Dienstag, 6. August 2024

Schwarzer Montag: Sehnsucht nach dem Untergang

Wohl dem, der sein Geld nicht so riskant angelegt hat.

Woher sollen es die Kinder denn wissen. Seit Jahren schon hoffen sie darauf, dass sich die Aktienkurse wieder an den Daten der Realwirtschaft orientieren, wie es früher einmal Sitte war. Schlechte Nachrichten, schlechte Kurse. Gute Zahlen, gute Kurse, aber nicht immer bessere. Das war immer so, in der ersten Russenkrise in den 90ern, in der Asienkrise und in der Finanzkrise, die der damalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück zu einem amerikanischen Problem zu erklären versucht hatte. Bis ihm die deutschen Landesbanken reihenweise Richtung Pleite taumelten.

Damals gehörten Schockwellen noch zum Tagesgeschäft jedes Anlegers. Dass der Dax um fünf, sechs oder sieben Prozent einbrach, war selten, aber nicht ungewöhnlich. Wer gewinnen wollte, musste verlieren lernen. Das Geld war nie weg, es hatte nur ein anderer, bis es zu denen zurückkehrte, die festen Glaubens waren, dass immer mehr Geld immer mehr Orte benötigen würde, um Unterschlupf zu finden. Der schwarzen Tage waren Dutzende, der goldenen viel mehr.

Ende keiner Beziehung

Doch die Deutschen und die Börse, das ist die Geschichte einer Beziehung, die es nie gegeben hat. Nachdem es einer sozialdemokratischen Bundesregierung gelungen war, den Eigentümern des Staates einen Teil ihres Eigentums mit Hilfe eines TV-Prominenten zu Mondpreisen anzudrehen, um sich selbst ein paar zusätzliche Milliarden Euro Handgeld zu verschaffen, kühlte die kurze Liebe zum schnellen Geld eiliger ab als ein gewöhnlicher deutscher Klimasommertag am Abend. Aktien? Niemand wollte sie mehr und wer sie noch hatte, galt als ein ganz armer Tropf, der auf Versprechen vertraute, die nicht einmal direkt von der Regierung kamen.

Die Welt wurde reicher. Der Dax wurde immer ausländischer. Die Deutschen wurden immer biestiger, was Kapitalanlagen betraf. Wenn der Euro stabil und die Rente sicher sein würde, warum sich dann noch selbst kümmern? Das Volk der Sparbuchbesitzer und Festgeldsparer ließ sich ein paar Jahre nach dem Telekom-Debakel nicht einmal mehr durch steuerfinanzierte staatliche Prämien locken, in ein verdächtiges Produkt wie die Riester-Rente zu investieren. Die hatten schließlich dieselben Leute erfunden, die ihnen zuvor für einen einzigen Anteilsschein der halben Ex-Bundespost 66,50 Euro abgeschwatzt hatten.

Hass auf den Markt

Der US-Hightech-Index Nasdaq stand damals zwischen 500 und 5.000 Punkten. Seitdem hat er sich je nach Stichtag auf 20.000 vervierfacht oder vervierzigfacht. Wer seine T-Aktie behalten hat, hat inzwischen zumindest sein Geld. Wer die Lehre ohne finanzielle Strafe annahm, sitzt auf einem Euro-Kaufkraftverlust von 50 Prozent. Wer statt 100 T-Aktien 5.000 Euro in den Nasdaq investierte, sitzt auf einem Geldhaufen von zwischen 20.000 oder auch 200.000 Euro. 

Wer will das schon. Die deutschen Medien wissen, dass Börse kein Thema ist, für das sich Menschen interessieren. Die Älteren meiden den Bereich, um nicht an ihre Abenteuer mit Mobilcom un EM.TV erinnert zu werden. Die anderen sind jung und unbeleckt. Ihre Hoffnungen ruhen der jeweiligen Bundesregierung, die es doch immer wieder schafft, die Beiträge nicht steigen zu lassen, aber die Renten trotzdem erhöhen zu können. Und das, obwohl immer weniger einzahlen, die für immer mehr aufkommen müssen.

An solchem Wunder teilzuhaben, erscheint in den Redaktionen seriöser als der Versuch, Dividende, Zinseszinseffekt und Quellensteuer zu erklären. Erst wenn es einmal abwärts geht, tauchen Fachmagazine in Divisionsstärke auf: Junge Leute, die EM-TV für einen Bezahlsender und "Dausend" für einen Tippfehler halten, erklären einen Kursrückgang von zwei, drei oder vier Prozent zum "Crash" und "Absturz". Ein leichtes Grollen unter den Börsensälen wird zum "Schwarzen Montag". Und der Verlust der Jahresgewinne beim Bitcoin zum Beweis dafür, dass es so hat kommen müssen und nun alles zu Ende ist.

Beruhigende Warnungen

Wohl dem, so lautet die Bostchaft, der sein Geld nicht so riskant angelegt hat! Das "böse Erwachen" (SZ), es ist endlich da. "Platzt jetzt die Blase", fragt die "Zeit" und man kann das "endlich" förmlich hören. Schadenfreude, schönste Freude, denn wer keine Aktien hat, der kauft auch keine mehr. "Alleine bei den großen Tech-Konzernen der US-Börse wurden heute 1 Billionen (!) US-Dollar verbrannt", stellt der linke Leipziger Bundestagsabgeordnete Sören Pellmann unter Anwendung des gesamten wissenschaftlichen Werkzeugkastens des Kapitalismus fest. Der "Run zu immer höheren Profiten dank großer Margen entzaubert sich mal wieder selbst", analysiert der Sohn eines sächsischen Kommunisten, der sein Rüstzeug für den Klassenkampf an der POS "Adolf Hennecke" erwarb.

"1 Billionen (!)", das ist noch weit mehr als eine Billion, niemand weiß noch genau, wie viel überhaupt übrig ist. Nach dem Abschied des Kommunismus, dessen Börsenwert am Ende seiner Laufzeit bei  Null gelegen hatte, ehe er sich wieder leicht berappeln konnte, sah der Kapitalismus lange aus wie der sichere Sieger. Selbst China nutzt marktwirtschaftliche Methoden, Vietnam tut es und dort, wo die sozialistische Planwirtschaft auf traditionellen Weise so weitergelebt wird, dass den Werktätigen von Hand und Hirn jede Möglichkeit einer privaten Beteiligung an den Produktionsmitteln verwehrt bleibt, warten die Entscheidungsträger nun schon seit Jahrzehnten darauf, dass sich Überlegenheit der Ideen von Marx, Engels und Lenin endlich zeigt.

Harris-Fantasie der Börse

"Der Kapitalismus ist und bleibt das zentrale Problem unserer Zeit", hat Sören Pellmann herausgefunden, der Sprecher der "Landesgruppe Ost" der Linksfraktion im Bundestag war, als es die noch gab. Die "Tagesschau" geht nicht ganz so weit. Eine "Talfahrt" (Grafik oben, Zacken ganz rechts) wird eingeräumt, doch wer mittelfristig denke, sei gut beraten, langfristig dabeizubleiben. Im Augenblick befürchteten Investoren zwar eine Rezession in den USA, aber, das hatte die Hauptnachrichtensendung schon Tage zuvor klargestellt: Der Kandidatenwechsel im US-Präsidentschaftswahlkampf habe "neue Fantasie an der Nasdaq" entzündet: "Die Aussicht bei einem Harris-Sieg auf weniger Zölle im Handel mit China kam gut an."



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