Samstag, 7. September 2024

Ausreisewelle: Wie sich Fachkräfte aus dem Osten schleichen

Thüringen Flüchtlinge beim Treck über die Höhen des Erzgebirges.

Sie schlagen sich durch dichte Wälder, schleppen ihre Habseligkeiten Über die ausgedehnten Höhenzüge der Rhön und des Erzgebirges, sie marschieren sich die Füße blutig, bis sie endlich im sicheren Franken oder auf der tschechischen Seite der Berge im Süden Sachsen ankommen. Seit der Osten kippt, ja, im Grunde schon auf der rechten Schlagseite liegt, waächst die Angst, den Absprung zu verpassen.

Viele, die außerhalb wohnen und leben, haben es leicht, sie müssen einfach nicht mehr Dresden, Meissen und Weimar reisen. Doch die, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, stehen vor einer harten Entshceidung: Gehen, so lange es geht? Oder bleiben, still zurückgezogen ins Private oder im Widerstand?  

Auswandern im Netz

Vor allem in Thüringen, aber auch in Sachsen haben nach dem Wahlerfolg der AGREAFD ungewöhnlich viele Menschen die Suchmaschine Google nach Auswanderungsmöglichkeiten befragt. Um dem drohenden politischen System in den beiden Freistaaten zu entkommen, das womöglich einen Austritt aus den Staatsverträgen mit dem Gemeinsinnfunk, schärfere Abschiebungen und eine landeseigene Grenzschutzpolizei mit sich bringen könnte, fliehen die Menschen. 

Erstmal nur am Rechner oder Smartphone, aber die Furcht vor politischer Verfolgung als Andersdenkender, dem Verlust der Meinungsfreiheit und Hausdurchsuchungen wegen sogenannter "antifaschistischer Hetze" lässt viele schon die Koffer packen. Und manche sind sogar schon unterwegs. Wie Raimund Lasekarg-Welle, der schon Ende letzten Jahres erste Vorbereitungen getroffen hat. "Ich wusste doch, wie die Stimmung ist und wie sich das auf dem Wahlzettel ausdrücken wird", sagt der 44-Jährige, der aus Greiz stammt und später als Forstingenieur in einem kleinen Dorf bei Suhl heimisch wurde. 

Flucht nach NRW

Lasekarg-Welles Frau ist wie so oft in diesen Konstellationen Lehrerin, sie spürt gesellschaftliche Erschütterungen, lange bevor andere sie wahrnehmen können. "Sie hat mir zugeraten und so sind wir schon im Frühjahr rüber nach NRW und haben dort einen Kaufvertrag für eine Wohnung in einer kleinen Stadt abgeschlossen." 

Seine "Fluchtburg" nennt Lasekarg-Welle das bescheidene neue Heim, das er und seine Frau beziehen wollen, sobald sie den Marsch von fast 400 Kilometern hinter sich gebracht haben. Ja, Marsch! Um kein Aufsehen zu erregen, wollen die beiden Auswanderer möglichst unbemerkt "verduften", wie Angela Lasekarg-Welle es nennt. "Bloß nicht auffallen, bloß nicht die Behörden auf uns aufmerksam machen."

Angst vor Verfolgung

Seit dem Fall von Sonneberg kennt jeder in Thüringen die Konsequenzen oder er ahnt sie zumindest. "Wir haben einfach genug von dem ganzen politischen Mist und der verbalen Gewalt in den sozialen Netzen", sagt Lasekarg-Welle. Nach dem Aufstand der Faschisten und der Wahlniederlage aller demokratischen Parteien könne es nicht damit getan sein, die Niederlage zu akzeptieren und auf das nächste Mal zu hoffen. "Es ist jetzt jeder gefordert, ernste Konsequenzen zu ziehen, aber auch, sich und seine Lieben in Sicherheit zu bringen."

Das Schreckgespenst Höcke, es wirkt. Der braune Schatten des zugewanderten Westdeutschen, der sich ein halbes Leben lang als braver Volksschullehrer zu tarnen wusste, geistern in den Köpfen vieler, die in diesen letzten heißen Tagen des Klimasommers durch die Thüringer Wälder streifen, um unauffällig eine Fluchtroute zu erkunden. Es sind gerade die eher Jungen, die Übergebildeten, die, die Haus und Hof und Hund haben, die untereinander darüber wispern, das Land verlassen zu wollen. 

Aiwanger schreckt ab

Nach Bayern hinüber will allerdings kaum jemand, obwohl es der nächste Weg wäre. "Seit der Aiwanger-Affäre mit dem braunen Schulranzen", sagt Raimund Lasekarg-Welle, "ist das Thema für mich erledigt." Bayern sei "der Regen nach der Traufe", vielleicht das nächste Bundesland, das so weit nach rechts rücke, dass jeder anständige Demokrat Angst haben müsse, bedroht und verfolgt zu werden. "Wenn die Höcke-Diktatur erst begonnen hat, dann werden die Grenzen sicherlich komplett zugemacht." 

Bis dahin wollen Lasekarg-Welles fort sein. Sie zählen sich zu den leistungsfähigen Kräften in Thüringen, zur gesunden Kern der hart arbeitenden Mitte. "Wir wollten immer gern überall Urlaub machen, aber nie in ein anderes Land ziehen", sagt Susanne Leseberg-Welle. Doch die Furcht vor dem, was kommen könnte, lasse keine andere Alternative. Im Freundeskreis dächten viele so. "Als wir neulich bei einer Grillparte herumgefragt haben, wer sich vorstellen könnte, zu gehen, haben mehr als zehn Prozent die Hände gehoben". 

Abgeschreckt von Gerüchten

Unter den unter 30-Jährigen seien es sogar 24 Prozent gewesen, "alle mit guten Jobs, Handwerker, Immobilienmakler, Ärzte". Habe sich mancher bisher noch von den hohen Mieten, den Berichten über Gewalt und eine disfunktionale Infrastruktur mit langen Staus, ausfallenden Zügen und ständigen Blockaden von Klimaanhängern abschrecken lassen, wirke der Sieg der AGREAFD jetzt wie ein  Katalysator. "Und da schon einige gegangen sind, findet man in der Diaspora der Leute, die schon im Exil leben, auch schnell Anschluss und Einstiegshilfe." 

Raimund Lasekarg-Welle packt weiter an seinem Koffer, noch ein paar T-Shirts, noch eine Wechselhose, das Fotoalbum und die Zeugnisse. Leichtes Gepäck ist gefragt, angesichts des schweren Geländes, das zu überwinden sein wird. Den zunehmenden Konservatismus im eigenen Land werde er nicht vermissen, ist sich der Forstwirt sicher.  "Auch die weit verbreitete Wut und Unzufriedenheit fehlt uns bestimmt nicht", bekräftigt seine Frau Susanne den gemeinsamen Beschluss. Sie ist optimistisch.  "Wir ziehen in eine demokratische Region, wo wir uns schnell zu Hause fühlen werden."


6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Mein Lieblingszitat aus den Fefe-Leserbriefen zu Thüringen:
Man sei zu den stinkreichen Nazibauern auf's Land gezogen, um die Leute mit der faschistischen Ideologie nicht allein zu lassen.
Nur deswegen. Andere Gründe, aus den Plattenbaughettos der überteuerten Städte heraus auf's Land zu ziehen, gab es gar nicht...
Wie witzig.

Anonym hat gesagt…

>Fefe-Leserbriefen
Die waren teils bunt erzählt und sicher alle authentisch. Der Fefe kennt sich ja aus mit Authentifizierungen.

Anonym hat gesagt…

"Medienkompetenztraining"
Vor diesem Hintergrund kann ich mir durchaus vorstellen, dass es Trottel gibt, die mangels betriebswirtschaftlicher Grundkenntnisse oder wenigstens einer "PolÖk"-Schulung die Umwelt tatsächlich so erleben, ohne die Zusammenhänge zu verstehen. Die ihnen nicht offenkundigen Lücken füllen sie mit Gruselgeschichten, die kein Mensch je erlebt haben kann, weil sie sonst breit in der Zeitung gestanden hätten.
Sie hören Sebastian K. verschwörungsmystisch raunen "wo sind eigentlich all die Nazi-Skins aus den 90'ern hin" und haben nie welche gekannt, weswegen sie nicht wissen, dass die sich längst alle totgesoffen haben oder im Westen Arbeit gefunden.

Die Frage, wo sie herkamen, wäre so interessant, wie hilfreich.
Doch einen "rechten" (knihihi) Linken würde es nur verunsichern, dass Nazislang ("Russe" als Schmähung wurde nur durch "Du Jude!" getoppt) bis hin zu Skins schlicht Fundamentaloposition gegen den kommunistischen Staat war.

So hatte ich zwar, dank meiner Physognomie, in den 90'ern gelegentlich mal ein "Türken raus" gehört. In die, meiner Begleitung nach ernste, Gefahr, einen Bierkrug über den Schädel zu bekommen, war ich allerdings schon Ende der 80'er - in Thüringen, bzw. im Bezirk Gera - geraten: weil ich mit meinen Kameraden, im zwangsweise NVA-uniformierten Ausgang, in die falsche Kneipe geraten war.
Und DDR-Skins HASSTEN NVA- Uniformen und deren Träger.
(Da mich Gruppendenken einen feuchten Kehrricht interessiert und der, der mich anpöbelte, sich urplötzlich einem ernsthaften Gespräch ausgesetzt sah, gab es dann Seidel an Seidel, die Feststellung, dass er darauf verzichtet mich platt zu machen, obschon wir keine Freunde werden würden und dass wir uns zeitnah verpissen sollten.

Kurz: launige Leserbriefe an Fefe hätte ich auch schreiben können. Stinkt mir nur zu sehr nach Honey in dem Pott.

ppq hat gesagt…

kurzweilig erzählt und zutreffend. der fanggesang, in dem von der stasi verfolgte ddr-kinder ausdrückten, dass erich mielke ihr führer sei, verdankte sich demselben reflex. in england bekannt als punk-hakenkreuz-syndrom

Anonym hat gesagt…

https://taz.de/Skinheads-im-Doenerladen/!5983034/

Anonym hat gesagt…


Mit S.H.A.R.P.-Aufnähern an den Jacken
Steh'n sie am Imbiß vom Kanacken
Die versiffte Domestos-Hose
Vollgekotzt mit Knoblauch-Soße

Das sind die Döner-Skins! Döner-Skins!
Jaja, die Döner-Skins! Döner-Skins!

Gegen Rassismus wollen sie sein
Lassen sich mit Zecken ein
Und die letzten Gewissensbisse
Spülen sie runter, mit Hansa-Pisse

source: https://lyricsondemand.com/landser/dnerskins
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