonnenbrillen, die Westalgiker an eine Zeit erinnern, als die Brüder und Schwestern im Osten noch dankbar für ein Westpaket mit abgelegter Kleidung waren.
Neben vielen und zumeist chinesischen Produkten, die beispielhaft für die in Westdeutschland längst dominierende Westalgie stehen, erzählen auch die oft bis heute unverändert gelassenen westdeutschen Innenstädte, die im Zustand von 1990 erhaltenen Autobahnen und die vielen Westalgie-Hotels für eine allumfassende Sehnsucht nach der BRD, wie sie früher war. Selbst der Soundtrack zur Sehnsucht nach der Vergangenheit klingt wie ein Echo vergessener Zeiten: Roland Kaiser, Peter Schilling, Grönemeyer und Gigi D'Agostino sind beliebt wie nie, auch Udo Lindenberg ist erfolgreich.
Weiße Männer für Westalgie
Mit ihm steht ausgerechnet ein alter weißer Mann für die Westalgie, der die alte Bundesrepublik zu deren Lebzeiten heftig kritisiert und bekämpft hatte. Kein Treppenwitz der Weltgeschichte, sondern für Westalgiker ein Beweis dafür, dass früher alles besser war. Fakten, die beweisen, dass der Lebensstandards in den alten Bundesländern vor der Wiedervereinigung deutlich niedriger lag und die Arbeitslosigkeit sehr viel höher, interessieren nicht: Die untergegangene Bonner BRD wird zunehmend positiver wahrgenommen, sie ist der imaginäre Ort, an den es viele zieht.
Dieser Trend wird von Wissenschaftlern vor allem mit der großen Enttäuschung vieler Menschen in Westdeutschland in Verbindung gebracht, für die die Wiedervereinigung von Verlusten und Misserfolgen geprägt war. Diese Ernüchterung, die mit einer tendenziellen Ablehnung der aktuellen politischen Verhältnisse einhergeht, ist die Grundlage für die nostalgische Sehnsucht nach der Zeit, in der teils fatale gesellschaftspolitische, wirtschaftliche und soziale Zustände in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen herrschten. Berufsverbote, Proteste von Hunderttausenden gegen die Regierung, gewalttätige Angriffe Tausender auf die kritische Infrastruktur, Terrorismus und die Anfänge des Aufbaus des Überwachungsstaates - alle diese Dinge werden vom Westalgiker außer Acht gelassen.
Westalgie als Endausprägung
In den Augen von Kritiker*innen handelt es sich bei der Westalgie in ihrer Endausgeprägung deshalb um eine völlig unangebrachte retrospektive Verherrlichung eines menschenverachtenden Unrechtsstaates, ihre Verteidiger hingegen widersprechen dem. Westalgie rühme nicht die in Teilen zur Menschenfeindlichkeit neigende Frühform der deutschen Demokratie, sondern stehe für die Suche nach einem Identitätsanker in unsicheren Zeiten, in denen viele Westdeutsche sich kaum mehr zurechtfinden.
Auch die Menschen aus der ehemaligen BRD machten einen radikalen und oft enttäuschenden Lebensumbruch durch, der vielen das Gefühl gab, entwertet und zu Fremden im eigenen Land zu werden - ihr Leiden daran wird verstärkt dadurch, dass westdeutsche Bestrebungen, Erfahrungen, Erinnerungen, Normen und Werte ihres früheren Lebens weiternutzen zu dürfen, medial kaum Berücksichtigung fand. Stattdessen wird die Westalgie immer noch als Verarbeitungsstrategie denunziert, die es angeblich ewiggestrigen Altbundesdeutschen ermögliche, an der Vergangenheit festzuhalten und das verlorene Früher mit Hilfe typisch westdeutscher Lebensformen und Produkten zu zelebrieren, als habe es den rasanten Lebensumbruch durch den Anschluss Ostdeutschlands und die oftmals große Enttäuschung über die Wiedervereinigung nicht gegeben.
6 Kommentare:
Völlig OT
Dennis Riehle auf Jouwotsch über das Käs'blättlein Der Speichel - fängt recht gut an, aber dann, oj Gewalt.
Keift auf Sonderschulniveau gegen die bösen Revisionisten, hat ofenkundig keinen gelesen.
Artige Kinder lesen keine Schmuddelbücher ...
West-brd ist eine bräsig woke Betreuungsdiktatur für hochbegabte malte-kinder die bei der Geburt zu leicht, klein und krank waren. Therapiesprechende kirchentagsbesucherInnen belästigen den Steuerzahler mit spannenden Projekten, es ist eine dystopisch-arschlöchrige zeckenwirtschaft
>öllig OT
>Dennis Riehle
Der stolpert durch Metaphern und Begriffe. Tradition und Tradierung sind ja irgendwie das gleiche, ne wahr, und identitär geht als Adjektiv zu Identität, also könnte doch sein.
Riehle
>das Fehlen einer ernsthaft zum Einschreiten bereiten Opposition [in den 30er Jahren]
Aber hallo. Die Opposition ist so ernsthaft eingeschritten, dass Stalins Maulwürfe nicht mehr wussten, ob sie Männlein oder Weiblein sind.
>Dennis Riehle
Der stolpert durch Metaphern und Begriffe ...
Eigentlich war wohl das spinnerte Gruselmärchen um die sechs Melonen gemeint. Aber das kriegen wir wohl nie mehr aus dem kollektiven Bewusstsein. Ebenso nicht, wie die Narrheit um einen meschuggenen Wanderprediger, der wähnte, er könne bewaffnete Engel herab zaubern (Matze 26.53), was erwartungsgemäß schief ging, der aber dennoch als Gott mal 0,3 Periode gilt, und gleichzeitig auch ganz und gar.
Grämen wir uns nicht. Dass der Pöbel unterbelichtet ist, wussten schon vor zweieinhalbtausend Jahren Plato und Theognis von Megara.
Nichts kann man tun, außer, wie der Esel Benjamin, zynische Kommentare von sich zu geben.
The_Truth 22. September 2024 at 18:40
El Zorro 22. September 2024 at 18:25
Ich habs gewusst. Die Masos haben (wieder) gesiegt. Auf zum Krieg! Früher hieß es „auf den Boulevard“, heute „auf den Roten Platz, in den Kreml, Sieg, Sieg, Endsieg, würg, kotz, spei!“ Schande über dieses verkommene Volk!“
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Ich kann Ihnen nur noch hundertprozentig zustimmen. Der Maso-Michel ist unbelehrbar. Das deutsche Volk ist mit Abstand das dümmste der Welt. Als Patriot kämpft man gegen Windmühlen. Die Mehrheit will Umvolkung und Multikulti. Es lohnt sich nicht mehr zu kämpfen. Ich für meinen Teil gebe auf.
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Rieläx äwribaddie: Das ist ja gerade der Sinn der Übung. Dass wir uns alle als Dreck und schuldig fühlen sollen. Und wenn schon unnützer Wettbewerb um die größte kollektive Bematschtheit, so liegen "wir" zwar recht weit vorn, aber den Amis gebührt doch die Siegespalme.
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