Samstag, 31. August 2024

Zitate zur Zeit: Nachhilfe in Geschichte

Gemeinsam mit den Bauern demonstrierten zu Beginn des Jahres auch viele Firmen, gesellschaftliche Organisationen wie PPQ für gegen zu viel Vielfalt im politischen Raum.

Die größten Demonstrationen in unserem gemeinsamen Land waren eben nicht 1989, die größten Demonstrationen, die es jemals in unserem Land gegeben hat, waren im Januar, Februar und März vielleicht auch noch mitgezählt.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock lässt die Hetzjäger in Sachsen bei einem Wahlkampfauftritt wissen, wo ihr Platz in der Geschichte ist.

Naher Osten: Was, wenn es ganz einfach wäre?

Eure Verleumdung ist unsere wahrheit
Die Widerspenstigen sitzen im Osten. Ihre Zähmung ist gesellschaftliche Notwendigkeit.

Schließlich musste Jessy Wellmer wieder ran. Es gibt nicht viele ostdeutsche Gesichter im Gemeinsinnfunk, schon gar keine, die jemand vor der Kamera sehen möchte. Doch sich dem Vorwurf aussetzen, dass schon wieder ein Wessi versucht, das undurchschaubare Wesen der Ostdeutschen zu ergründen, war ebenso ausgeschlossen. Also Wellmer, wie immer, eine Reporterin mit Ostgeruch, weil die ersten zehn Jahre ihres Lebens Bürgerin der verblichenen DDR.

Einsatz in Manhattan

Die Seele der Menschen dort ist unergründlich. Sie wollen dazugehören, aber nicht ganz. Sie wollen ihr Ding machen, aber nur so, wie sie wollen. Sie fühlen sich zurückgesetzt und untergebuttert, wählen aber einfach so, was sie meinen, wählen zu wollen. Allen halsbrecherischen Erkundungsversuchen westdeutscher Expertenkommissionen zum Trotz hält dieser Trend seit vielen Jahren. Erst waren es rote Socken, dann rechte Extremisten, zwischenzeitlich entdeckten die Abgehängten im Osten sogar ihre Sympathien für Grüne und SPD, die höhere Löhne und mehr Gerechtigkeit versprachen. 

Was hat das mit der DDR zu tun? Welche Rolle spielt Jessy Wellmer, eine aus dem Osten, die es trotzdem im Westen geschafft hat? Nur dort nachzuschauen, wo die Lage in den Stunden vor der Landtagswahl in Sachsen und Thüringen so angespannt ist, dass die Bundesregierung in Berlin nicht mehr nur über den einen oder anderen ideologischen Schatten springt, sondern ein Wetthüpfen mit den Grundrechten veranstaltet, reichte der aus Mecklenburg stammenden ARD-Abgesandten für ihre Dokumentation "Machen die Ostdeutschen unsere Demokratie kaputt?" nicht. Sie ließ es sich letztlich in Köln erklären, wo mit Henriette Reker eine bewährte Zeugin bereitsteht, allen, die es nicht ahnen, den Zusammenhang von Unterentwicklung und Renitenz zu erläutern. Puh, der Osten!

Puh, der Osten 

In der ARD ist ein zumindest in Sachsen heimischer Schriftsteller aus der SPD, der den bedrohlichen Rechtsruck analysiert. Im ZDF stammen die Stimmen von verblüfften Funktionären, die sich das alles nie hätten vorstellen können. Historiker finden Sachgründe beim guten alten Topfen, mit dem es nach Dafürhalten eines niedersächsischen Kriminologen immer anfängt, ehe es in Messerstechereien, konservativen Mehrheiten und toten Babys im Blumenkasten endet.

Kolonialwarenhändler machen Front gegen ihre Kunden. Fernsehsender versuchen alles, um zu ergründen, wie es so weit kommen konnte, obwohl sie doch 34 Jahre lang und mit beständig wachsender Intensität für das Gegenteil getrommelt und gepfiffen haben. Renommierte Blätter nehmen Zuflucht zu Verschwörunsgtheorien und sind sicher, dass es die mangelnde Bildung im Osten ist, die die Menschen glauben lässt, die Regierung verschweige der Bevölkerung die Wahrheit. Brauner Bodensatz. Pack. Dummheit. In der Diktatur "verzwergte" (Arnulf Baring) Charaktere, die "nicht weiter verwendbar" sind.

Unvorstellbar erscheint Politik, Medien, Kultur und Wissenschaft die Vorstellung, die Erklärung könnte eine ganz einfache sein. Was, wenn nicht an Honecker liegt, nicht am System der Polikliniken und der gemeinsamen Zehn-Klassen-Schule, nicht an der Radonbelastung des Trinkwassers, der Fremdbestimmung durch eine zugewanderte Verwaltungs- und Wirtschaftselite, der Pionierorganisation mit ihrem Halstuchzwang, den fehlenden Erbschaften, niedrigen Löhnen, niedrigeren Impfraten oder kleineren Parteigrundorganisationen?  Sondern an, der Gedanke mutet im ersten Moment unerhört an, schlechter Politik, betrieben von Parteien, die aus ostdeutscher Sicht vom ersten Tag an abwechselnd regiert, aber allesamt enttäuscht haben?

Wenn es so einfach wäre

Was, wenn es so einfach wäre? Seit der erste Ex-DDR-Bürger bei einer bundesdeutschen Wahl sein Kreuzchen machte, hat er sie alle durchprobiert, in beinahe allen Kombinationen. Die CDU und die FDP, die SPD und die Grünen, die CDU und die SPD, die SPD, die Grünen und die FDP. Es ist, darüber lässt sich angesichts einer vollkommen und in alle Richtungen verfahrenen Lage kaum mehr streiten, nicht besser geworden. Die treuesten der Treuen unter den Propagandisten fallen vom Glauben ab, Zweifel werden geschürt und wackere Sozialdemokraten werfen das Handtuch, das sie selbst gestrickt haben.

Der Realitätsverlust ist der letzte Schutz vor der Erkenntnis, dass Ostdeutsche, die die bleiernen 80er Jahre in der DDR erlebt haben, im Deutschland der 2020er vieles wiedererkennen können. Die Bräsigkeit einer selbstverliebten Führung, deren Überzeugung, den einzig richtigen Weg zu kennen, nur noch übertroffen wird von ihrer Unkenntnis der Verhältnisse im Land. 

Die alles erstickende Bürokratie, die Liebe zu Regelungen, die Probleme automatisch und unter Vermeidung irgendwelcher Diskussionen beseitigen. Die Medienlandschaft, die alles im Chor singt. Die Pausenclowns im Staatsdienst, deren menschenverachtende Gruppenfeindlichkeit die Gesellschaft spalten soll, um zu übertünchen, dass da nirgendwo mehr eine Idee ist und schon gar "kein Konzept, keine Vision, keinen Plan für die Zukunft".

Hoffnungsschrei als Hilfeschrei

So sieht es Sahra Wagenknecht, eine Kommunistin, deren steile Karriere zur Hoffnungsträgerin der  Sachsen und der Thüringer wie ein Hilfeschrei Verzweifelter wirkt. Dort, wo Menschen von gestern stur darauf beharren, dass sie selbst es sein wollen, die bestimmen, wie schnell und welche Zukunft bei ihnen Einzug hält, fallen alle Ermahnungen auf einen von langer Dürre vernässten Boden, der so vernässt ist, dass es den vielen Regen aus schönen Versprechungen nicht mehr aufnehmen will. Viele Sachsen, die es einmal nach Wiesbaden verschlagen hat, oder nach Duisburg oder nach Hamburg, möchten nur noch ausgrenzen, unter sich bleiben und alles vermeiden, das die Gefahr erhöht, es könne bei ihnen bald auch so aussehen.

Das Argument, es sei doch aber gut, wenn es so werde, erreicht sie nicht, so viele hübsche Verpackungen es auch bekommen hat. Fachkräftemangel, demografische Katastrophe, Klimahitze, Waldbrände, Wassermangel, Männerüberhang, es ist ihnen inzwischen egal, womit gerade davor gewarnt wird, nicht die bewährten Parteien des demokratischen Blocks zu wählen. Ganz im Gegenteil: Gäbe es auf dem Wahlzettel eine Möglichkeit, "keine der genannten" anzukreuzen, würde sich vermutlich eine satte Mehrheit in Sachsen und Thüringen für genau diese Option entscheiden.

Da sie vom Gesetzgeber nicht vorgesehen ist, sind es AfD und BSW, die all diese Stimmen abgreifen.

Freitag, 30. August 2024

Messermänner: Warum nicht mal ein Zehn-Punkte-Plan

Messer, Minen, Handgranaten Polenmarkt

"Messerchen, Messerchen, Messerchen mein, siebenmal geschliffen auf hartem Stein - Lass Bojarenköpfe rollen!"

 "Mädchen, Schätze und Heiducken" ("La Révolte des Haîdouks"; Frankreich/Rumänien 1971–1973)

Er ist das legendäre letzte Mittel, die Ultima Ratio der Verzweifelten, die Medizin, die immer wirkt. An Zehn-Punkte-Plänen litt Deutschland niemals Mangel, sie tauchten auf, sie tauchten ab. Jede Herausforderung und jede Krise sowieso gebaren ihre eigenen Varianten und Variationen. Wer zurückschaut auf die große Geschichte der Zehn-Punkte-Planwirtschaft, findet alle Parteien vertreten, alle Themen und - seit die EU-Vorschrift aufgehoben wurde, nach der Zehn-Punkte-Pläne bürokratisch genau die namensgebenden zehn Punkte haben müssen - auch jedwede Anzahl an Punkten.  

Unvergessener SPD-Ostplan

Eine andere Vorschrift aber blieb unberührt. Kommt es zum Äußersten, kommt ein Zehn-Punkte-Plan gerade recht. Unvergessen selbst im Osten mit seinem kurzen Gedächtnis ist der Zehn-Punkte-Einheitsplan von Helmut Kohl, dankbar sind viele gerade dort in den wilden, unzivilisierten Gebieten der SPD, dass sie 2019 mit dem Punkte-Plan für Ostdeutschland unter dem Titel "Jetzt ist unsere Zeit: Aufarbeitung, Anerkennung und Aufbruch" nicht an Punkten sparte, sondern gleich zwölf auflistete. 

Was für ein Unterschied zum Vorgehen des knausrigen Finanzministers, der dem "geringen Wachstum" im Frühjahr mit einem schäbigen Sieben-Punkte-Plan zur Generalreparatur Deutschland entgegenzutreten versucht hatte.

Nein, zehn müssen es sein, das zeigt auch das bittere Schicksal, das der sozialdemokratische Fünf-Punkte-Plan zur Zustromkrise erlitt. 2018 beschlossen, bündelte er knallharte Handlungsmaximen vom Klassiker "Fluchtursachen bekämpfen" über "mehr Grenzkontrollen" bis zum "starken Schutz der EU-Außengrenzen". So weit war die EU mit ihrem "Zehn-Punkte-Plan" zur Begrenzung des "Zustroms" (Angela Merkel) von 2017 nicht gegangen. Aber selbst der 2023 vorgelegte neue Zehn-Punkte-Plan, in monatelangem nächtlichen Ringen der wichtigsten Köpfe des Kontinents erdacht und aus den Resten des Planes von 2017 zusammengenäht, konnte in Teilen nur die SPD-Ideen zitieren.

Die Planwirtschaftler

Auch schon wieder ein Jahr her. Das weiß doch keiner mehr. Warum also nicht mal wieder einen Zehn-Punkte-Plan, dachte sich Herbert Reul, der als nordrhein-westfälischer Innenminister erklärtermaßen nichts machen kann, weil das alles andere zu verantworten haben. Aber diese "Quatscherei", hat der 66-Jährige kürzlich im Fernsehen erklärt, die sei auch nicht mehr auszuhalten. Dann lieber einen Zehn-Punkte-Plan, der im Fall des traditionsverhaftete Ex-Europa-Politikers auch genau zehn Punkte enthält. 

Und was für welche! Im Unterschied zum "Migrations- und Asylpaket", mit dem die Bundesregierung auf den letzten Wahlkampfmetern noch nach rechts blinkte, um im Osten Gnade zu erflehen, setzt Reul  nicht nur bei den Wurzeln an, er reißt sie raus. 

Nein, es gibt keine Netflix-Abos im Tausch gegen Klingen. Nein, keine schärferen Regeln für stumpfere Messer. Kein Aushungern anerkannter Asylbewerber. Die Tage der netten Ansprache sind vorbei. Herbert Reul, 71 Jahre alt und politisch schon aktiv, als Helmut Schmidt Bundeskanzler und Leonid Breschnew Wladimir Putin war, hat in den 60er Jahren erlebt, dass die Feinde des Friedens nur durch die eigene Wehrhaftigkeit in die Knie gezwungen werden können.

Statt "Quatscherei" (Reul) also ein Konzeptpapier mit dem Titel "Bekämpfung der Messergewalt im öffentlichen Raum", das mit zehn Punkten einen neuen Sicherheitsraum beschreibt, in dem Menschen bald wieder das Gefühl haben sollen, nicht auf eigene Gefahr vor die Tür zu treten.

Malwettbewerb "Mein schönstes Messer"

Reul und seine Experten wollen mit "Aktionstagen zur Bekämpfung der Messergewalt" dorthin aufbrechen. Anlasslose Kontrollen zu bestimmten Festtagen würden "jeder und jedem deutlich vor Augen" führen, "dass Waffen, Messer und sonstige gefährliche Gegenstände im öffentlichen Raum, insbesondere an den bekannten Ausgeh- und Feiermeilen, nichts zu suchen haben", hofft der CDU-Mann. Ergänzt wird die am bewährten Konzept der frühkindlichen Verkehrserziehung in Kindertagesstätten und der Seniorenaufklärung durch Schockanrufexperten in Altenheimen ausgerichtete Anti-Messer-Strategie durch Präventionsangebote an Unterbringungseinrichtungen,  Waffentrageverbote in neu eingerichteten Waffenverbotszonen und Mal- und Zeichenwettbewerbe, bei denen gewalttätige junge Männer an eine musisch orientierte Zukunftsplanung herangeführt werden.

Das hat deutlich mehr Realitätsnähe als ein von den grünen Innenpolitikern Konstantin von Notz und Irene Mihalic vorgestelltes Positionspapier zur Abschaffung einer "klassischen, heute in weiten Teilen veralteten Sicherheitspolitik". Statt der üblichen zehn Punkte verbreiten von Notz und Mihalic ihre Vorschläge zur Remigration, der Aufweichung der Grenzen zwischen Polizei und Geheimdienst, zu mehr Überwachung, Schleierfahndung bei Facebook und mehr Sondervermögen auf zehn Seiten. Ein demonstrativer Bruch mit allen propagandistischen Bräuchen, den die grüne Fraktionsvorsitzende Katarina Dröge demonstrativ unterstützt: Was gebraucht werde, seien kluge, funktionierende und verantwortungsvolle Maßnahmen".

Die Liste, die Leben retten wird

Herbert Reul hat sie längst beisammen, die Liste, die so viele Leben retten wird. Nicht einfach nur Fahndung soll es künftig geben, so lange, bis der Täter an einem Streifenwagen klopft, sondern "Strategische Fahndung". Dazu der "verstärkte Einsatz mobiler Videobeobachtung" und "Intensivtäterkonzepte" (®© BWHF), polizeiliche Meldungen an die Straßenverkehrsbehörde, um auch ohne Gerichtsbeschluss Führerscheine zu entziehen, und wenn das nicht reicht, auch noch "niederschwellige Vernehmungen". 

Das sind quasi auf dem kleinen Dienstweg angewiesene Neuinterpretationen der "Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV)", bei denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zugunsten einer durch das Ermittlungsverfahren erhofften Erziehungswirkung aufgegeben wird. Mutmaßliche Verdächtige seien mit "allen rechtlich zulässigen Maßnahmen", gemeint ist auch die erkennungsdienstliche Erfassung, zu drangsalieren. "Das direkte Gespräch mit der Kriminalpolizei hat eine andere, nachhaltigere Wirkung auf die Beschuldigten als das bloße Ausfüllen eines auf dem Postweg zugestellten Vernehmungsbogens", heißt es unter Punkt 9.

Natürlich nicht ohne Netzwerkarbeit

Der zehnte Punkt schlägt dann die "Netzwerkarbeit mit kommunalen Partnern" vor, eine der schärfsten Waffen des Rechtsstaates, die noch nie mangelnde Wirkung verfehlt hat. Die nach dem Geschmack von Herbert Reul seit dem Anschlag in Solingen viel zu undifferenziert geführten Debatten um Messerverbote und andere Gegenmaßnahmen haben damit doch zu etwas sehr, sehr Gutem geführt. Sowohl die extremistischen Taten, die "quantitativ und qualitativ ein ganz anderes Problem sind als alltägliche Aggressionsdelikte mit Messern etwa in Ausgehvierteln und Partyhotspots" (Reul), als auch die ganz  normalen Party-Szene-People mit ihren Macheten und Küchenschwertern werden es sich eine Leere sein und ihre Messer daheim lassen.

Die Zurückgebliebenen: Auf verlorenem Osten

Sachsen nennt sich slebst auch "Küchenland"
Wer die Hitze nicht vertrage, solle nicht in die Küche gehen, hat ein Sachse der Reportin Svenja Prantl geraten. Sachsen nennt sich selbst auch "Küchenland".

Die meisten trauen sich nur für ein paar Stunden hierher, umgeben von kräftigen Kameramännern und Tonfrauen, die ihre Selbstverteidigungskräfte im Jiu-Jitsu-Studio und bei Krav-Maga-Kursen gestählt haben. Die Luft für Fremde ist dünn hier in den kaum mehr von Demokraten besiedelten weiten Flächen der Steppen im Osten. 

In den wenigen Städten in mitten tiefer, dunkler Wälder leben unbekannte Völkerschaften, nur rudimentär erforscht, die bis heute fragwürdigen Gebräuchen anhängen und von Sitten nicht lassen wollen, die die zivilisierte Welt ablehnt.

Mit offenem Visier

Hierher zu gehen, ohne zusätzlichen Schutz abgesehen von einem leichten Kettenhemd, mit offenem Visier und das nicht nur für ein paar kurze Stunden am hellerlichten Tage, das ist ein Wagnis, das nur wenige hartgesottene Reporter*innen einzugehen bereit sind. Ein kleiner Fehler nur, und die zu Wutbürgertum und aufbrausender Anmaßung neigenden Einheimischen werden tätlich. Messer finden sich hier in jedem Haushalt, häufig auch Äxte und sogar Schusswaffen, etliche davon seit mehr als 80 Jahren unangemeldet. 

Es musste dennoch sein. Wie immer aller vier Jahre gilt es vor der jeweils anstehenden Schicksalswahl, genau dort nach den Rechten zu schauen, wo sie versuchen, sie vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Wie das benachbarte Thüringen, ein Bundesland, das niemandem im Münsterland, am Rhein oder der Saar fehlen würde, wäre es morgen verschwunden, ist auch Sachsen ein Landstrich unter begründetem Verdacht. 

Deutsche Diktatoren wurden hier geboren, deutsche Großverbände gegründet, große Geschichten geschrieben von vor aller Augen ermordeten Freibadkindern und brutal überfallenen jungen Frauen, die in wenigen Sekunden für das ganze Leben entstellt wurden.

Scharfzüngige Beobachterin

Svenja Prantl, die eigentlich als vielbeschäftigte Freelancerin an einem Strand in Asien lebt und sich von dort immer wieder mit scharfzüngigen Meinungsbeiträgen zu Wort meldet, hat nicht lange gezögert, als sie angefragt wurde, ob sie sich einen experimentellen Aufenthalt im Wilden Osten vor der Wahl vorstellen könnte. 

Mit den sächischen Wurzeln, auf die die 32-Jährige dank eines in Riesa zurückgebliebenen Onkels verweisen kann, sei sie prädestiniert, die Menschen zwischen Bautzen und Annaberg-Buchholz und die zwischen Leipzig und Göritz zu verstehen, sagt sie. Acht Wochen später, die Prantl ohne Pause oder freien Tag unter Wilden verbrachte, liegt ihre Reportage vor. Ein Dokument, das literarisch, dokumentarisch, verständnisheischend und entsetzlich zugleich ist.

Landestypisch in Flecktarn:Prantl.


Prantl sagt selbst, dass sie alles gefunden habe, was das Vorurteil über den Osten ihr versprochen hatte. Hass auf Wessis, Jobs mit schlechter Bezahlung, verhärtete Ressentiments gegenüber der Regierung, Antiamerikanismus und Friedenssehnsucht, rechtspopulistische Einstellungen, die ohne Scham gelebt werden, und Ostdeutsche, die die Demokratie bejahen, aber bis heute nicht verstanden haben. Oft zurückgezogen in kleine Zimmer in kleinen Pensionen, ihr winziges Zelt oder in eine bei Airbnb gemietete preiswerte Kemanate, hat Svenja Prantl die Geschichte ihrer Reise aufgeschrieben, um andere zu warnen.

Hinter der Brandmauer

Bereits ihr Vordringen hinter die berühmte Brandmauer, die die demokratischen Gebiete der Republik schützt, empfand Prantl als abenteuerlich. Hinter Oberhartmannsreuth, das gerade noch zu Bayern gehört, überwand sie unterstützt von Helfer*innen den Feilebach und gelangte über die Gedenktafel an der Wüstung Groschenreuth nach Ottengrün. 

Obwohl derzeit so viele Berichterstatter aus den erfahrenen Bundesländern im Osten unterwegs seien, dass ihr vorhergesagt worden war, sie müsse aufpassen, nicht irrtümlich einen anderen Reporter zu interviewen und die Auskunft zu bekommen, der Gesprächspartner halte natürlich die Demokratie für die beste Staatsform, blieb die Ankunft unbemerkt.

Svenja Prantl berichtet vom Überwinden der Grenze. "Wir bestiegen unsere Kanus mit den Vorräten und Behältern mit sauberem Trinkwasser, aber sofort am anderen Ufer mussten wir dann zu Fuß weiter. " Die mutige junge Frau hat nur das Allernötigste im Rucksack, neben dem Zelt einen wasserdichten Beutel mit der Fotoausrüstung. Das Gelände habe sich als sehr anspruchsvoll herausgestellt, zudem regnete es ununterbrochen, "wie so oft in diesem Sommer in Sachsen", schmunzelt die von Haus aus neugierige Tochter eines Physiklehrers. Es seien unzählige kleine Hindernisse zu überwinden gewesen, darunter schmale, den Einheimischen offenbar als Brücke  dienende Holzwege.

Stimmung am Nullpunkt

So wunderte sie es nicht, dass die Stimmung bereits am ersten Tag auf den Nullpunkt gesungen war, noch ohne einem einzige local begegnet zu sien. "Die Gegend ist sehr dünn besiedelt, die Menschen sind auch alt und gehen kaum noch raus", beschreibt sie. 

Aber dann erreicht Svenja Prantl das erste kleine verschlafene Dorf. "Ein Traum von Idylle", sagt sie. Allerdings habe der Dorfkrug geschlossen gehabt - "seit 2021!", ruft Parntl. Funkempfang habe es nicht gegeben, um bei einem Bringedienst zu bestellen, "wie man das zu Hause tun würde".

 Prantl isst eine Dose Sardinen mit zwei aus Mais geformten Knödeln, die sie daheim vorgekocht hat. "Wenn es sein muss, aber auch nur dann, kann ich durchaus ein paar Tage gar nichts essen, ohne zu verzweifeln", ordnet sie die Beschwernisse der Expedition im Nachhinein undramatisch ein.

Von der vielbeklagten Institutionenskepsis, von politischer Ohnmacht, grundsätzlicher Verweigerung und dem den Sachsen so oft nachgesagten moralischen Überlegenheitsgefühl, das sich aus der Arroganz der Erinnerung speist, schon einmal ein politisches System gestürzt zu haben, sei nichts zu spüren gewesen. 

"Das war überraschenderweise einfach ein hübsches, leeres Dorf, in dem nur ein paar Hunde bellten, wenn man an den fest geschlossenen Hoftoren vorbeiwanderte." Mit jedem Meter habe sie sich sicherer gefühlt, "ich versuchte, mich so zu bewegen, als gehörte ich dorthin", sagt sie, die eigens eine Jacke im ortsüblichen Flecktarnmuster angezogen hatte. "Das hat sich als richtig herausgestellt."

Mitten im Wald

Unterwegs begegnet ihr dann viel Wald, zerschnitten von einigen wenigen Straßen. Ein wenig Fachwerk, viel Natur und "nicht eine Verbotszone für Waffen", wie sie kopfschüttelnd konstatiert. Es sei, glaubt sie, angesichts dessen kaum verwunderlch, dass "die Menschen sich nicht mehr sicher fühlen oder zumindest glauben, nsich nicht mehr sicher fühlen zu können." 

Der Weg erscheint ihr zuweilen wie ein Pfad in eine andere Welt. Auf einer Lichtung lagern Wanderer, ganz normale Menschen aus Hamburg, "freundlich und offenbar sehr mutig". Ein Dorf gleicht dem anderen, alle wirken gepflegt und verbergen die Abgründe, die sich hinter den Fassaden vermuten lassen, nahezu perfekt. 

Auffällig erscheint Svenja Prantl, was auf den ersten Blick nicht auffällt. "Neben hochmodernen Feuerwachen stehen Kaugummiautomaten, die zweifellos schon seit vielen Jahren nicht mehr neu bestückt werden." Rostig sind sie, rostig und überflüssig, denn "Kinder leben in diesen Regionen kaum". Bei 1,3 pro Frau liegt die Fertilitätsrate, kein Wert, aus dem irgendwann einmal wieder eine ökonomische Dynamik entspringen kann. 

 Arm an Ereignissen

"Die Gegend ist allgemein arm an ungewohnten Ereignissen, deswegen sind die dort noch Ansässigen sehr hellhörig und lebhaft interessiert an jedem Geräusch, das vom üblichen Einerlei aus Bofrostauto am Mittwoch und Bäckerwagen am Freitag abweicht." 

Computern stünden viele ablehnend gegenüber, "sie sagen, die hätten sie früher auch nicht gehabt". Auch E-Roller und Lastenräder seien kaum zu sehen. "Die Leute fahren Verbrenner, am liebsten aus DDR-Produktion, Simson, Schwalbe, also uralte Knatterkisten."

Daran störe sich niemand, ebenso wenig daran, dass Jungen schon im Kondesalter die Arbeiten ihrer Papas nachahmen, etwa auf dem Feld helfen oder bei Verputzen einer Wand. 

"Sie glauben alle, dass sie das selbst können, und ignorieren dabei konsequent, wie viele Steuereinnahmen dem Staat entgehen, weil keine Firma beauftragt wird." 

An Wochentagen würden die Kinder jedoch fortgebracht. Teils über Stunden führen sie in das nächste kleine Stadt, weil die Schulen in den Orten nach und nach geschlossen worden seien. Einerseits identifizierte Prantl das als den Versuch eines Bildungsprojekts. "Andererseits ist es natürlich wichtig, dass der Staat alles unternimmt, um die Kinder aus diesen beengten dörflichen Milieus herauszuholen, in dem sich die Haltungen der Eltern ja immer nur wieder dublizieren."

Die Zurückgebliebenen

Diejenigen, die in der Siedlung bleiben, weil sie es sich leisten können oder eine Rente beziehen, obwohl sie wegen ihres langen Aufenthaltes in der DDR überwiegend kaum oder gar nicht in die Rentenkassen eigezahlt haben, unterhalten sich dann ausdauernd und in einem langsam rhythmisierten Singsang über gemeinsame Bekannte, Verstorbene und das Fernsehprogramm. 

 Besucher würden nicht verjagt, aber auch kaum einbezogen. "Ich habe es versucht, aber ich kannte nicht nur die betreffenden Nachbarn nicht, sondern auch keine der disputierten TV-Sendungen", gesteht Svenja Prantl offen. 

Der Tag vergehe für viele mit Warten, Warten auf die Rückkehr der Berufstätigen und der Schulkinder  – "das ist in der warmen Jahreszeit üblich, sagte man mir". Hecken müssen geschnitten, Gehwege gefegt und geharkt werden, es sind Kuchen zu backen, Suppen zu kochen und für den Winter muss Holz gehackt werden.

 Entgegen allem, was die Außenwelt annehme, spielten Parteienstreit, staatliche Vorhaben und Vorgaben und selbst der laufende Wahlkampf in den USA für einen Großteil der Menschen keine Rolle, hat Prantl beobachtet.

Verachtng für Staatsführung

"Einer, der seinen Namen wie alle nicht nennen wollte, verriet mir, dass viele in seinem Ort schon zu DDR-Zeiten die vergreiste Staatsführung verachtet hätten, ohne es außerhalb ihrer inneren Kreise zu verraten. "Jetzt ziehen sie viel Selbstbewusstsein aus dem Umstand, dass sie nicht verpflichtet sind, Vertrauen in Autoritäten, Institutionen oder gar in den Staat als Ganzes zu zeigen."

Im direkten Kontakt mit den Sachsen ist Svenja Prantl positiv überrascht. Absichtlich habe sie sich entschlossen, ohne einen Führer zu reisen, der hätte übersetzen und vermitteln können. 

"Mir war es wichtig, unmittelbar in touch zu gehen, um das echte Sachsen zu erleben", sagt sie. Lässt sich nun anhand ihrer Erfahrungen erkennen, was getan werden muss, um rechtspopulistischen Einstellungskomplexen wirksam zu begegnen?  Reichen ein paar demonstrative Wahlkampf-Abschiebungen, ein paar Messerverbote und neue Überwachungsmaßnahmen? 

Was kann, vor allem, in der akut so bedrohlichen Situation unternehmen, damit Sachsen nicht ganz Deutschland in den braunen Sumpf der Unregierbarkeit zieht? 

Diagnose, Bewertung und Medizin

Svenja Prantl zuckt mit den Achseln. "Selbst die aktuellen Anstrengungen aller großen deutschen Medien, der Sozialwissenschaft und von forensischen Psychiatern, zu einer Diagnose und Bewertung des Krankheitsbildes der Sachsen und all der übrigen Ostdeutschen zu kommen, werden wohl nicht ausreichen, die richtige Medizin zu verordnen", fürchtet sie.

Donnerstag, 29. August 2024

Dröhnende Stille: Wem Solingen die Sprache verschlug

Nach dem Anschlag von Solingen verstummten die progressiven Influencer bei X.com kollektiv. Wieso eigentlich?
Stolz berichtet Karl Lauterbach (Mitte) bei X davon, wie er bei einem Klinikbesuch ein bis dahin übersehenes Vorhofflimmern entdeckte. Abb.: Kümram, Vielfaltsfarben auf Pappe

Oben steht immer noch "Jetzt beginnt das eigentliche Projekt", ein Satz wie ein Grabstein, den der SPD-Politiker Karl Lauterbach am 21. Dezember 2021 höchstpersönlich setzte. Ein Bild, das drei Gesichter zeigt, Lauterbach selbst, dazu Annalena Baerbock und Robert Habeck, die beiden grünen Hoffnungsträger.  

Fotos von Weltreisen

Drei Gesichter, die Stand heute - auch wenn der Wettbewerb eng ist - zu denen gehören, die Millionen Menschen am meisten nicht mehr sehen wollen. Doch alle drei Projektmitarbeiter geben sich davon ungerührt. Lauterbach ist ein Lautsprecher der Kurznachrichtenplattform X, Baerbock beschickt dort mehr als 700.000 Follower mit Nachrichten und imposanten Fotos von ihren Weltreisen, von harten Verhandlungen mit Potentaten und Diktatoren und Ausflügen zu Fußballspielen und Friedensinitaitiven in Kriegsgebieten. 

Auch Robert Habeck, der in diesen letzten Tagen der Ampelkoalition seine Kanzlerschaft plant, zählt zu den aktivsten deutschen Politik-Influencern: Er selbst hat zwar keinen Account mehr, seit er vor fünf Jahren demonstrativ Abschied nahm, um Hetze, Hass und Zweifel nicht weiter zu füttern

Doch der Dienstaccount seines Ministeriums zeigt und zitiert in neun von zehn Fällen den Charismaten aus Holstein. Dort hat der Philosoph unter den deutschen Politikernden nach einen langen schweigeminute seine Einordnung abgelegt. Weißes Hemd, schwarzer Schlipüs, sonst aber hemdsärmlig: Habeck klingt wie der Pfarrer am Stamatisch in einem Dorf in Thüringen kurz vorm Wegkippen. Er will jetzt auch Abschiebnungen, harte Hand, Grenzkontrolen, Schutz der Bürger, was man so sagt, wenn man Angst bekommt, dass einem bald gar keiner mehr zuhört.

Großer Schock

Um ermessen, wie groß der Schock ist, unter dem die Bewohner des politischen Berlin in diesen Tagen stehen, ist der Kurznachrichtendienst X der passende Ort. Hier, wo nicht nur Lauterbach, Habeck und Baerbock, sondern auch der Bundeskanzler, seine Finanzminister, der Justizminister, die Innenministerin, eine Kompanie an Parteivorsitzenden und ein buntes Gewölle an freischaffenden Polit-Influencern in normalen Zeiten kaum einen Augenblick Ruhe gibt, herrscht seit Solingen gespenstische Stille. 

Statt wie üblich im Stundentakt gute Ratschläge abzugeben, sich die Güte der eigenen Meinung bestätigen zu lassen oder den verabscheuten politischen Gegner zu unbedachten Kommentaren zu provozieren, ist es totenstill geworden auf der progressiven Seite der politischen Propaganda. Das Feld, es gehört ganz und gar den Verschärfungspredigern, den Leuten, die gegen ein vermeintliches "Staatsversagen" (Focus) hetzen und die "Messerattacke" (Tagesspiegel) instrumentalisieren.

Drohung mit Klinikbesuchen

Karl Lauterbach berichtet nur noch über seine Klinikbesuche. Sein "Wir besuchen auch über die nächsten Monate regelmäßig Krankenhäuser, auf dem Land und in der Stadt", klingt wie eine Drohung, ist aber wohl eher als Ablenkung gemeint. Über alles will Lauterbach lieber reden als über das, worüber eigentlich niemand schweigen kann. Seine Kabinettskollegin Annalena Baerbock hält es ähnlich. Die Außenministerin lässt ihre Sockenpuppen schon seit Tagen andere Accounts retweeten. Es geht um Afghanistan und irgendwas mit Welt irgendwo weit weg. Alles ist besser als Nordrhein-Westfalen!

Das sieht die Social Media-Abteilung im Hause Habeck genauso. Hier geht es nur noch um  Wirtschaft, seit der Minister die übliche Betroffenheitskachel hat absetzen lassen. Auch Olaf Scholz hat sich einmal offensichtlich angefasst gemeldet. Seitdem verschärft er das Waffenrecht, legt Blumen nieder und lobt "Härte" und "Schärfe".

Erschütterte Erschütterung

Ursula von der Leyen war "tief erschüttert", also sogar deutlich stärker betroffen als Nancy Faeser, die nur "erschüttert" zu sein eingestand. Cem Özdemir, Lars Klingbeil, Christian Lindner, Marco Buschmann und Ricarda Lang - als hätten sie es so vereinbart, folgte auf die Plattitüden der ersten Betroffenheitswelle nichts mehr. So sehr alle sich am Tattag wünschten, die Sicherheitsbehörden mögen den Terroristen schnell fangen, so wenig findet sich eine Reaktion auf die durch die Mithilfe des mutmaßlichen Täters geglückte Festnahme. 

Auch das "Desaster" (Spiegel) rund um die gescheiterte Abschiebung von Issa al-H., die bedauernswerten Ablenkungsmanöver rund um das verschärfte Messerverbot und den Koalitionszwist wegen der Abschiebung von Menschen, die vor neun Jahren kamen und in Deutschland einen auf höchstens vier Jahre begrenzten subsidiären Schutz erhielten, geht keiner der Lautsprecher ein, die sonst jede Talkshow-Äußerung kommentieren. 

Es ist Ruhe im Karton X. Niemand lässt die Welt mehr wissen, was er meint, wirklich gemeint hat und wie die Dinge aus seiner Sicht richtig zu verstehen sind. Abgesehen von der grünen Fraktionsvorsitzenden Katharina Dröge, die Solingen im Endspurt der für ihre Partei so miserabel laufenden Wahlkämpfe in Sachsen und Thüringen nutzt, um die neuen Sicherheitsgrünen vorzustellen: "Jetzt geht es darum, für mehr Sicherheit für die Menschen zu sorgen. Dazu brauchen wir kluge, funktionierende und verantwortungsvolle Maßnahmen", ließ sie keinen Zweifel an der Gedankentiefe, die hinter den Überlegungen der Führungsetage ihrer Partei steht. 

Die Lösung hatte Dröge gleich mitgebracht: "Wir Grüne machen verschiedene Vorschläge, die aus unserer Sicht geeignet sind, diese Sicherheit effektiv herzustellen": Remigration. Mehr Überwachung. Mehr Schulden.

Beliebte kleine Brötchen

Von der Leyen schüttet schon Geld aus, nur für andere Dinge. Ricarda Lang feiert den Umstand, dass der Solarhersteller Meyer Burger nun doch weiter ganz kleine Brötchen backt. Womöglich hat sie die Meldung nicht gelesen oder aber nicht verstanden. Bei denen, für die X der einzige Ort ist, an dem sie noch unter normalen Leuten sind, hat "diese furchtbare Messerattacke" (Katrin Göring-Eckardt) allerdings nur für ein ganz kurzes erschrockenes Durchatmen gesorgt. 

Wie die grüne Bundestagsvizechefin, die keine zwei Stunden brauche, um sich vom Solingen-Schock zu erholen, ihre "Gedanken bei den Opfern und Angehörigen" beiseitezuschieben und in den Wahlkampfmodus zurückzuschalten, hat auch der grüne Christdemokrat Ruprecht Polenz sich nicht lange von dem unschönen Vorfall beim "Fest der Vielfalt" aufhalten lassen. Wenig später schön teilte der früh gescheiterte CDU-Generalsekretär raunend bizarre Verschwörungstheorien zum Anschlag und Ermahnungen an seine Partei, es nicht zu übertreiben mit der Hetze gegen die Bundesregierung. 

Keine Solinger Sache

Sawsan Chebli, das SPD-Äquivalent zu Polenz, war da ganz bei ihm, per Retweet wenigstens, denn die auf die "palästinensische Sache" (Georg Restle) spezialisierte gebürtige Berlinerin hatte sich nach dem Terroranschlag von Solingen ebenso wie der "Journalist über den Tag hinaus" Georg Restle entschlossen, dazu mal gar nichts zu schreiben. Die Solinger Sache ist nicht seins, niemand muss über jedes Stöckchen springen. Dann ist wenigstens nichts falsch, dachte sich auch Luisa Neubauer, die virtuelle Vorsitzende der virtuellen Klimabewegung "Fridays for Future", die wie ihre Mitstreiterin Carla Reemtsma am 22. August verstummt ist.

Jan Böhmermann, einer der mutigsten Enthüller der wahren Wahrheiten und besten Jongleure mit heißen Eisen, folgte zum selben Zeitpunkt. Daheim versteckt vor der Welt, die nicht will, wie er es will, schuf er sein großes Traktat "Hier spricht Jan Böhmermann". Ein Kampfgedicht, das dazu aufruft, die auszugrenzen, die nicht mehr mitkommen. Die zurückzulassen, denen das alles zu schnell geht. Und sich beim Vorwärtsschreiten zur großen Transformation nicht aufhalten zu lassen von Mehrheiten, Demokratie und Rechtsstaat. "Menschen von gestern" haben keine Gnade verdient.

Menschen wie Ludwig Wittgensteins, der 1921 im "Tractatus" schrieb: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."

Wiedervereinigung: Rettung für die Linkspartei

Gerade erst haben sie sich getrennt, nun gibt es erste Rufe nach einer Wiedervereinigung: In die neue linke Einheitspartei soll das BSW seine begeisterten Wähler und die politische Unbescholtenheit einbringen, die Linke dagegen den Rest der SED-Milliarden und die regionale Verwurzelung.
Gerade erst haben sie sich getrennt, nun gibt es erste Rufe nach einer Wiedervereinigung: In die neue linke Einheitspartei soll das BSW seine begeisterten Wähler und die politische Unbescholtenheit einbringen, die Linke dagegen den Rest der SED-Milliarden und die regionale Verwurzelung.

Erst fehlte ihr nur die Strategie, sich in veränderten Zeiten anzupassen. Dann verlor die Linkspartei nach und nach ihre prominenten Köpfe. Die neue Führung der alternden Kommunistentruppe überholte ihre Mitglieder und Wähler linksaußen. Zuletzt fanden sich kaum mehr junge Leute, die dem Versprechen, der nächste sozialistische Großversuch werde der erste richtige sein, noch Glauben schenken wollten.  

Böhmermann findet es "beschissen"

Mittlerweile ist die Situation "beschissen", wie deutsche Starkomiker Jan Böhmermann womöglich sagen würde. Die Linke treibt führungslos auf ein nächstes Wahldebakel hin. Wären das nicht die in die Demokratie hinübergeretteten Reste von DDR-Parteivermögen, die vor mehr als 100 Jahren aus dem Spartakusbund geborene Avantgardepartei könnte sich ebenso gut auflösen. Fehlen würde sie niemandem mehr, denn ihr Zustand ist derzeit so bedauernswert, dass selbst in großen Solidarmedien ernste Sorgen geäußert und erste Nachrufe verfasst werden.
 
Nicht jedem gefällt das, nicht alle sind damit einverstanden, dass die frühere SED einfach so von der Bildfläche verschwindet. Jana Kallmorgen-Krawetz etwa macht sich große Sorgen über einen möglichen Rechtsruck, der eintreten könnte, wenn eine traditionsreiche linke Partei wie die vormalige PDS aus dem politischen Wettbewerb ausscheidet. "Mir würde etwas fehlen", sagt die engagierte junge Frau.

Freund sozialer Gerechtigkeit

Kallmorgen-Krawetz war früher nie selbst SED oder Linken-Mitglied, aber wie sie sagt "immer ein großer Freund von sozialer Gerechtigkeit". Dass sie die voranzutreiben versucht habe, habe sie an der Linken in ihren unterschiedlichen Zustandsformen immer geschätzt. "Wichtig fand ich, dass die Partei sich in den letzten 25 Jahren deutlich verbürgerlicht hat, dabei aber nie versuchte, den letztlich harten kommunistischen Kern ihrer Absichten ganz zu verbergen."

Ein Aus einer solchen politischen Kraft wäre fatal, glaubt Jana Kallmorgen-Krawetz, die im Rheinland in einer öffentlichen Verwaltung arbeitet und im Gespräch im Büro, aber auch in ihrem Wohnviertel und im Fitnessclub schnell bemerkte, dass es nicht nur ihr allein so geht. Kurzentschlossen habe sie deshalb mit Gleichgesinnten einen Initiativkreis gegründet, der umgehend einen Rettungsplan für die Linke ausgearbeitet habe. "Wir glauben, dass nach den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg die Zeit reif sein wird dafür."

Fortlaufende Wähler

Die Idee, mit der die der engagierten Retter*innen die Linke retten wollen, ist relativ einfach. "Nachdem die Linkspartei inzwischen nicht einmal mehr eine Führung hat und ihr die letzten Wähler in Scharen davonlaufen, denken wir, dass es am einfachsten wäre, wenn die derzeitige Linkspartei und die Wagenknecht-Bewegung sich zusammenschlössen." Das Bündnis der früheren stellvertretenden Parteichefin im Bundestag hatte sich erst vergangenes Jahr abgespalten, dabei aber nicht nur die meisten Wähler, sondern auch das politische Momentum mitgenommen. "Zurückgeblieben sind die Tausende Mitglieder ohne Führung und ohne politische Vision, die zudem von anderen bürgerlichen Parteien hinter eine Brandmauer gesperrt werden."

Eine Wiedervereinigung liegt auf der Hand, denkt Jana Kallmorgen-Krawetz, "denn sie könnte im Handumdrehen eine starke linke Kraft etablieren". Derzeit summierten sich die Wahlergebnisse der Restlinken und der noch ohne politisches Programm antretenden BSW je nach Bundesland auf bis über 30 Prozent. "Mit solchen Ergebnissen wäre die neue linke Kraft berechtigt, eine Regierung zu führen." Kallmorgen-Krawetz verwiest auf die aktuelle Situation nach dem Rechtsruck in der Gesellschaft. "Es wird eng im Wettrennen zwischen demokratischen und totalitären Parteien", warnt sie angesichts des Gerangels an beiden Enden des Hufeisens. "Diese Lage erfordert dringende strukturelle Veränderungen."     

Eine einfache Lösung              

Was simpel klingt, könnte in der Praxis sogar noch einfacher sein. "Der Gedanke ist der einer Kraftsammlung ohne Rücksicht auf private Befindlichkeiten", umreißt Kallmorgen-Krawetz. Umfragen zeigten deutlich, dass die Führung der Linkspartei abgewirtschaftet habe. "Die Strategie, die alte SED als politischen Arm radikaler außerparlamentarischer Bewegungen zu etablieren, ist gescheitert."
 
Nun sei es Zeit, mit Wagenknecht ins Gespräch zu kommen: "Schlössen sich die organisierten Reste der früheren DDR-Staatspartei dem BSW an, liefe zum Beispiel ein Verbot der Union, mit der Linken zu koalieren, ins Leere." Die immerhin 124 Jahre alte und mehrfach umbenannte Kommunistische Partei Deutschlands vermiede mit dem Manöver zudem ein diesmal womöglich endgültiges parlamentarisches Aus und die neue Einheitspartei könnte nutzbringend auf die Reste des beiseite geschafften SED-Vermögens zugreifen.

Initiativkreis Wiedervereinigung

Wählerinnen und Wähler, so glauben sie beim Initiativkreis Wiedervereinigung der Linken (IWVL), würden einen Zusammenschluss keineswegs ablehnen. "Beide in Parteien sind Fleisch vom selben Schwein, beide folgen dem Traum von einem neuen sozialistischen Großversuch." Doch während die junge Wagenknecht-Bewegung trotz fehlender Strukturen im Land und ohne feste Verwurzelung in der Bevölkerung von einer Welle der Euphorie enttäuschter linken Wähler getragen werden, gehe es in der Wagenburg der ehemaligen PDS nach dem verlorenen Machtkampf um die wenigen verbleibenden Posten. 
 
"Wir glauben, dass es Zeit ist, dass die ohnehin scheidende Linkenführung ihre Verantwortung erkennt und über ihren Schatten springt." Der scheidenden US.-Präsident Joe Biden habe es vorgemacht: "Er hat das Schicksal des Landes über das eigene gestellt, das erwarten wir auch von Janine und Martin". Gemeint sind Janine Wissler und Martin Schirdewan, die beiden letzten Parteivorstände, die vergeblich versucht hatten, die orthodox-marxistische Ex-PDS zu einem grünbunten Angebot für die Zielgruppe der verbeamteten Moralisten in den urbanen Bionadeviertel der westdeutschen Wohlstandsinseln zu machen.

Alte Linke lieben die Idee

Ehemals führende linke Visionäre wie Dietmar Bartsch stehen der Idee offenbar offen gegenüber. "Die Wählerinnen und Wähler haben es in der Hand, ob Bodo Ramelow Ministerpräsident bleibt oder sie es mit Katja Wolf probieren wollen", hat der frühere Chef der Bundestagsfraktionschef  angedeutet, dass eine engere Zusammenarbeit der beiden populistischen Linksparteien für ihn kein Tabu ist. Er setze auf Rot-Rot-Rot in Thüringen, also ein Bündnis der drei ehemaligen Arbeiterparteien Linke, SPD und BSW. Das sei "in Reichweite", sagt der frühere SED-Funktionär, der als PDS-Bundesschatzmeister große Erfahrungen bei der Sicherung der Kampfkraft der Linken sammelte. Und wäre eine bundesweite Premiere: Erstmals seit 1989 würden in einer Teilregion Ostdeutschlands genau die Kräfte wieder allein regieren können, die zwischen 1949 und 1989 den Aufbau des Sozialismus gelenkt und geleitet hatten.
 
Wissler und Schirdewahn gelten als Totengräber der mehr als hundertjährigen Parteigeschichte, aus Sicht des Initiativkreises könnten sie aber auch zu Helden der so oft so ratlos wirkenden Partei der Arbeiterbewegung werden. Mitglied- wie Wählerschaft würden eine feierliche Wiedervereinigung der Linkspartei mit den Wagenknecht-Getreuen zweifellos erleichtert hinnehmen. "Beginnend mit der Spartakustruppe über die USPD und die KPD bis zur SED und zur WASG hat sich die heutige linke Restpartei ja immer wieder neue Namen gegeben und andere Parteien geschluckt."

Experiment mit Thüringern

Ein Endpunkt müsse die vom IWVL angeregte schnelle Wiedervereinigung von Linkspartei und BSW keineswegs sein. Gelinge das Experiment in Thüringen, schwebe allen Beteiligten eine "große Lösung" für die zersplitterten Kräfte der progressiven Linken vor, sagt Jana Kallmorgen-Krawetz. "Es wäre ein Traum von uns allen, dass die SPD als dritte kleine linke Kraft noch vor der Bundestagswahl 2025 den Mut aufbringt und sagt: Statt mit fünf oder acht oder elf Prozent bei Wahlen hundert Prozent der eigenen Vorstellungen von der gesellschaftlichen Transformation nicht umsetzen zu können, verbünden wir uns lieber mit der Linken und dem BSW und setzen 30 Prozent durch."

Mittwoch, 28. August 2024

Gesichter der Krise: Mittendrin, aber nie dabei

Der junge Maler Kümram hat Herbert Reul mit nasser Kreide gezeichnet - eine besondere Arbeitstechnik, die eine große Durchdringungstiefe zeigen kann.

Auch er ist es nicht gewesen. Herbert Reul könnte schwören, dass er alles getan hat, was er konnte, immer. Seit der heute 71-Jährige 2017 nach Jahren als Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament zurückkehrte nach Deutschland, um Innenminister von Nordrhein-Westfalen zu werden, ging es ihm "darum, Haltungen in der Gesellschaft zu ändern". Viel mehr, als altes politisches Schlachtross, das bereits in den Amtszeiten von Kohl, Honecker, Reagan und Tschernenko Verantwortung trug, weiß Reul das besser als die meisten anderen, kann niemand tun.

Tiefe Enttäuschung

Umso tiefer sitzt die Enttäuschung jetzt, wo sich alle Anstrengungen des ehemals so engagierten Europa-Politikers als vergeblich herausgestellt haben. Seit Issa al-H. in Solingen drei Menschen ermordete, ist die Republik geschockt, die Bundespolitik paralysiert - Reul aber zieht wetternd und zeternd durch die Fernsehstudios. Ein Mann, der nicht mehr anders kann. 

Sieben Jahre hat sich der Innenminister von NRW das alles angeschaut, dann und wann daheim womöglich schimpfend, nach außen hin aber still. Als alter, weißer Mann war Reul zur Überzeugung gekommen, dass bereits bei Kindern angesetzt werden müsse, "um langfristig Wesensveränderungen zu bewirken". Herbert Reul funktionierte. Aber er protestierte nie.

Noch ein neues Gesicht

Bis zu diesem Tag von Solingen, den auch der Bundeskanzler nutzte, um all denen, die ihn nicht mehr wählen wollen, ein neues Gesicht zu zeigen. Olaf Scholz hausiert jetzt als der, der es immer schon gesagt hat, der immer schon warnte und wusste, dass es so nicht weitergehen kann. Die typisch Osnabrücker Aufregung äußert sich in kurzen, kantigen Sätzen, in denen schnelle Maßnahmen von durchgreifender Regelungstiefe angekündigt werden. 

Reul trägt die Jacke des emotional angefassten Mitspielers. Das Gesicht, das schon alles gesehen hat, streng gefaltet, taucht der kleine Herr mit der knurrigen Stimme überall auf, wo man ihn haben will. Er kritisiert die Ausstattung der Polizei, will "Zuwanderer einschränken", er nennt es ein "Riesenproblem", dass der Islamismus ein "grundsätzliches Problem" sei. 

Auf einmal lässt er alles raus, was ihm vielleicht schon seit 1985 auf der Seele liegt. "Ich bin es satt, diese Quatscherei", macht Herbert Reul aus seinem Herzen keine Mördergrube mehr, in der die Abwertung von parlamentarischen Verfahren und der mühsamen demokratischen Kompromissfindung tief vergraben war. 

Mal was in die Tonne hauen

Vorbei! Was hat er nicht immer gemahnt, die von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes als Lehre aus der Hitlerdiktatur verordnete Trennung von Geheimdiensten und Polizei in die Tonne zu hauen. "Kein Mensch ist dagegen, die Parteien waren dagegen", schimpft Herbert Reul wie ein Rohrspatz darüber, den Grundsatz, dass kein gemeinsamer Datenaustausch zwischen Polizei und Nachrichtendiensten stattfinden darf, weiter zu befolgen. 

Galt bisher, dass der, der alles weiß, nicht alles dürfen soll, während der, der fast alles darf, nicht alles wissen sollte (Gusy), ist es neuerdings die Durchdringungstiefe der staatlichen Kontrolle, die nicht mehr ausreicht, Sicherheit zu garantieren.

Mehr Meldestellen

Herbert Reul hätte gern noch mehr Kontrollmechanismen für den Verfassungsschutz, denn fest steht, dass Deutschland damit "keine Freiheitsrechte aufheben" wird. "Wir geben unsere Lebensart nicht auf", schwört Reul und er klingt trotz seines heiligen Zorns wie der Kanzler und dessen Parteivorsitzende Saskia Esken.

Die hätte gern mehr Meldestellen, mehr Überwachung, sieht aber nicht, was bei Solingen schiefgelaufen sein könnte oder was daraus lernen ließe. Herbert Reul sieht das ähnlich: "Nein, die Sicherheitslage hat sich nicht verändert. Wir haben eine wachsende abstrakte Gefahr. Wie oft haben wir Anschläge verhindert, vier-, fünfmal. Das war schön, da freuen wir uns, dass nichts passiert ist. Jetzt ist mal was passiert."

Gesichter der Krise

Saskia Esken hat schon mächtig was bewegt.
Nun sind sie halt da! Esken und Reul sind zwei Gesichter der Krise, zwei Politiker, die in den zurückliegenden Jahren geholfen haben, die Basis für all das zu legen, was heute so vielen so entsetzlich schiefgegangen zu sein scheint. Beide sind sich sicher, nie etwas falsch gemacht zu haben. Das waren die anderen!, heißt es unisono. Saskia Esken verweist darauf, dass ihre Partei, die seinerzeit Polizisten entließ, als sei der Weltfrieden ausgebrochen, schon lange viele, viele, viele neue einstelle. Nur sei es schwer, die Stellen zu besetzen, weil "wir immer weniger Menschen in Deutschland werden". 

Statt 81,7 Millionen leben heute schon nur noch knapp über 84 Millionen im Land, bis 2040 könnten es nur noch 85,5 Millionen sein. Deutschland ist immer noch magnetisch, trotz seines üblen Rufs als Wachstumsbremse (BR) und kranker Mann Europas (n-tv). Für Saskia Esken ist der "erste Migrationspakt keineswegs gescheitert, sondern erfolgreich durchgeführt worden", auch die "Regierung war sehr erfolgreich", sagt sie und besteht darauf, dass die Lage längst nicht angespannt genug ist, um jetzt schon Änderungen durchzuführen. Reul würde, kann aber nicht, nicht zuletzt, weil er auch nicht weiß, was.

Schon mächtig was bewegt

"Tatsache ist doch, dass wir uns bewegt haben", beteuert die Frau, die die SPD von der Volkspartei zum Nischenprojekt einer Kaderkaste gemacht hat. Für Saskia Esken war immer klar, dass sich die Menschen und das Land an den Vorschlägen der SPD ausrichten müssen. Die Partei weiß, was gut ist, die Partei hat die Programme, die Visionen und genug Selbstvertrauen, um das Erschrecken zu überstehen, dass die Funktionäre nach dem überraschenden Wahlsieg von 2021 befiel, als klar wurde, dass niemand einen Plan hatte, was nun eigentlich aus der unverhofft erlangten Macht folgen sollte. 

Wieder Kontrolle erlangen über die Frage, "wer kommt nach Deutschland", würde Esken schon gern, aber nicht hier, nicht jetzt, nicht gleich und nicht durch Maßnahmen, die nicht schon längst durchgeführt wurden. Alles andere bleibt abzuwarten, die Menschen müssen Geduld haben, die Partei hat sie mit ihrer Führung auch. So lange der Niedergang nicht vollendet ist, besteht kein Grund zu Beunruhigung.

Politisch-medialer Komplex: Treiber und Getriebene

Absetzbewegungen.
Als wäre eine Tür plötzlich zugeschlagen, ein Auto frontal vor eine Mauer gefahren, ein Sargdeckel zugeklappt. Hetzer, Hasser und Zweifler reiben sich die Augen. Ist das noch meine "Zeit"? Ist das noch der "Spiegel", den ich abbestellt hatte? Was ist los bei der FAZ, bei der SZ und der Taz? Woher kommt diese Sehnsucht nach Maßnahmen, Einschränkungen der Grundrechte, dieses Schwurbeln von einem "verunsicherten Land", in dem "selbst Leute, die die Vielfalt feiern, fangen an zu zweifeln"? (SZ). Was ist passiert, dass die Ampel "sich jetzt ehrlich machen" (Zeit) soll und "jede Brandmauer anders"(Taz) ist? Schuld hat nicht mehr "das Messer" und die Ankündigung entschlossenen staatlichen Handelns wird als "Ritual, als Phrasen hilfloser Politiker" verächtlich gemacht.

Am Ende der Geduld

Deutsche Medien am Ende der Geduld, die sie fast ein Jahrzehnt als alternativlos verteidigt hatten. Selbst im SPD-Medienimperium erklingen Klagen über "Staatsversagen", bislang ein klares Erkennungsmerkmal rechter Populisten. Deutlich leiser sind die Warnungen vor einer Instrumentalisierung des Terroranschlags, deutlich kleiner sind die Schlagzeilen über den Aufstand der Anständigen, die nach der Tragödie von Solingen "Hand in Hand für Demokratie und Menschenrechte" auf die Straße gingen, um "ein klares Signal für Demokratie, Menschenrechte, ein solidarisches Miteinander in unserer Stadt und ganz Sachsen"  (RND) und gegen den Rechtsextremismus zu setzen.

Es scheint Konsens nicht nur im politischen Berlin, sondern auch in den Medienhauptstädten der Republik: Wer jetzt noch punkten will, muss das Ruder herumreißen. Und denen nach dem Mund schreiben, die anfangs als Pegida gegen die "Islamisierung des Abendlandes" marschierten und später begannen, je mehr falsch zu wählen, je weniger ihre Wahlentscheidung praktische Folgen hatte.

Wahlhelfer des Rechtsrucks

Die besten Wahlhelfer des Rechtsrucks sind es schlagartig nie gewesen. Als sei es seit Jahren nach jedem Anschlag, jeder Partypeople-Zusammenkunft und jedem Mord auf offener Straße ihr beständiges Gebet gewesen, dass "die Bundesregierung nun handeln" (Die Zeit) müsse, werden die pflichtschuldigen Betroffenheitsadressen der Parteispitzen und Regierungsvertreter für die Familien der Toten und Genesungswünsche für die Verletzten nur halbherzig als "wichtig" begrüßt, damit die "Betroffenen  wissen, dass Politik und Gesellschaft sie nicht alleinlassen". Diese Solidarität aber reiche nicht, weil es "jetzt" vielmehr ein Signal der Entschlossenheit der demokratischen Parteien brauche, "das mit mehreren Maßnahmen unterfüttert ist".

Das "Signal des Schreckens" (FR) aus Solingen, es hat nicht nur in den Parteizentralen Panik ausgelöst, es hat auch in den Elfenbeintürmen der Leitmedien alle Gewissheiten erschüttert. Glaubten die Aktivisten dort bisher, sie müssten nur lange genug und möglichst immer noch mehr und deutlicher beteuern, dass alles eines Tages gut werden werde, wenn alle nur fest an das "Wir schaffen das glaubten, hat der "Anpassungsdruck" (FR), dem Bundeskanzler Scholz mit seiner "im großen Stil abschieben"-Parole im Oktober vergangenen Jahres sichtbarsten Ausdruck verlieh, inzwischen auch die erreicht, deren gesamtes Glaubensgebäude auf der Grundlage basiert, dass kein Glas je voll und das Boot immer toll ist.

Bedeutung für die Presselage

Die Auswirkungen des Wechsels des Betrachtungswinkels - nicht der erste, aber vielleicht der letzte - sind noch kaum abzuschätzen. Denn für die Regierungspolitik haben Medien auch im Deutschland der 2000er Jahre noch immense Bedeutung: Neben Umfragen ist die von Presseausschnittdiensten  tagesaktuell zusammengestellte "Presselage" der wichtigste Orientierungspunkt beim Steuern des Staatsschiffs. Wer im politischen Raumschiff sitzt, zwischen Kabinettssitzung und Treffen des Parteivorstandes und Expertenbriefing und Fernreise und Pressekonferenz und Friesland Bio Weiderind im Borchardt, der hat kaum eine andere Chance, mitzubekommen, was da draußen sonst noch so läuft.

Gute Presse bedeutet gute Politik, ein guter Politiker tut, was die Zeitungen, Magazine und Gemeinsinnsender fordern, denn naturgemäß nörgeln und schimpfen die je weniger, je mehr sie den Eindruck haben, es werde so regiert, wie sie es vorgeschlagen haben. 

Wer wie die SPD über eine eigene Medienfirma verfügt, die täglich Millionen zumeist unwissender Leser erreicht, bekommt sein eigenes Echo zurück. Andere dürfen sich wie die Grünen und die Linke darauf verlassen, dass die eigene Nähe zu einem Milieu, aus dem sich auch die wichtigsten Stimmen der Medienrepublik rekrutieren, zu einem harmonischen Miteinander beim Versuch führt, die einfachen Menschen draußen im Land von den Vorteilen gewisser Nachteile zu überzeugen.

Beunruhigende Zeichen

Es ist ein beunruhigendes Zeichen, dass dort jetzt etwas zerbrochen ist. Die festen Bande, über die jahrelang gespielt wurde, mit gemeinsamen Zeilen, gemeinsamen Reisen und Talk-Show-Kumpelei, sind erschüttert. Die, aus deren Argumenten und filigranen, liebevoll handgefertigten "Faktenchecks" das Luftpolster gewebt war, auf dem die Große Koalition und später die Ampel weitermarschierten, als der Rand des Abgrunds längst überschritten war, gehen von der Fahne und treten nach: Parteien seien "schrumpfende Biotope mit unzureichender Bindung ans Wählerumfeld" zitiert die Frankfurter Rundschau hochnäsig die, die immer alles richtig, aber nun doch schon immer alles falsch gemacht haben.

Das Problem der Leitmedien waren nie die fehlenden Leser. Sie zogen ihre Bedeutung aus denen, die sie noch hatten. Wenige, aber wichtig. Multiplikatoren, eine frühe Vorform des Influencers, und längst auch in deren Nachbarschaft unterwegs. Multiplikatoren, die von Multiplikatoren beflüstert werden. Und verschwiegenen Runden Unter Drei zurückflüstern. Treiben und Getriebene, kaum mehr zu ermitteln, wer genau welche Rolle spielt. 

Umso mehr schmerzt der Verrat, das Umkippen vor der Zeit und der Hohn, der sich hinter despektierlichen Bezeichnungen wie "roter Sheriff" versteckt, die auf einmal Konjunktur haben. Das Vergessen der eigenen Rolle beim versuch der Durchsetzung der Beschlüsse geht soweit, dass die besten Wahlhelfer AfD den Kanzler beschuldigen, der beste Wahlhelfer der AfD zu sein.

Dienstag, 27. August 2024

Kampf gegen Telegram: Frankreich landet Faesers größten Coup

PPQ-Kolumnistin Svenja Prantl hatte schon vor Jahren klare Forderungen an die Politik gerichtet. Nun endlich hat die EU im französischen Terrorrecht eine Handhabe gefunden, den Bedrohern der Freiheit die Instrumente zu zeigen.

Sie hat lange gekämpft, mehrere Jahre. Hartnäckig blieb Bundesinnenministerin Nanny Faeser bei der Stange, ohne dass es die Öffentlichkeit noch mitbekam. Nach außen hin sagte sie den Kampf gegen das den Kurznachrichtendienst Telegram ab. Das früher als Hauptkampfmittel der belorussischen Opposition gelobte Unternehmen hatte die Sozialdemokratin zwar vorgeführt, verhöhnt und blamiert. Faeser aber schien sich daran gar nicht zu stören. Sie lächelte die Angriffe weg, akzeptierte das Versagen der zuständigen Behörden als weiteren Fall von verlorener Kontrolle und ließ sich auch von totalitären Scharfmachern treiben, die von einem "Trockenlegen des Sumpfes" träumten.

Die Geduld der Jägerin

Ein Trick, wie die Welt heute weiß. Nancy Faeser, in den Jahrzehnten politischer Nah- und Fernkämpfe nicht nur mit Wassern gewaschen, hat Telegram nur in Sicherheit wiegen wollen. Der Bundeshetzkanal, auf dem sich Leugner aller Art versammeln, Maßnahmekritiker sich austauschen und Schwurbler ihr querdenkendes Publikum bedienen, sollte nur glauben, dass sich die Bundespolitik abreagiert habe und nun einen einfacher zu besiegenden Gegner suchen werde. Faesers plante, was sie sagt: Eine europäische Lösung. Und sie wurde verstanden, wie der Hinweis auf eine noch ausstehende Einigung der 27 Mitgliedsstaaten immer verstanden wird: Nächstmöglicher Termin St. Nimmerleinstag.

Auch das hat wohl zum trickreichen Plan gehört, um der "App der Opposition" (Tagesschau) endlich beizukommen. Mit der Festnahme von Telegram-Gründer Pawel Durow auf dem Flughafen von Paris zeigt sich Faesers kluges Kalkül. Es mag manchmal länger dauern, bis der Rechtsstaat seien Feinde greifen kann. Er mag manchmal nicht selbst vor Ort sein, wenn es ihnen an den Kragen geht. Aber er vergibt nicht, verzeiht nicht und lässt nicht locker, bis er den Hintermännern einer App, die "Rechte nutzen, um sich zu vernetzen und Falschnachrichten zu verbreiten" (ZDF), die Instrumente zeigen kann.

Der Sonderrechtsstaat greift zu

Nancy Faeser hat sich nicht zum französischen Coup rund um Durow geäußert, doch das gehört zum Geschäft. Der gebürtige Russe hatte sein Heimatland einst verlassen, um Nachstellungen zu entgehen. Der Kreml hatte ihm vorgeworfen, nicht umfänglich mit den Behörden zusammenzuarbeiten, um Oppositioneller und Kritiker habhaft zu werden. Auch ähnliche, aber legitime Forderungen europäischer Behörden hatte der mittlerweile in Dubai lebende Milliardär ins Leere laufen lassen. 

Frankreich, schon seit längerer Zeit ohnehin ohne gewählte Regierung, nutzte die Gelegenheit, dem eingebürgerten Geschäftsmann klarzumachen, wer in Europa das Sagen hat. Es sind Frauen wie Nancy Faeser und Männer wie Thierry Breton, die von ihren Parteien damit betraut wurden, ein Auge auf alles zu haben und den Feinden unserer Ordnung keinen Fußbreit Boden zu gewähren. Nicht Betreiber von Internet-Plattformen, denen Hunderte von Millionen vertrauen.

Eine Festnahme mit Signalwirkung. Kaum saß Pawel Durow wegen des Vorwurfs, er habe "nicht genug gegen Drogenhandel, Betrug und Kindesmissbrauch auf Telegram unternommen" in einer als "Gewahrsam" bezeichneten Gefängnisunterbringung, die als Antwort auf die terroristischen Anschläge von 2015 erfunden worden war, meldete sich mit Elon Musk ein anderer Verteidiger einer falsch verstandenen Meinungsfreiheit.

Es sei absurd, eine Plattform oder ihren Besitzer dafür verantwortlich zu machen, wenn Dritte den Dienst missbrauchten, behauptete der Besitzer des Nachrichtendienstes X. Europa verhalte sich totalitär: "Es ist das Jahr 2030 in Europa und du wirst hingerichtet, weil du ein Meme geliked hast", behauptet Musk, der wohl schwant, dass er der nächste Kandidat für einen Gefängnisaufenthalt sein könnte.

Verwarnhaft für Verweigerer

Faktenchecker konnten ihn jedoch schnell widerlegen. Weder habe die in den meisten EU-Staaten extralegale Unterbringung Durows in einer Zelle etwas mit dem Kampf der EU gegen einen Wildwuchs bei der Meinungsfreiheit zu tun, hieß es in Brüssel, noch sei das als Waffe gegen widerspenstige Großkonzerne eingeführte "Gesetz für digitale Dienste" (DSA) Grundlage der Verwarnhaft für den 39-Jährigen. 

Es gehe nicht um Meinungsfreiheit, hieße es aus der EU-Kommission. Die französischen Behörden handelten auf Basis des französischen Strafrechts und "im Rahmen einer gerichtlichen Untersuchung erfolgt, die die Pariser Staatsanwaltschaft Anfang Juli eingeleitet" hatte. Da Pawel Duwow "unzureichend mit den Strafverfolgungsbehörden zusammengearbeitet" habe, "um gegen Aktivitäten wie Betrug und organisierte Kriminalität auf Telegram vorzugehen", gelte er als "mitschuldig" an der Verbreitung, dem Anbieten oder Zugänglichmachen von pornografischen Bildern von Minderjährigen bis zur Organisierter Kriminalität.

Das neue Konzept von Normalität und Freiheit

Schwere Vorwürfe, die nach dem in Frankreich seit Mitte der 90er Jahre eingeführten Regeln des sogenannten "Bekämpfungsrechts" eine Art Erzwingungsgewahrsam erlauben. Der Frankfurter Rechtsprofessor Günter Frankenberg nennt das ein "neues Konzept von Normalität und Freiheit", das langjährige "kriegerische und autoritären Neigungen legitimiert bzw. verschärft" habe.

Genau der richtige Boden, um einem wie Pawel Durow klarzumachen, womit er es zu tun hat. Flankiert vom offenen Eingeständnis des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dass die Festnahme des Telegram-Chefs  "in keiner Weise eine politische Entscheidung" gewesen sei, funktioniert das Wegsperren eines überreichen, gut vernetzten und einflussreichen Multimilliardärs wie ein Signalfeuer für alle, die noch nach dem richtigen Kurs im Umgang mit den aktuellen Leitlinien der Meinungsfreiheit suchen. Übertreibe es nicht. Behalte alles für Dich, bei dem Du denkst, es könnte vielleicht nicht allen gefallen. Und leg Dich ja nie mit dem Staat an, denn der hat den längeren Atem.