Freitag, 26. Juli 2024

Die Klassenkämpfer: Wer ist diese "politische Klasse"?

Ursprünglich als Bezichtigung von außen aufgebracht, sieht sich die politische Klasse heute selbst und selbstbewusst als solche.

Auf einmal ist sie überall plötzlich ist die Klassengesellschaft zurück. Diesmal klafft der Graben nicht zwischen oben und unten, zwischen Vorstadt und Zentrum, Stadt und Land. Sondern zwischen denen, die sich selbst zu einer neuen gesellschaftlichen Gruppe rechnen, von der weder Grundgesetz noch in Marxens "Kapital"noch nicht die Rede war: Die "politische Klasse" (Deutschlandfunk)  bezeichnet die gesellschaftliche Führungsschicht der Berufspolitiker, eben noch im Ausland, je weiter weg, desto mehr. Nun aber verstärkt auch nicht mehr nur in Ausnahmefällen bezogen auf den "Innenbetrieb des Parteienstaates" (Handelsblatt), die sich trifft, berät und für alle entscheidet.  

Eingerichtet im Parteienprivileg

Diese politische Klasse habe sich "im Parteienprivileg des Grundgesetzes eingerichtet", warnten Kommentatoren schon vor Jahren, als Deutschland noch nicht unter der Last der selbstauferlegten Verantwortung stöhnte. Es ist der Versuch der Umwertung eines Begriffes, den Hetzer, Hasser und Zweifler lange für sich reklamiert hatten, um vermeintlich negative Begleiterscheinungen politischer Professionalisierung zu betonen. 

Dass die neue Nomenklatura der Volksparteien sich aus Kadern rekrutiert, die ihr ganzes Sein, ihre gesellschaftliche Stellung und ihren Lebensunterhalt allein der organisierten Formation verdanken, der sie sich - zumeist in früher Jugend - verschrieben haben, wurde mit dem aus dem Französischen entlehnten Schlagwort kritisiert, um vermeintlich zunehmende Ablösungstendenzen der Eliten zur Delegitimierung machtausübender Menschen zu nutzen.

Okkupierter Begriff

Rechte Parteien, Populisten und rechtsextreme Gruppierungen okkupierten den Begriff, der ein rationales Umgehen mit möglicherweise noch bestehenden Defiziten der Demokratie unmöglich machen soll. Peter Glotz, der große sozialdemokratische Vordenker, hat früh darauf hingewiesen, das eine so formulierte Kritik an der politischen Klasse nur darauf zielt, sie lächerlich zu machen und Denunziation zu ermöglichen, ohne dass sie als solche entschlossen zurückgewiesen werden kann. Berühmt geworden ist die Anklage des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der sich dieses Stilmittels 1994 virtuos bediente: "Die heutige politische Klasse in Deutschland ist gekennzeichnet durch ein Übermaß an Karrierestreben und Wichtigtuerei und durch ein Übermaß an Geilheit, in Talkshows aufzutreten."

Doch zuletzt sickerte der fragwürdige Euphemismus aus den rechten Echokammern in den medialen Mainstream. Ganz selbstverständlich ist die Rede vom "Staat als Beute", von einer politischen Klasse, die die Wähler täusche, und von einer "Kaste" (Die Zeit), die sich zwar "nicht durch Erbfolge", aber durch durch Wahlen fortpflanze: Ein "eigenes Korps mit eigenen Funktionsgesetzen", zusammengesetzt aus den "politisch Herrschenden, den Regierenden, in Deutschland ein paar Tausend Mitglieder, weit überwiegend Männer", so Die Zeit.

Beschimpfung als Selbstbezeichnung

Selbstbewusst sprechen die Bundesminister oder Ministerpräsidenten, Bundesrichter oder hohe Parteifunktionäre, Edelfedern, Spindoktoren, Parteiarbeiter, Aktivisten und hauptberuflich Engagierten inzwischen von sich selbst als der politischen Klasse. Eine Gruppe, die durch soziale, kulturelle und finanzielle Schranken abgeschottet ist von der Bevölkerung als Ganzes. Eine Schicht, die Partei- und Wahlämter wie Wahl- und Parteiämterinhaberbeobachtung als Erwerbsberuf betreibt, am liebsten abgekapselt und nur gelegentlich Nähe als herrschaftliche Gnade verteilend. Die politische Klasse weist sich dadurch aus, dass ihre Mitglieder nicht nur für die Politik, sondern ausschließlich von der Politik lebt. 

Ihr Verhältnis zu Verfassung ist spannend: Einst geschrieben, um die politische Klasse in ihren Handlungsmöglichkeiten einzuschränken, hat die politische Klasse ihre Möglichkeit, die Verfassung  nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, beständig erweitert und immer breiter angelegt. Zuletzt gelang es ihr, die Erststimme bei Bundestagswahlen zu entwerten, um die über parteiintern aufgestellte Listen antretenden Empfänger von Zweistimmen zu begünstigen. Damit wird der innere Zusammenhalt der Klasse der Berufspolitiker gestärkt und die Durchlässigkeit zwischen der Frau und dem Mann auf der Straße und den im Parteiauftrag nach ihrem Gewissen im Parteiauftrag agierenden Politikern und Politikerinnen zu zurückzubauen.

Selbstgemachtes Aushängeschild

Aus der Beschimpfung der vor allem in Berlin verorteten politischen Klasse durch einschlägige Absender aber haben die zusehends selbstbewusster agierenden Klassenangehörigen sich ein Aushängeschild gebaut. Die von den lateinischen Substantiven classis und politicus abgeleitete Bezeichnung für die neue Bevölkerungsgruppe umfasst nicht mehr nur Handelnde im politischen Raum, sondern auch deren protokollführende Begleiter, ihre Berater, Propagandisten und zivilgesellschaftlichen Stichwortgeber. 

Durch diese Ausweitung seiner Bedeutung erst hat der früher als Beschimpfung genutzte Begriff seinen Klassencharakter erhalten. Heute ist er einer der Bausteine der modernen Gesellschaftsbeschreibung: Einerseits ist da die politische Klasse, daneben agiert die zugehörige sogenannte Zivilgesellschaft, dazu gibt es im politischen Selbstgespräch nur noch die schwätzende, hetzende und querdenkende verfassungsfeindliche Opposition. Und sehr viel Bevölkerung mit sehr wenig Verständnis für nichts, der es deshalb fortwährend gilt, die eigenen klugen Entscheidungen noch besser zu erklären.

Neue Dimension von Elite

Seit Klaus von Beyme den vom italienischen Juristen und Politologen Gaetano Mosca (1858 - 1941) in  seinem Buch „Elimenti di scienza politica" (1896) geprägten Begriff der politischen Klasse in einer Untersuchung zur "neuen Dimension der Elitenforschung" auf die mögliche "Ablösungstendenzen" abgeklopft hat, haben Professionalisierung, Karrierisierung und Routinisierung politischer Karrieren eine neue Dimension erreicht. Zählte Helmut Schmidt einst neben den Politikern nur die politischen Journalisten zur politischen Klasse, gehört heute ein weiteres und ungleich breiteres Umfeld aus Aktivismus, Berufsprotest und Behörden dazu. 

So wie die von Karl Marx ausgedachte Gesellschaft ohne ökonomische Klassen ohne Herrschaft auskommen sollte, so kommt die moderne Mediendemokratie nicht ohne die Minderheit der politischen Klasse aus, "die eine Mehrheit beherrscht" (von Beyme), ohne dass diese hierarchische, streng zweigeteilte Gesellschaft mit ihrem Elite-Masse-Gegensatz im öffentlichen Gespräch zu einer Erklärungsnot führt: Die Steuerung der Gesellschaft durch eine Klasse, die über alle ideologische Differenzen hinweg gemeinsame biographische, intellektuelle und funktionale Merkmale teilt, gilt als alternativlos. Dass sich diese politischen Klasse leider, leider, leider aus sich selbst heraus erneuert, als unumgänglich. 

Getrennt vom Alltag

Durch räumliche Erhöhung und durch Sicherheits­kräfte vom Volk getrennt, durch Einkommen und Lebensstil vom Alltag abgeschottet, zeichnen sich die Angehörigen der neuen Klasse dadurch aus, dass ein Hochdienen bis in Ämter mit politische Entscheidungsmacht unumgänglich ist. Spitzenpositionen werden in der Regel nur über bestimmte Laufbahnen erarbeitet, die nur in den politischen Parteien möglich sind. "Sie kanalisieren den politischen Auswahlprozeß nahezu vollständig" (Bernhard Weßels) und stehen nur denen offen, die die Ausdauer mitbringen, ihre Zeit kommen zu lassen. Wem es gelingt, der betreibt Politik als Beruf, er ist Angehöriger eben jener "politischen Klasse",  die in keinem Bereich spezielle Kenntnisse haben muss, zugleich aber für Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Moral, Verteidigung, Zukunft, Deutung der Vergangenheit und Wohlstand verantwortlich ist.

Überfordert, ratlos, um Lösungen verlegen, nie aber um einen neuen Plan für neue Aufgaben, existiert diese Klasse in einem abgekapselten Raum, der kaum mehr einen Austausch mit seiner Umgebung kennt. Die Realität erscheint von innen gesehen als störende Belästigung, die Wirklichkeit als Nebengeräusch, das Zeit raubt, die lieber für interne Richtungskämpfe genutzt werden würde.


8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wehe, wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.
Natürlich halten sich diese Leute für Eliten ( idealtypisch R.Habeck - der chöne Ropert (das musste ich mal loswerden) ). Aber die Räder werden doch im Hintergrund von ganz Anderen gedreht. Und am Ende ..... entweder die großen Ziele werden erreicht, dann werden diese "Eliten" nicht mehr gebraucht, oder die Ziele werden nicht erreicht, dann wissen diese "Eliten" einfach zu viel. Eine gute Vorstellung davon, was dann passiert, kann man bekommen, wenn man sich das Ende vom Film "Kasino" ansieht - ein blutiges Massaker an Leuten, die sich für große Zampanos hielten, angeordnet von den wirklichen Bossen.

Die Anmerkung hat gesagt…

Klasse ≠ Klasse

Anonym hat gesagt…

Alternativ würde ich als terminus technicus 'korrupte Klasse' vorschlagen.

Anonym hat gesagt…

Eine gute Vorstellung davon, was dann passiert

...kann man in den Rakowski-Protokollen lesen. (Das Ganze liest sich zwar hanebüchen, erklärt aber andererseits einige Sonderbarkeiten: Wie zum Beispiel, dass die Angtangt-Mächte sich mit dem Versailler Diktat selber wirtschaftlich heftig ins Knie ge ...bissen haben.)
----- Die werden sehr dumm aus der Wäsche gucken. Nur, unsereiner wird nichts davon haben außer etwas Häme.
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Noch einen zum vorangestellten Text: Die Absicht des Künstlers war primär, die komplexe Totalität gesamtgesellschaftlicher Systembeziehungen in heterogener Partizipierung maximal evident zu machen.


Anonym hat gesagt…

Vor ungefähr 20 Jahren fingen sie an, sich als "Eliten" zu bezeichnen. Ein paar Jahre später tauchte der Begriff "Qualitätspresse auf. Danach kam dann "Prekariat". Kommen gesehen habe ich das Ende der 90-ziger mit dem Aufkommen der "politischen Korrektheit". Alles schöne Begriffe auf dem Weg in den Abgrund.

Rudi hat gesagt…

Warum diese Leute nicht einfach Nomenklatura nennen?

irgendwer hat gesagt…

Nomenklatoren wäre auch witzig.

Stattdessen sind sie nur Handlungsbevollmächtigte, die bei Versagen/ einem (größeren) PR-Ausfall gegen gefälligeres Klientel ausgetauscht werden können.

Im Grunde ist jeder, dessen Namen sie kennen, ein austauschbarer Protagonist. Jaja, selbst der, an den Sie jetzt denken.*


Glauben Sie nicht? Fragen Sie Herrn Geng Huichang. Der wird Ihnen zwar nicht antworten, aber beredt und herzlich in sich hineinschmunzeln.

*Boah... DER doch nicht.

Volker hat gesagt…

"Im Grunde ist jeder, dessen Namen sie kennen, ein austauschbarer Protagonist. Jaja, selbst der, an den Sie jetzt denken.*"

Saskia Esken?