Samstag, 3. August 2024

Immer wieder überraschend: Unverhofft kommt oft

"Überraschend" und "unerwartet": Je besser die Wirtschaft von der Wissenschaft in den Blick genommen wird, desto öfter überfährt die Wirklichkeit enttäuschte Erwartungen. 

Es war ein Schock für die gesamte Gemeinde der Aufschwunggläubigen, und er steckt tief. Auf einmal sollte alles schlecht gewesen sein? Nicht nur wegen "schwachen Ausrüstungsinvestitionen", wie das Wirtschaftsforschungsinstitut des berühmten Experten Marcel Fratzscher in einer ersten Reaktion tröstete. Sondern weil "auch die Investitionen in Bauten abnahmen" und sich "die Verbraucher*innen", die "durch die beständig sinkenden Inflationsraten und die beschlossenen Tariflohnsteigerungen mittlerweile auch real wieder mehr Geld zur Verfügung" haben, weigern, den neuen Inflationsreichtum auszugeben.  

wachstum wirtschaft deutschland Grafik
Kein Aufschwung in Sicht: Stagnation als höchstes der Gefühle.
Obwohl DIW-Forschernde herausbekommen haben, dass alle "optimistischer in die Zukunft blicken", kommt der Wumms der geplanten "konjunkturellen Erholung" (DIW) "trotz des positiven Jahresauftakts" mit einem Wachstum von 0,1 Prozent "bisher offenbar nicht wirklich in Schwung".  Damit verzögere sich das Wirtschaftswunder "überraschend" oder auch "unerwartet", wie es in den zahllosen Meldungen über den erneuten Rückschlag für die grüne Wirtschaftswende, die klimaneutralen Wohlstand und gute Arbeitsplätze schaffen sollte, indem sie Schluss mit einer Wirtschaftsweise macht, die "unseren Wohlstand untergräbt, weil sie die natürlichen Grundlagen des Wirtschaftens zerstört" (Umweltbundesamt).

Sich weigernde Konsumenten

Dazu braucht es Wachstum, dazu braucht es Konsum vor allem von den privaten Verbrauchern, die mangels Auslandsnachfrage, fehlender Konkurrenzfähigkeit der Industrie bei Hightech-Waren und dem Zeitlupenabsturz der ehemals wohlstandstragenden deutschen Autoindustrie gefordert sind, die notwendige "stärkere konjunkturelle Dynamik" (DIW) ganz allein "in Gang zu bringen". 

Nach Überzeugung von Wirtschaftsforschern könnte die eingeleitete Zinswende der Europäischen Zentralbank sich dabei positiv bemerkbar machen, wenn sie nicht von der zuletzt wieder gewachsenen Geldentwertung überraschend vorzeitig beendet wird. Auch demokratische Wahlergebnisse in den drei Ostländern, die im September neue Landesparlamente bestimmen, würden helfen: Sie zögen Fachkräfte an, verbreiterten die Basis eines kommenden Aufschwungs und hülfen damit, Zweifler am Kurs der Bundesregierung zum Schweigen zu bringen, sagt Rainald Schawidow, der als Chef der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin an einer entscheidenden Schaltstelle sitzt.

Kampf um Deutungshoheit

Tief aus dem leicht verbunkerten BWHF-Sitz unter dem Kanzleramt wird der Kampf um die Deutungshoheit über Zahlen, Daten und Statistiken geführt. Schlecht, sagt Schawidow, der seine berufliche Karriere als Worthülsendreher beim früheren DDR-Kombinat VEB Geschwätz begann, ist dank der vielfältigen Möglichkeiten der deutschen Sprache nicht schlecht. "Weil natürlich schlechter noch schlechter ist." Zu beachten sei dabei jedoch, dass "schlechter" zugleich weniger schlecht bedeute: "Empfehlen wir als BWHF, davon zu sprechen, dass die Konjunktur schlechter laufe, sagen wir damit klipp und klar, dass sie nicht schlecht läuft."

Ein sprachliches Faszinosum, das den Sohn eines Bergmanns aus Ludwigslust schon als jungen Teilnehmer an FDJ-Poetenseminaren begeisterte und schließlich bewegte, beim volkseigenen Nachfolgebetrieb des hitlerischen BWHF-Vorgängers Reichsworthülsenamt eine Lehre als Wortschmied und Facharbeiter für Leerhülsen zu beginnen. Schawidow hat es nie bereut. "Wenn ich sehe, wie es uns heute gelingt, in einer schicksalhaften Zeit kurz vor drei so bedeutsamen Landtagswahlen dafür zu sorgen, dass die Menschen draußen sich keine großen Sorgen um die Zukunft machen, bin ich ganz mit mir im Reinen", gesteht er.

Keine geschweißten Vokabeln

Rainald Schawidow, einer der Väter und Mütter von heute schon fast vergessenen politischen Kampfbegriffen wie "Rettungspaket", "Konjunkturspritze", "Abwrackprämie", "Schuldenbremse" und "Benzingipfel" und "Wachstumsturbo", ist besonders stolz darauf, wie es ihm, seinen Hülsendrehern und Propagandapoeten und den angeschlossenen Medienhäusern diesmal gelungen ist, ohne einer der zusammengelöteten oder geschweißten klassischen BWHF-Vokabeln auszukommen. 

"Uns war in der Situation des Augenblick, als das Statistische Bundesamt vorwarnte, wie schlecht die Zahlen ausfallen werden, sofort klar, dass es nun nur noch darum gehen kann, die Wirkung abzuschwächen." 

Schawidow gab umgehend eine sogenannte Wenck-Weisung heraus. "Das bedeutet, dass meine Leute wissen, dass wir nicht nach hochtrabenden Wortschöpfungen suchen, die den Eindruck vermitteln, dass der kleine Mann auf der Straße komplizierte Sachverhalte in seiner eigenen Sprache erklärt bekommt." Gefragt seien vielmehr Formulierungen und Signalbegriffe gewesen, die eine Beschönigung der Lage erlauben, ohne bestimmte unschöne Tatsachen nicht zu nennen. "Als Euphemismusexperten wissen wir natürlich, dass es dann immer erste Wahl ist, auf den Faktor Zeit zu setzen."

Zeitspiel über Bande

Rainald Schawidow nennt als Beispiel Parteiführer, die am Wahlabend eine Niederlage eingestehen müssten, stattdessen aber den wackeren Wahlkämpfern, ihren Familien und Genossen danken und darauf verweisen, dass alles andere erst in den Gremien besprochen werden müsse. 

"Das erfolgt nie, aber damit ist das Thema vom Tisch." Ähnliche Anweisungen ergingen jetzt an die Verbalschweißer der BWHF: Statt nach neuen Worthülsen als Nachfolger von "Rettungsschirm", "Basisschutz" und "Zeitenwende"zu suchen, habe man von Anfang an auf Adjektive gesetzt. "Jeder, der sich im Geschäft auskennt, weiß, dass das Unleugbare leichter zu schlucken ist, wenn es ersten als überraschend und unerwartet bezeichnet und dann als erklärbar und nur vorübergehend erklärt wird."

Doppelschlag aus der BWHF

"Überraschend" und "unerwartet" gingen dann auch als Pflichtbegriffe für alle Medien raus, die über die erschütternden neuen Wirtschaftsdaten aus dem Statistischen Bundesamt berichten wollten.  "Mit einer Eilanforderung haben wir kurz darauf auch dringend darum gebeten, einen der beiden Begriffe bei allen Berichten zur Inflationsrate zu verwenden", ordnet Schawidow den plötzlichen Anstieg des Auftauchens der beiden Vokabeln in den Medien in ein größeres Gesamtbild ein.

Impliziert werde durch die Verwendung, dass viele und womöglich sogar alle Dinge richtig liefen, weil sämtlich Entscheidungen und Weichenstellungen optimal vorgenommen worden seien. "Aber wie es so ist, jeder kennt das, der Teufel ist ein Eichhörnchen und plötzlich läuft es doch nicht so, wie es soll."

Niemandes Schuld

Wie das Wirtschaftsinstitut DIW in Berlin umgehend formuliert habe, sei das aber dann niemandes Schuld. "Es fehlt hier und es fehlt da, aber nicht dauerhaft, nur gerade eben." Diese Erklärung reiche den meisten Menschen vollständig aus, sie erlaube es, Hoffnung zu haben und weiter durchzuhalten. "So lange solche Tatsachen erzählt werden wie Nachrichten von der Wetterfront, ist unseren Daten zufolge jeder bereit, die Umstände hinzunehmen, wie sie nun mal sind." 

Aus dem Privatleben wisse jeder, dass überraschend und unerwartet ebenso wie plötzlich in den zurückliegenden Jahren je häufiger aufgetreten seien, je genauer die Wissenschaft über Pandemien, Klimawandel und Migrationsbewegungen informiert habe. "Daraus ergibt sich eine anästhesierende Wirkung der Vokabeln, die nach unseren Berechnungen wenigstens bis zu den Landtagswahlen in den bedrohten drei Ost-Bundesländern anhalten wird."




 


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