Mittwoch, 31. Juli 2024

Venezuela: Kapitulation der Gemeinschaft

Statt der strengen Hand, mit der die EU das Regime in Venezuela früher auf Kurs bringen wollte, gibt es diesmal nur lauwarme Ermahnungen.

Ein springender Bettvorleger im Löwenkostüm, so kam sich Josep Borrell vor. Der Hohe Außenbeauftragte der EU ist das Gesicht der Scheiterns der Gemeinschaft beim Versuch, die Welt auch in Südamerika wieder in Ordnung zu bringen. Vor vier Jahren noch hatte die Kommission sich einen eigenen venezolanischen Präsidenten ausgedacht und ihn anerkannt, obwohl ein Großteil der Mitgliedsstaaten eine diesbezügliche europäische Lösung stur ablehnte.  

Abgang des Favoriten

Die als Sanktion gedachte Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates verpuffte. Oppositionsführer Juan Guaidó, Favorit der Minderheit der EU-Mitgliedsstaaten, verschwand irgendwann ungesehen und unbetrauert von der politischen Bühne. Ursula von der Leyen erwog, das Hungerreich des kommunistischen Machthabers Nicolas Maduro zu einem der neuen EU-Energieversorger zu machen. Das scheiterte letztlich an der Haltung der USA, gegen die die Kommission europäischen Interessen diesmal nicht durchsetzen konnte. 

Eine "politische Pattsituation" (EU), die durch vorsichtiges Lavieren "einen positiven und notwendigen Schritt zur Fortsetzung des Dialogprozesses im Hinblick auf faire, transparente und wettbewerbsfähige Wahlen bis 2024" darstellen sollte. Kurz nach der erneuten Krönung Maduros rief die EU die Führung in Caracas noch auf, "dringend" einen Übergangsprozess einzuleiten und eine friedliche Lösung für die politische Krise in dem Land zu finden. Danach strich der Hohe Außenbeauftragte Venezuela von seiner Agenda. Venezuela wurde von einem Megathema der EU zu einem Kapitel, über das allenfalls noch geflüstert wurde. Guaidó wurde gar nicht mehr erwähnt.

Maaß im Regenwald

Dort taucht es nun wieder auf, viereinhalb Jahre, nachdem sich Brüssel von Guaidó distanziert und den damaligen deutschen Außenminister Heiko Maas im Regenwald hatte stehen lassen. "In dieser Situation, meine sehr verehrten Damen und Herren", hatte der Sozialdemokrat im Bundestag mutig ausgerufen, "kann man nicht neutral bleiben". Der kleine Saarländer mit dem globalen Ego berief sich dabei auf den aus der spanischen Kolonie Neugranada stammenden Freiheitsheld Simón Bolívar berufen, den er des guten Eindrucks wegen zum Beispiel-Venezoelaner erklärte.

Man kann aber eben doch. Joseph Borrell beließ es nach den markigen Sanktionsaufrufen und von vor vier Jahren diesmal bei einer handzahmen Erläuterung. "Die Bevölkerung Venezuelas hat friedlich und in großer Zahl über die Zukunft ihres Landes abgestimmt, ihr Wille muss respektiert werden", heißt es da eher kühl als lauwarm, ja, fast schon diplomatisch. Dazu sei es "von entscheidender Bedeutung, im Wahlprozess vollständige Transparenz zu gewährleisten, einschließlich einer detaillierten Stimmenauszählung und des Zugangs zu den Wahlunterlagen in den Wahllokalen".

Diplomatische Reflexe?

Kein anklagendes Wort mehr gegen eine "Regierung, die die Not ihrer eigenen Bevölkerung ignoriert, die demokratische Institutionen aushebelt, um sich skrupellos an der Macht zu halten", wie es Heiko Maas noch gefunden hatte, ehe er von seinen EU-Außenministerkollegen alleingelassen wurde beim Versuch, Juan Guaidó zu dem Mann zu machen, der "das Land zu Neuwahlen führen" müsse.

Ist es Angst? Ist es ein Rückfall in die alten Reflexe der Diplomatie? Zeigt sich hier das Machtvakuum nach der von allen mitregierenden Parteien verlorenen EU-Wahl, die der Gemeinschaft mit Ach und Krach eine neue, alte Kommissionschefin, aber noch keine Kommission beschert hat?

Auf den Achsen des Bösen

Als wäre die Heimat des berühmten Venirauto, mit dem Maduros Ziehvater Chavez und der Iran eine kapitalismusfreie Mobilinitiative auf die Achsen des Bösen gestellt hatten, ein ganz gewöhnlicher Staat, belässt es die "Tagesschau" bei respektvollen Bezeichnungen wie "Amtsinhaber" und "Präsident" für den Chavisten, der Venezuela "in den Abgrund" (Heiko Maaß) geführt hat. Faktenchecker überlegen, "wie vertrauenswürdig das offizielle Ergebnis" wohl sei. Und der "Spiegel" sieht die geschlagene und von den Europäern verratene Opposition in Venezuela "so nah wie nie" vor einem Machtwechsel.

Der vom Spiegel als "selbsternannter Anarchokapitalist", Fußballzertrümmerer und "Spalter" Javier Milei mit einem Satz deutlich wird: "Dictator Maduro, get the hell out!"

Unter Null: Wachstumsdelle im Wirtschaftswunder

Stillgelegter Schornstein, 5G-Mast und Wärmepumpe
Die Wärmepumpen sind angeschlossen, die 5G-Verkabelung steht. Und doch ist das Schwächeln der Wirtschaft weit weg vom Wumms.

Was für eine faustdicke Überraschung! Eben noch hatte die Bundesregierung mit einer Verschiebung ihrer Wachstumsziele auf die Zeit unmittelbar vor dem in einem Jahr beginnenden Wahlkampf zum neuen Bundestag für Enttäuschung bei Untergangspriestern, Schlechtrednern und Zweiflern am großen Transformationsprojekt gesorgt.  

Finanzminister Christian Lindner versprach eine bald beginnende Wirtschaftswende, Bundeskanzler Olaf Scholz setzte alles auf ein Dynamisierungspaket als Nachfolger von Wumms und Doppelwumms. Medien flankierten hingebungsvoll mit Stichworten aus der Bundesworthülsenfabrik (BWHF): "Schwächeln" war in der Wirtschaft angesagt, eine "Wachstumsdelle" und das vom Kanzler selbst ausgerufene "Schwungholen" vor dem nächsten "Wirtschaftswunder" (Scholz).

Nur technisch und rechnerisch

Nur rechnerisch steckte Deutschland seit Monaten mittendrin in einer Rezession, aber die war "technisch" (DPA) und kein Grund zur Sorge. Wenn das "Wachstumschancengesetz" vom Frühjahr erst zünde, werde das alles kein Thema mehr sein. Kein Grund, das R-Wort zu verwenden, denn auf den Flügeln der Windgeneratoren werde sich das Land aufschwingen in neue Höhen, bioneutral grün lackiert und damit ein von innen leuchtendes Vorbild für die Welt.

Nun aber ist Deutschlands Wirtschaft doch wieder geschrumpft, wenn auch ganz und gar "überraschend", wie überall bekanntgegeben wird. Nach dem stolzen Wachstum von 0,1 Prozent im vergangenen Quartal,  bei einer Inflationsrate von knapp 2,3 Prozent ein kopfgerechnetes Minus von 2,2 Prozent, "sieht es wieder schlechter aus" (Spiegel).

Nicht schlecht natürlich. Dazu reichen die 10.000 Insolvenzverfahren monatlich nicht, denn selbst wenn die acht Millionen Beschäftigten im produzierenden Gewerbe alle nach Hause geschickt würden, blieben immer noch die acht Millionen Lohn- und Gehaltsempfänger im Öffentlichen Dienst, die Richter, Krankenkassen- und Rentenkassenverwalter, die Bürgergeldberechtigten und mehr als 21 Millionen Rentner als Stabilitätsanker.

Es läuft super

Für sie ändert sich nichts, ob nun mal ein Quartal besser oder eine lange Reihe von Quartalen "schlechter" läuft. Vor allem im Osten, darauf hat die grüne Fraktionsvorsitzende im Bundestag gerade hingewiesen, läuft es doch super: Das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal mag ja gesunken sein. Doch "der Wirtschaftsaufschwung ist im Osten viel stärker als im Westen", sagt Katharina Dröge. Noch viel stärker, hätte es in der DDR geheißen, die sich auf die Definition selbstgemachter Siege noch ein wenig besser verstand.

Der Osten, beargwöhnt, beschimpft und längst letztinstanzlich abgeurteilt, verdankt seinen neuen Ruhm als Leuchtturm der Hoffnung einem einzigen Unternehmen: Tesla, die E-Autofabrik des immer wieder auffälligen Elon Musk, bescherte Brandenburg zuletzt ein Plus zum BIP in Höhe von sechs Prozent, das das Schrumpfen von Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen mehr als ausglich. Zumal Mecklenburg-Vorpommern half, das vom Trend zum Urlaub auf eigener Scholle profitierte - genau so, wie es die Nationale Tourismusstrategie vor einem Jahr mit einer Orientierung hin "zu einer möglichst raschen Transformation hin zur Klimaneutralität"empfohlen hatte.

Längerer Anlauf, höherer Sprung

"Gute Jobs, eine stabile Wirtschaft, alle Aspekte sozialer Sicherheit und ein Klimaschutz, der die Menschen mitnimmt", das ist das Geheimrezept, nach dem Katharina Dröge gegen die wachsenden Zweifel an einem Konzept ankochen will, nach dem die Wirtschaft nur umso kräftiger wachsen werde, je länger sie vorher geschrumpft sei. Ein längerer Anlauf, Olympioniken kennen das aus den Marathonwettbewerben, führt immer zu weiteren und höheren Sprüngen. 

Eine "richtige Krise" sei das nicht, hat Klaus Wohlrabe, der Konjunkturexperte des Münchner Ifo-Instituts, Sorgen beiseite gewischt. Marcel Fratzscher, der in Krisenzeiten allgegenwärtige Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hat mehr Bemühungen der Unternehmen gegen die AfD gefordert, um die rote Wachstumslaterne in der EU loszuwerden. Es müsse nicht mehr gearbeitet werden, aber es müssten mehr arbeiten, sagte der einzige deutsche Ökonom mit eigenem Verb

Seine Denkfabrik hat für die "überraschende" Schwäche der Wirtschaft bereits eine wissenschaftliche Erklärung geliefert: "Trotz des positiven Jahresauftakts ist die deutsche Wirtschaft bisher offenbar nicht wirklich in Schwung gekommen", heißt es da. Damit verzögere sich die konjunkturelle Erholung, die aber prinzipill immer noch unmittelbar bevorstehe.

Flatten the curve

0,1 Prozent runter in einem Quartal, dessen Vergleichsmonate noch bei glatt Null gelegen hatten, das ist so schlecht nicht, sondern eben nur "schlechter". Ein Minus, das gerade noch als "Schwebezustand der Stagnation", eine Formulierung vom letzten Jahr, als Robert Habeck Statistiken über eine schrumpfende Wirtschaftsleistung als Schlechtreden des Standortes kritisierte. Man sagt nicht "Wirtschaftskrise" in einer Wirtschaftskrise, denn das befördert nur "German Angst" (Habeck). Und die ist "unbegründet" (Habeck), weil ja "die Daten nicht gut, aber erklärbar" seien.

Wenn es abwärts geht mit der Wirtschaft, dann immer nur "leicht" (DPA). Wenn eine Rezession erst eine ist, wenn das Bruttoinlandsprodukt zwei Quartale hintereinander schrumpft, dann reicht es vollkommen aus, wenn jedes zweite Quartal die Null hält. Das Konzept flatten the curve kennen Ältere noch aus der Pandemie, es hilft auch hier langfristig: Jeder schlechtere Monat heute erhöht die Chancen, dass ein nicht ganz so übler im nächsten Jahr von innen leuchtet, ein Fanal für das Scholz'sche Wirtschaftswunder, eine Fackel, die die fürchterlichen Prognosen des IWF überstrahlt und die Kaffeesatzleser vom Ifo-Institut Lügen straft.

Dienstag, 30. Juli 2024

Wahlrecht: Aus für die Auchstimme

Im 16. Jahr verwirft das Bundesverfassungsgericht einmal mehr eine Wahlrechtsreform. Wieder ist Zeit gewonnen.
 

Es konnte doch aber nicht mehr so weitergehen. Zwar war es den politischen Parteien gelungen, die vom Bundesverfassungsgericht mehrfach geforderte Reform des Wahlrechts immer wieder auf die lange Bank zu schieben. Wolfgang Schäuble tröstete mit leeren Versprechungen, Norbert Lammert sah die Dinge auf einem guten Weg. Doch auch wenn mangels medialer Aufregung draußen im Lande kaum jemand Notiz davon nahm, dass Europas größte Demokratie ihre Wahlen auf einer Grundlage abhielt, die vom Verfassungsgericht als Bruch der Verfassung abgeurteilt worden war, bestand Handlungsbedarf.

Verrat in Karlsruhe

Wenn auch keine Eile. Über mehr als ein Jahrzehnt schleppte sich der Prozess, in dem die Leute, die das verfassungsfremde Wahlrecht gebaut und auf der Basis dieses Wahlrechts in ihre Ämter gelangt waren, ankündigten, bald mit einem großen Wurf um die Ecke kommen zu wollen. Ein kleineres Parlament ohne größere Wahlkreise sollte es sei. Ein gerechtes Abbild der Stimmungslage allerdings lieber nicht, denn niemand weiß ja nie.

So ging es denn dem Direktmandat an den Kragen. Ursprünglich war der direkt gewählte Abgeordnete zwar Kern und Mittelpunkt jeder Volksvertretung. Doch der vermaledeite Mechanismus der Ausgleichsmandate, mit denen weniger erfolgreiche Parteien für verpasste Mehrheiten belohnt werden, funktionierte verblüffenderweise wie der Mindestlohn und das Bürgergeld: Je mehr Gerechtigkeit durch mehr Großzügigkeit geschaffen wurde, desto ungerechter wurde es. 

Ein unsagbares Rätsel

So hatte der Bundestag 1991 661 Abgeordnete, die 60,4 Millionen Bürger vertraten. 30 Jahre später waren es 733 Volksvertreter, die für 61,2 Menschen draußen im Lande emsig engagiert waren. Eigentlich vertritt jeder Parlamentarier im Bundestag etwa 91.000 Wählerinnen und Wähler. Die neu hinzugekommenen allerdings stehen im Grunde nur für etwa 11.000. An ihnen aber hängt das Schicksal der Nation: Einmal da, gehen sie nicht mehr weg. Aus 16 sogenannten Überhangmandaten, die wiederum ausgeglichen werden mussten, wurden zwischen 1994 und 2021 sagenhafte 138. Die Zahl der Abgeordneten liegt damit derzeit 133 Sitze über der gesetzlich festgelegten Soll-Größe von 598.

Die Ursache war ein Rätsel, dem der demokratische Block keineswegs auf den Grund gehen wollte. Stattdessen schreinerten unterschiedliche Koalitionen unterschiedliche Krücken mit dem Augenmerk auf ein Design, das gern die aller anderen, aber möglichst nicht die eigenen Wahlchancen beeinträchtigen sollte. Versuch macht klug und hier brauchte es mehrere: Was auch getan wurde, um so zu tun, als werde etwas getan, am Ende wies das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe jedes Mal darauf hin, dass der als Verfassungsbrecher notorische Gesetzgeber zu weit oder aber lange nicht weit genug gegangen war.

Der letzte Versuch

Der letzte Versuch zielte dann auf den Kern des demokratischen Gedankens. Weil die anderen Parteien die Direktmandate holen, die eigenen Kandidaten aber meist nur auf dem Aushilfsweg über die Parteienlisten ins Parlament einziehen, zimmerte die Ampelkoalition das Wahlrecht so um, dass aus den mit der Erststimme direkt gewählten Abgeordneten Volksvertreter zweiter Klasse werden, die nur dann noch ein Mandat erlangen, wenn die mit der Zweitstimme gewählten Listenkandidaten nicht schon alle Plätze besetzen. Auf Empfehlung der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) wurde die Erststimme dazu in Auchstimme umbenannt und die Parteienstimme auf "Hauptstimme" getauft. 

Ein Manöver, das so durchsichtig war, dass es vom Bundesverfassungsgericht als durchaus zulässig bezeichnet wird. Im Gegensatz zur Sperrklausel, die Parteien benachteiligt, die nach ihrem Zweitstimmenergebnis rechnerisch Bundestagssitze erhalten würden, bei der Sitzverteilung aber nicht mehr berücksichtigt werden sollten, wenn sie im Bundesgebiet weniger als fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen erreicht haben. Diese Regelung bedeute "eine Ungleichbehandlung gegenüber Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren Zweitstimmenergebnis", urteilt das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die klagende CSU. Die könne von der Sperrklausel am Einzug ins Parlament gehindert werden. Obwohl sie dort eine Koalitionsgemeinschaft mit der CDU bilde.

Während die Streichung der Grundmandatsklausel nun also vereinbar ist mit dem Grundgesetz, das die Wichtigkeit des direkten Mandats ausdrücklich betont, ist es die getrennte Betrachtung von Wahlergebnissen von Parteien, die im Parlament kooperieren, nicht.

Ein schöner Erfolg

Doch bei allem Katzenjammer, der nun folgen wird, und bei den Vorwürfen, dass nun auch die kommende Bundestagswahl wieder auf der Basis eines kaum mehr handhabbaren Wahlrechts abgehalten werden muss, bliebt doch ein Erfolg zu konstatieren. Seit dem ersten Verfassungsgerichtsurteil zum Wahlrecht vom 3. Juli 2008, mit dem dem Gesetzgeber eine Änderung des Bundeswahlgesetzes bis zum 30. Juni 2011 aufgegeben worden war, sind stolze 16 Jahre vergangen, ohne dass mehr geschehen ist, als immer mal wieder eine Reform anzukündigen, die dann immer wieder von Karlsruhe verworfen wurde. 

Ein schöner Erfolg, der seine Fortsetzung findet: Bis zu einer Neuregelung bleibt die Grundmandatsklausel weiterhin bestehen. Und mit ihr aus Gründen der Gerechtigkeit auch der Ausgleichs- und Überhangapparat.

Satirealarm: Gefälschte Kandidatin der Herzen

Eigentlich kennzeichnungspflichtig: Das von Elon Musk verbreitete höhnische Filmchen über die deutsche Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris.


Deniz Yücel hat es getan, damals, als Satire noch nicht kennzeichnungspflichtig war. Das war von Anfang an lange her, vor Jahren immer schon, denn die Formulierung vom "baldigen Abgang der Deutschen" als "Völkersterben von seiner schönsten Seite" hatte nicht nur den Schreibfehler bei "etwas besseres als Deutschland findet sich allemal" eingebaut, sondern auch den augenzwinkernden Hitlerverweis, dass "in der Mitte Europas bald ein Raum ohne Volk" entstehe.  

Unangebrachte Aufregung

Aufregung war nicht angebracht. Angriffe kleingeistiger Hass. Wer "den ganzen Text" (Correctiv) las, erkannte zweifelsfrei, dass nichts ernstgemeint war. Yücel wollte nur spielen, ein Spaß auf Kosten des Untergangspredigers Thilo Sarrazin. Nach Yücels Definition, locker angelehnt an Kurt Tucholsky und dessen These, dass Satire "alles" dürfe, wird jenes alles nur begrenzt von einer Regel: "Satire richtet sich nicht gegen Einzelne, sondern gegen Institutionen, nicht gegen die Schwachen, sondern gegen die Mächtigen".

Dass René Pfister beim renommierten Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" höhnische Witze auf den Ullstein-Verlag reißt, ist da nur folgerichtig. Wer ein "Spiegel"-Abo hat und "den ganzen Text" lesen kann, wird nicht zweifeln, dass Pfister seinen Aufruf zum konsequenten Canceln nicht nur der Bücher des womöglich kommenden US-Vizepräsidenten, sondern auch derer von Bosbach, Gysi und Bahr keineswegs ernst gemeint hatte. Der kurzzeitige Träger des Nannen-Preises kennt sich aus mit Krisen-PR. Und er weiß, dass eine durchaus ernstgemeinte Forderung ungeheuerlichen Inhalts sich problemlos nur formulieren lässt, wenn Kunst-, Meinungs- und Pressefreiheit bis zu jener äußersten Grenze bemüht werden, die die Satirerichtlinie zieht.

Goldrichtig und grundfalsch

Der Gott der Medien aber ist selbst ein Spaßvogel. Nur 48 Stunden nach Pfisters als "Kolumne" markiertem Applaus für die "goldrichtige" Entscheidung, den J.D. Vance Bestseller "Hillbilly Elegy" aus dem Ullstein-Programm zu werfen, schlägt der "Spiegel" Satirealarm. Elon Musk verbreite ein "Fake-Video von Kamala Harris auf X", das "wie ein Wahlwerbespot wirkt", aber "Kamala Harris lächerlich macht". 

Zu hören sei "eine Stimme", die nicht nur wie ihre, sondern sogar wie "ihre eigene klingt". Der Clip nutze "zum Teil die gleichen Bilder wie ein offizieller Wahlkampfspot von Harris". Und dazu sage Harris Sätze wie: "Ich, bin eure demokratische Präsidentschaftskandidatin, weil Joe Biden in der Debatte endlich seine Senilität offengelegt hat" und sie sei allein deshalb gekürt worden, weil sie eine Frau und der ultimative People of Color sei. So dass jeder, der sie kritisiere, sowohl Rassist als auch Sexist sei.

Alles wie echt

Von ihrem scheidenden Chef Joe Biden, so die gefälschte Harris, habe sie Regel Nummer eins gelernt: Verbirg deine komplette Inkompetenz und auch, dass es vor allem wichtig sei, die Wichtigkeit des Unwichtigen zu entdecken. Am Ende fragt die mögliche Kandidatin ihre Zuschauer schnippisch: Denkst du, das Land ist in den letzten vier Jahren vor die Hunde gegangen? Du hast noch gar nichts gehen. Dann lacht es mit diesem inneren Leuchten, das Kamala Harris so viele deutsche Sympathien eingetragen hat.

Jeder, der das Video bis zu diesem bitteren Ende gesehen hat, wird zweifellos überzeugt sein, dass Kamala Harris selbst dort spricht und lacht und ihre Wahlchancen zunichtemacht. Nicht jeder ist so gewieft im Umgang mit doppeldeutigen Botschaften wie die Redaktion des "Spiegel", der sich schon im Kampf um den Schutz der deutschen Außenministerin für eine strengere Auslegung der Satirefreiheit starkgemacht hatte. Nicht jeder kann anhand vager Vermutungen wie der, dass keine Präsidentschaftskandidatin den amtierenden US-Präsidenten "senil" nennen würde, darauf schließen, dass es sich hier wohl nicht um einen echten Wahlwerbespot handeln wird.

Sorgen über Sorgen

Dass Musk zwar auf den ursprünglichen Post verlinkt, der mit dem Hinweis "Ad Parody" versehen ist, selbst aber nicht noch einmal auf den satirischen Charakter hinweist, erfüllt die Hamburger Redaktion mit Sorge. 130 Millionen Mal wurde der Clips auf dem Account des X-Eigentümers angezeigt. Der "Spiegel" - verstärkt vom ZDF, n-tv, Karl Lauterbach und andereren besorgten Bürgern, wird noch viel und engagiert warnen müssen, um Schaden von der Kandidatur abzuwenden.

Montag, 29. Juli 2024

Der Rechtsrutsch der Regina W.: Radikalisiert und voller Zweifel

Regina Walther macht sich bis heute Vorwürfe.


An ihren einen kleinen fürchterlichen Moment erinnert sich Regina Walther heute noch. "Ja", sagt sie mit einem schüchternen Schmunzeln, "das war damals wohl der Augenblick, als sie mich so weit getriggert hatten, dass ich nicht mehr klar denken konnte." Die Mittzwanzigerin, durchtrainiert, sportlich und ausgesprochen hübsch, wirkt betroffen, angefasst und schuldbewusst. Regina Walther kann heute selbst nicht mehr glauben, was sie damals getan hat, sie fühlt sich verantwortlich, obwohl das fragliche Geschehen bereits viele Jahre zurückliegt. "Aber das ist es wohl gerade", versucht sie sich selbst an einer Analyse, "ich habe so lange verdrängt, dass es mich schließlich nachts eingeholt hat."

Lange Nächte ohne Schlaf

Sie schreckte unwillkürlich auf, sie erwachte schweißgebadet. "Ich konnte das alles nicht einordnen, denn das ist mir noch nie im Leben passiert." Beim Grübeln in langen Nächten, in denen die ausgebildete Dachdeckerin auf die Rückkehr des Schlafes wartete, kristallisierte sich schließlich heraus, welche Last genau ihr auf der Seele liegt. "Es war eine Situation im ersten oder zweiten Lockdown", erzählt sie, so ganz genau wisse sie es selbst nicht mehr wahr. Regina Walther war wie so oft für eine Stunde unterwegs, um frische Luft zu schnappen. "Ich bin immer in der Park in der Nähe gegangen, weil das nicht so viele Leute waren", erinnert sie sich, "man wusste damals nicht, wie das ist mit der Tröpfcheninfektion und wie sie die Schwebteilchen mit den Viren in der Außenluft verhalten."

Im Park, zwischen Bäumen und Sträuchern mit frischem Wind um die Nase fühlt sich Walther damals relativ sicher. "Und dann sah ich an diesem schicksalhaften Tag auf einer natürlich abgesperrten Wiese zwei Männer, die miteinander Federball spielen." Walther, die früher selbst Badminton bis hoch zur Kreislage betrieben hat, ist alarmiert. "Im ersten Moment war ich entsetzt, im zweiten empört", erzählt sie. Die geltenden Lockdown-Bestimmungen verbieten es strikt, mit mehreren Personen Sport zu treiben. Erlaubt sind einsame Spaziergänge, nicht aber das Lesen von Büchern allein auf einer Parkbank. Erlaubt sind auch Joggingrunden, so lange nur ein Teilnehmer unterwegs ist oder andere nachweislich zum selben Haushalt gehören. "Das waren Regeln, die hatte man ganz tief verinnerlicht."

Die erste Anzeige ihres Lebens

Und nun diese beiden Badmintonspieler, als wäre nichts gewesen. "Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten soll", sagt Regina Walther. Jeder sei damals aufgefordert gewesen, Verstöße zu melden, um Alte und Vulnerable zu schützen. "Ich bin aber eigentlich nicht so eine Meldemuschi", erzählt die nach einem Arbeitsunfall als Angestellte einer großen Verwaltung tätige Sächsin. In ihrer Familie sei es schon zu DDR-Zeiten verpönt gewesen, andere anzuschwärzen. "Selbst wenn man mit Leuten nicht einer Meinung war, war man doch mit einer einig, dass die Stasi, die Polizei und der Staat der gemeinsame Feind sind."

Nun aber lebt Regina Walther in einer demokratisch verfassten Staat. "Und dann kommt mit ein Stück weiter den Weg runter ein Polizeiauto entgegengefahren." was ihr durch den Kopf gegangen sei in diesem Augenblick, das könne sie nicht mehr erinnern. "Aber Fakt ist, ich habe an die Scheibe geklopft, ganz vorsichtig, bin mehrere Meter zurückgetreten, wegen der Ansteckungsgefahr, ich wollte ja den beiden Beamten nichts Böses." Und dann habe sie die verhängnisvollen Worte ausgesprochen: "Da hinten sind zwei Männer, die halten sich nicht an die Coronaregeln" habe sie gesagt. "Oder zumindest etwas ähnlich Blödes", seufzt sie heute, wo die Ausbreitung des neuartigen Lungenvirus öffentlich überhaupt keine Rolle mehr spielt.

Mit der Macht gegen Menschen

Der kurze Satz, von den beiden Polizeibeamten nur mit einer kurzen Nachfrage nach dem genauen Ereignisort beantwortet, sei die erste Anzeige ihres Lebens gewesen, sagt Regina Walther. "Und ich bereue sie im Grunde seit dem ersten Moment." Wenn sie heute an die Szene denke, sehe sie "einen großen Aussetzer" und ein "schlimmes moralischen Versagen", denn  "jede Faser meiner Erziehung sagt mir, dass man sich nicht gemein macht mit der Macht, wenn es gegen Menschen geht."  

Dennoch sei es passiert, dennoch habe sie getan, was sie getan habe. "Und ich muss heute sagen, dass ich das damals auch für richtig gehalten habe." Überall sei ja die Rede davon gewesen, dass nichts mehr normal sein dürfe. "Vielleicht war ich es deshalb auch nicht mehr." Regina Walther knetet ihre Hände vor der Brust, sie seufzt schwer und atmet tief ein. "Ich habe an mir selbst gesehen, was aus Menschen werden kann."

Das Ende des blinden Glaubens

Und das nicht nur einmal, sondern nach "meinem großen Sündenfall" (Walther) immer weiter. Nach dem Erschrecken kam bei der jungen Frau mit den glänzenden dunklen Haar das Erschrecken über das Erschrecken, wie sie es nennt. Sie sei einerseits gerührt gewesen von der Reue über ihre Tat, die sie zu empfinden imstande war. "Aber ich war eben auch entsetzt von mir selbst,als mir klar wurde, was ich heute tun würde." Für Regina Walther ist klar: Zurücklaufen zu den Männern, sobald sie das Polizeiauto sehe. "Und dann würde ich sagen: Achtung, Achtung, ihr beiden, da hinten kommen zwei Beamte, bringt euch in Sicherheit."

Ein Akt der Entsolidarisierung oder ein Akt der Rückeroberung eines eigenen Willen? "Mich quält der Gedanke, dass ich bis heute nicht weiß, was den beiden damals geschehen ist." Aber, ja, sagt Regina Walther, sie könne an sich Spuren eine Radikalisierung erkennen. "Ich glaube nichts mehr, was von oben kommt, und ich befolge keine Befehle." Dass sie sich damit unter Umständen außerhalb der Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger stelle, die kein traumatisches Meldeerlebnis hinter sich haben wie sie, ist Regina Walther nur allzu klar. "Aber das ist nun mein Weg, ich wüsste nicht, wie ich heute noch blind folgen könnte, nur weil jemand behauptet, er sei mein Anführer."

Satirische Säuberungen: Porentief rein

Republikaner Vance: Werk und Autor radikal zusammendenken und ausgrenzen.

Das neuerdings zweifelhafte Buch steht auf Platz 1 der Buchhitparade, weit vor dem Bestseller, der dort eigentlich stehen müsste. Beinahe tausend Plätze Abstand zwischen J.D. Vance' acht Jahre alter autobiografischer "Hillbilly-Elegie" und Kamala Harris' selbstgeschriebener Offenbarung "Der Wahrheit verpflichtet - Meine Geschichte" - was soll das für ein Signal sein, das da von Deutschland aus in die Welt geht?

Absage im Panzerbär

Der Ullstein-Verlag, im Dritten Reich nazifiziert, als Herausgeber der Frontzeitung Der Panzerbär erfolgreich, von den Alliierten aufgelöst und schließlich 1952 neu gegründet, zog schnell entsprechende Schlüsse: Schon kurz nach Vance' Nominierung als Donald Trumps Kandidat für das Amt des US-Vizepräsidenten entschied der heute zu einem schwedischen Großkonzern gehörende Verlag, den Vertrag mit dem Republikaner aus Ohio nicht zu verlängern und die "Hillbilly-Elegie" nicht neu aufzulegen.

Das "ist kein Skandal" (Die Zeit), auch weil Ullstein die Lizenz zum Nachdruck an eine andere  Organisationseinheit des schwedischen Eigentümers weitergab. Ein Schachzug, ähnlich geschickt wie vor Monaten die Platzierung eines Einweg-Kaffeebechers auf einem Marketing-Foto der Grünen-Chefin während einer kurzen Krafttank-Pause auf einer letztlich vergeblichen Wahlkampftour. Der Rauswurf eines möglichen US-Vizepräsidenten, der den Marschallstab für eine eigene Präsidentschaft im Tornister hat, sorgte für genug Aufsehen, das im "Spiegel" ehemals als schlüssige Erklärung dessen gelobt wurde, was in deutschen Bionadevierteln als misstrauisch als "weiße Unterschicht der USA" beäugt wird.

Das gute Buch

Das gute Buch steht sieben Jahre nach seinem Erscheinen unter dem Verdacht, einen schlechten Einfluss auszuüben. Der Bundeskanzler hatte einst beim Lesen weinen müssen, der Autor vertritt nun "eine aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik" (Ullstein), so dass er keinen "wertvollen Beitrag zum Verständnis des Auseinanderdriftens der US-Gesellschaft" mehr liefern kann. Gegen Ausgrenzung hilft nur Ausgrenzung. Und gegen die Zweifel, ob das wohl genauso gut funktionieren wird wie die Brandmauer gegen rechts kann nur mit satirischer Überhöhung angegangen werden.

René Pfister, selbst einstiger Träger des Max-Zimmerring-Preises für staatsstabilisierende Dichtung, hatte zuletzt anklagend darüber berichtet, dass sämtliche Qualitätsmedien genau wie er selbst erst nach der desaströsen Kandidatendebatte Bidens mit Trump Notiz von der kognitiven Verfassung des Amtsinhabers genommen hätten. Nun nimmt er sich die deutsche Cancel Culture vor: "J.D. Vance kann nur der Anfang sein, lieber Ullstein-Verlag", ist die Satire überschrieben, die dank der Bezahlschranke des früheren Nachrichtenmagazin weitgehend so gelesen wird, wie sie gemeint ist.

Vorurteile beim Publikum

Offenbar kann sich heute kaum noch jemand vorstellen, dass das einstige "Sturmgeschütz der Demokratie" nicht dafür eintritt, sogenannten umstrittenen oder gar missliebigen Autoren die Verträge zu kündigen, ihre Machwerke aus den Regalen zu nehmen und den Nachdruck zu verhindern. Pfister spielt geschickt mit der Erwartung der Nicht-Abonnenten, dass der "Spiegel" Vance' Wandlung vom "Trump-Kritiker und Buchautor zum Trump-Fan und Vizepräsidentschaftskandidaten" nicht ohne einen neuen, kritischen Blick auf sein Buch hinnehmen wird, das seinerzeit "Furore machte" (Spiegel).

Dass es "goldrichtig" gewesen sei, den "Bestseller aus dem Programm zu werfen", mag nicht so gemeint gewesen sein. Doch wenn ein "Spiegel"-Autor, der schon in Horst Seehofers Modellbahnkeller und in Angela Merkels Kopf hat schauen dürfen, lobt, dass "umstrittene Autoren in einem renommierten Verlag nichts zu suchen" hätten, dann erscheint die "Spiegel"-Forderung, dass "dieses Prinzip jetzt konsequent durchgesetzt werden" müsse (Pfister) realistischer als die Vermutung, es könne sich um eine aufrüttelnde Warnung vor dem um sich greifenden "canceln, canceln, canceln" (Spiegel) handeln.

Vor den Schnellgerichten der Faktenchecker

Es zeigt sich hier das Ur-Problem, auf das Hohn, Spott und Satire in den Zeiten der postfaktischen Wahrheitspflicht immer häufiger treffen. Witze wirken angesichts einer immer launiger werdenden Regierungspolitik bierernst. Spaßig gemeinte Parolen werden als Versuche verbotener De-Legitimierung verstanden. Selbst großen Adressen mit einer langen Geschichte staatstragender Ernsthaftigkeit müssen sich immer öfter wegen Verstößen gegen die Bundessatirerichtlinie vor den reisenden Schnellgerichten der Faktenchecker verantworten. 

Ohne Markierungspflicht für Falschgemeintes werden die Behörden dem Trend kaum Einhalt gebieten können. Bundesinnenministerin Nancy Faeser und ihr Kollege, der Justizminister Marco Buschmann, sind gefordert, Verunsicherern wie René Pfister und dem absichtliche irritierenden Treiben von Redaktionen wie dem "Spiegel" das Handwerk zu legen. So lange Satireportale ungehemmt bedauern, dass Verlage manche Bücher verlegen und die von "radikalen Trumpisten" nicht, braucht es vielleicht sogar gemeinsame europäische Lösungen, um der Bedrohung Herr zu werden.

Sonntag, 28. Juli 2024

Strenge Saskia: Daumenschrauben für Palaverplattform

Elon Musks X-Portal gilt in der deutschen Sozialdemokratie als Ursache von Hass und desaströsen Umfrageergebnissen.

Als Saskia Esken die damals noch als Twitter bekannte Hassplattform X verließ, hoffte die SPD-Vorsitzende nicht zuletzt auf einen Vorbildeffekt. Kurz vor der Sozialdemokratin hatten schon SPD-Nachwuchsführer Kevin Kühnert und der grüne Hoffnungsträger Robert Habeck beschlossen, die Tür zu den Digital Natives der Boomer-Generation vernehmlich zuzuschlagen. 

Esken, die selbst vom Fach kommt, hoffte zuversichtlich darauf, dass ihr Beispiel weitere Prominente anregen werde, auf alternative Plattformen wie Mastodon, Bluesky und das in der Entwicklung befindliche öffentlich-rechtliche Rabenportal zu wechseln.  

Enttäuschte Hoffnungen

Doch selbst Genossen wie der sozialdemokratische Influencer Ralf Stegner, der Bundeskanzler und der ZDF-Moderierende Jan Böhmermann weigerten sich. Statt wie Saskia Esken einfach darauf zu verzichten, absurde Fake News über das US-amerikanische Portal zu verbreiten, weiteten sie ihre Online-Aktivitäten auf das chinesische Spionageportal TikTok aus, um dort nach frischen, unverbraucht unkritischen Followern zu fischen. Dort, wo die "Ökonomie von Aufmerksamkeit und Empörung  unsere politische Kultur" (Esken) nicht nur beschädigt, sondern nach Überzeugung von US-Präsident Joe Biden auch die nationale Sicherheit bedroht, fühlen sich Minister, Parteien und Gemeinsinnmedien pudelwohl. 

Grund genug für Saskia Esken, sich noch einmal zur Sache zu melden und erneut zum Kampf gegen X zu rufen. Dort, wo die von Musk eingeführten sogenannten Community Notes binnen kürzester Zeit dafür sorgen, dass falsche Behauptungen, Lügen und manipulierte Zitate auffliegen, sieht die staatliche geprüfte Informatikerin Handlungsbedarf: Die Bundesregierung solle sich von X verabschieden, die EU-Kommission das "Gesetz über digitale Dienste" dazu nutzen, "die Daumenschrauben gegenüber der Plattform anzuziehen", fordert die 62-Jährige. Ziel müsse es sein, "X nicht weiter zu füttern", sondern auf "alternativen Plattformen" zu kommunizieren.

Ende mit Schrecken

Neben Tiktok, das nach Ansicht der US-Regierung zum staatlich kontrollierten Informationsimperium der Regierung in Peking gehört, stünde das vor einem Jahr begeistert gefeierte Bluesky den Ministerien, Institutionen und Parteiformationen offen.  Dort werden womöglich nicht Massen von Menschen erreicht, aber doch Dutzende Gleichgesinnter.

Nicht mehr möglich ist allerdings ein Wechsel zu EU-Voice, einer von der EU initiierten Kommunikationsblase, über die die Kommission drei Jahre lang versucht hatte, einem nicht vorhandenen Publikum von ihren Anstrengungen im Kampf für ein sauberes Netz zu  berichten. Obwohl die Betreiber die seltenen Besucher mit dem Hinweis "diese Beiträge stammen aus dem gesamten sozialen Netzwerk und gewinnen derzeit an Reichweite" zum Bleiben hatten locken wollen, war EU-Voice im Frühjahr plötzlich und unerwartet verstummt.

Saskia Esken aber steht ohnehin für eine Kommunikation der Ansage, die nicht lange diskutiert, sondern "klare Kante" (Gerhard Schröder) zeigt. Dazu braucht es keine Palaverplattformen, auf denen unterschiedliche Ansichten für Verwirrung sorgen. Sondern ein Kommissars-Twitter, überwacht vom Bundesblogampelamt (BBAA) oder einer vergleichbar zuständigen EU-Behörde, die Inhalte nach jeweils aktuellen Selektorenlisten auskämmt. Die scheidende EU-Kommission arbeitet bis zum letzten Tag daran, die Voraussetzungen für ein europäisches X-Verbot zu schaffen: Weil Nutzer auf X verifizierte Accounts gegen Gebühr erwerben können, sieht Brüssel die Gefahr der Irreführung gegeben. Besucher könnten glauben, ein Account sei echt, nur weil sein Besitzer dafür gezahlt habe.

Aufstieg zur dritten Kraft

Auch Esken, die auch nach ihrem Abschied von X offenbar weiterhin häufig und tiefgründig bei X unterwegs ist, sieht die Gefahr. X habe zunehmend "eine Schlagseite zur rechten Plattform für Desinformation", sagt die Parteivorsitzende, die die älteste deutsche Partei auch durch den weitgehenden Verzicht auf Online-Diskussionen über die Parteilinie zur dritten Kraft im Land gemacht hat. Mit einem härteren Vorgehen gegen X und hohen Strafzahlungen könnte es gelingen, den Meinungswildwuchs im Netz einzuhegen und die von ausländischen Akteuren betriebene Einführung unnötiger Innovationen zu bremsen. 

Zuletzt hatte Facebook-Betreiber Meta erklärt, seine KI wegen der europäischen Gesetzgebung nicht in der EU anzubieten. X hat seinen Chatbot Grok nun dennoch aktiviert, allerdings ist die EU-Kommission bereits aufmerksam geworden und nun bestrebt, nach der EU-Gesetz über digitale Dienste (DSA) mögliche Strafen festzulegen. Davon profitieren alle: Das Geld kommt dem Ausbau der EU zum globalen Innovationskontinent zugute. Und den ausländischen Digitalmultis wird die Tätigkeit auf Europas Meinungsfreiheitsmarkt nach und nach wirksam vergällt.

Kamala allmächtig: Die Journalistenkaiserin

Kapitänin Amerika gegen den "vorbestraften Kriminellen".

Kamala Harris Schulz begeistert die Massen. Nicht nur die Demoskopen fragen sich gerade verwundert, warum die Demokraten in den USA die erste schwarze, asiatische, indigene und weibliche Präsidentschaftskandidatin nicht schon viel früher aus dem Hut gezaubert haben. Seit dem Deutschen Martin Schulz, dem die Herzen aus alles Redaktionsstuben ähnlich begeistert zugeflogen waren, war noch nie jemand, den eben noch kaum jemand kannte, so schnell so erfolgreich. Umfragen kippen, Schlagzeilen loben, Wahlausgänge sind nun wieder vollkommen offen.  

Abriss der Brandmauer

Wer hätte das vor einigen Tagen noch gedacht, als Joe Biden als personifizierte Brandmauer gegen die evangelikale Nazi-Rechte des Donald Trump galt. Topfit und vom Alter unbeeindruckt, schickte sich der 81-Jährige an, für four more years den Nutzen der Menschheit zu mehren und Schaden von der Erdbevölkerung abzuwenden. Kamala Harris war im Schatten dieses Giganten eine ungeliebte Unbekannte, die nicht einmal als Notbesetzung infrage kam. Erst als Biden wie Shakespeares Richard II. ein letztes Machtwort sprach und seine Nachfolge in der Tradition der deutschen Staffelstab-Demokratie regelte, entpuppte sich die unauffällige Vize-Präsidentin als echter Glücksfall.  

Erste Befunde deuten inzwischen darauf hin, dass Harris laut erster Umfragen nicht nur Nichtwähler zurückholt, Trump-Zweifler zu überzeugen weiß und die Demokraten hinter sich versammelt, sondern auch dafür sorgt, dass sich die Medien auf den zweiten Blick kollektiv in die eloquente Vertreterin des anderen Amerika verliebt haben. Mit Trump konnten sie nie im Kernland der EU, doch vielleicht war Deutschland am Ende auch ein wenig Biden-müde. 

Innerlich leuchtend

Wie Manna wird Kamala aufgesogen, ihr "inneres Leuchten" (SZ) verzückt Kritiker, ihr bisher einziges und zentrales Wahlversprechen, den US-Bundesstaaten die Entscheidung über die Zulässigkeit von Abtreibungen nicht überlassen zu wollen, gilt als genialischer Kampagnencoup.

Doch das Harris-Phänomen, das in Deutschland noch deutlich größer ausfällt als im Heimatland der mutmaßlichen Kandidatin, lässt sich allein damit nicht vollends erklären. Eine These ist, dass Kamala Harris vor allem bei den Kommentatoren der Qualitätsmedien und Korrespondenten der Gemeinsinnsender außerordentlich gut ankommt. 

Viele der gutbezahlten Reporterinnen und Reporter  tendieren traditionell zu den Linkspopulisten – übrigens in fast allen westlichen Demokratien. Für sie sind Arbeiter die "Unterschicht", Trump-Wählende halten sie für "Pack" und wer das Bestehende ablehnt, weil es sichtlich an die Grenzen seiner Regelwirkung angekommen ist, wird für zu ungebildet und für dumm gehalten, um die Weisheit der anstehenden Reformen erkennen zu können.

Ein Dutzend Vielfaltsmerkmale

Mitleidig und bedauernd schauen die Frauen und Männer aus den Fenstern ihrer Elfenbeintürme nach draußen, wo Normalarbeitnehmer sich mühen, mit Inflation, EU-Regeln und die Regierungsvorgaben für eine angemessene Lebensführung Schritt zu halten. In den Redaktionsstuben, deren Insassen sich einst für Regierungskritik und Institutionenskepsis feierten, gilt heute schon die frühere Tätigkeit Kamala Harris' als Staatsanwältin als Identifikationsangebot. In dieser Jobbeschreibung ist "Staat" enthalten, die Lieblingsvokabel der schreibenden Linken. Das ist unwiderstehlich, zumal Harris zugleich etliche Vielfaltsmerkmale in einer Person vereint. 

Der Hype kommt aus dem Nichts und spült weg, was an Bedenken schlüssig schien. Nach nur einer Woche ist der Kamala-Kult auf einem ersten Höhepunkt angekommen: Nie war Harris so wertvoll wie heute. Ihr wird mittlerweile nicht nur zugetraut, Trump im Vorübergehen zu schlagen, sondern auch Amerika zu heilen, Frieden zu stiften, Russland zu bezwingen, die Wirtschaft in Schwung zu bringen und für Europa wie Deutschland einen Schutzschirm zu spannen, wie es ihn früher gegeben hat.

Popkulturelle Ikone

Coole Bilder der Kandidatin künden von ihrer popkulturellen Kraft, der von ihr viel genutzte Begriff der "reproduktiven Freiheit" erzählt davon, dass sie ihren George Orwell gelesen hat. In den sozialen Medien verbreiten demokratische Trollfabriken Memes und Videos. Die Demokratin, bei der allein schon die verkürzte Nennung der Parteizugehörigkeit unterstellt, dass der Konkurrent kein Demokrat sein kann, ist keine Vize-Präsidentin, die "versagt" und "ihren Ruf ruiniert". 

Sondern Quelle eines "regelrechten Hypes" (ZDF), die an den um den sozialdemokratischen Gottkanzler und Umfragemagier Martin Schulz erinnert. Der flog mit seinem "Schulzzug" einem Ballon ohne Leine gleich, eroberte Titel wie "Arbeiterkaiser" und "Klartext-Mann", er, der Jahrzehnte in der Assiette des Politikbetriebes gekocht und gegart worden war, begriff "die Überheblichkeit der kosmopolitischen Klasse" und zeige, "dass auch jemand ohne Abitur, sogar mit zeitweiligen Alkoholproblemen, ein kluger Mann sein kann".

Mit oder ohne Doktortitel

Man muss keinen Doktortitel haben, um die Gesellschaft voranbringen zu können, wie es Schulz hatte tun wollen. Man kann aber einen haben wie Kamala Harris, die vor allem beim chinesischen Spionageportal TikTok zu knackigen Bässen und KI-Effekten tanzt und grinst. Von Deutschland aus gesehen gilt die Frau aus Kalifornien Harris als "Sozialdemokratin", die die Fankurve am liebsten mit dem bewährten "Genossin Harris, bitte übernehmen!" anfeuern würde. 

Bisher ist es zwar nie gelungen, die gedemütigten kleinen Leute, nicht-verbeamteten Globalisierungsverlierer und rabiaten Träger des Individualismus durch die Beschimpfung als grundlos wütende Masse mit flachem Wahrnehmungshorizont bei der Stange zu halten. Aber wenn eine Medizin nicht wirkt, dann liegt das meist an der Menge.

Samstag, 27. Juli 2024

Zitate zur Zeit: Eine furchtbare, fatalistische Apathie

Churchill gilt bis heute als Kronzeuge für die Zulässigkeit von Islam-Kritik.

Wie schrecklich sind die Flüche, mit denen die Mohammedaner ihre Anhänger belegen! Neben der fanatischen Raserei, die für Menschen so gefährlich ist, wie die Tollwut bei Hunden, gibt es eine furchtbare, fatalistische Apathie. 

Die Folgen sind in vielen Ländern offensichtlich: unbesonnene Angewohnheiten, ein schlampiges landwirtschaftliches System, stagnierender Handel und Unsicherheit des Eigentums gibt es überall dort, wo die Anhänger des Propheten herrschen. Eine unterdrückte Sinnlichkeit nimmt dem Leben seine Anmut, seine Raffinesse und als nächstes seine Würde und seine Heiligkeit. 

 Der Fakt, dass nach Mohammedanischem Recht jede Frau das absolute Eigentum eines Mannes ist, ob als Kind, als Ehefrau oder als Konkubine, verhindert die endgültige Abschaffung der Sklaverei, so lange, bis der islamische Glaube aufgehört hat, eine große Macht über Menschen zu haben. Einzelne Muslime mögen hervorragende Qualitäten besitzen, aber der Einfluss der Religion paralysiert die soziale Entwicklung derjenigen, die ihr folgen.

Es gibt in der Welt keine rückwärtsgewandtere Kraft. Weit entfernt, todgeweiht zu sein, ist der Mohammedanismus ein militanter und proselytenmachender Glaube. Er hat sich bereits über ganz Zentralafrika verbreitet und auf jeder Stufe furchtlose Glaubenskrieger gewonnen; und wenn das Christentum sich nicht in den starken Armen der Wissenschaft befände, eben jener Wissenschaft, gegen die es vergeblich gekämpft hat, könnte Europas Zivilisation fallen, so wie die Zivilisation im alten Rom gefallen ist.

Winston Churchill verstieg sich schon als junger Mann zur Verdammung einer der großen Weltreligionen*. Heute werden seine Vorwürfe häufig als Freibrief missbraucht.


*The River War, London

Die Plus-Pioniere: Siegeszug der Interpretativen Mathemathik

Siegeszug der Interpretativen Mathemathik
Wie die große Rechtschreibreform die Tür zu gefühlten Worten öffnete, soll die Interpretative Mathematik mehr richtige Lösungen bei Gleichungen ermöglichen.

Sie spaltet, sie schafft eine Realität, die dem inneren Wesen des modernen Menschen widerspricht, und sie schließt gezielt Menschen aus, denen sie Plus und Minus gleich viel bedeuten. Lange galt Mathematik als reine Wissenschaft, ein Metier, das sich unbestechlich an Zahlen orientiert. Dass 2 plus 2 22 ergibt, war weltweit Konsens. Nicht einmal diktatorische Regimes in Nordkorea, China, Ungarn oder Russland wagten es, am Verbot von arithmetischen Abweichungen zu rütteln.

Wackelnde globale Übereinkunft

Doch diese globale Übereinkunft wackelt jetzt. Nachdem Bayern und Hessen bereits vor Monaten ein Genderverbot an Schulen und Behörden angekündigt haben -  in anderen Bundesländern gilt es bereits - steht nun auch die Mathematik vor einer bundesweiten Gerechtigkeitswende. Ein Reizthema, das die Politik spät erreicht hat, nun aber hitzig diskutiert wird: Wie streng sollen sich Mathematiker künftig noch ins enge Korsett der vermeintlichen "Wissenschaft" rund um die Zahlen zwängen lassen müssen? Wie viel Interpretationsspielraum soll Arithmetikern beim Umgang mit Ziffern und Formern zugestanden werden?

Der aus dem Brandenburgischen stammende Hobby-Rechner Horst-Heinz Klabusch hat bereits vor Monaten eine Initiative angeschoben, die fordert, aus den Ergebnissen der letzten Pisa-Studien endlich Konsequenzen zu ziehen. Es reiche nicht mehr, mit der gewohnten Symbolpolitik auf den akuten Leistungsverfall bei den nachwachsenden Generationen zu reagieren oder mit viel Geld neue White Boards, Toilettenbecken und Wlan-Netze zu finanzieren. Deutschlands Bildungswesen, so der studierte Agrarökologe, brauche einen Neustart, bei dem vor allem die bei vielen Schülerinnen und Schülern so ungeliebte Mathematik vom Kopf auf die Füße gestellt gehöre.

Konkrete Vorschläge aus Brandenburg

Klabusch hat konkrete Vorschläge gemacht, wie das geschehen könnte. Der 62-Jährige, in vielen Jahren engagierter Berufstätigkeit als Buchhalter in Alltagsmathematik geschult, hat sich nach Feierabend über Jahrzehnte hinweg in einem Kreis von Hobbytüftlern an der Entwicklung einer neuen Algebra beteiligt. Diese Interpretative Mathematik verzichtet auf strenge Vorfestlegungen zu Formeln, Gleichungen und Zahlenwerten, wichtiger als ein vermeintlich "richtiges" Ergebnis ist ihr der moralisch korrekte Weg dorthin. 

Im Zuge der Ausweitung der eines gerechten und rücksichtsvollen Umganges mit wissenschaftlichen Grundlagen in allen Bereichen des täglichen Lebens sei es unumgänglich, neben den bisher gebräuchlichen und akzeptierten Ergebnisse mathematischer Berechnungen auch andere Zahlen als richtige Antworten zuzulassen, glaubt Klabusch. Deutschland als eines der Mutterländer der modernen Mathematik, die auch viel Schaden angerichtet habe, sei verpflichtet, ein Zeichen zu setzen: "Die Interpretative Mathematik gibt uns umfassende Möglichkeiten, dies zu tun", sagt Horst-Heinz Klabusch, der sicher ist, dass die übrigen Welt dem deutschen  Beispiel auch in diesem Bereich bald folgen wird, wenn sich die ersten Erfolge zeigen.

Offenheit für anderes

Es gehe nicht immer um Genauigkeit und exakte Ergebnisse, sondern um Beteiligungschancen und eine Offenheit für arithmetische Überraschungen. Ziel sei es, Ungerechtigkeit in der Mathematik abzubauen, die immer dort auftrete, wo Schülerinnen und Schüler mit dem Dogma konfrontiert werden, dass es nur ein richtiges Ergebnis von Berechnungen gebe. "Das ist eine Kultur der Arroganz, die alternative Ansätze einer eher erlebnisorientierten Mathematik ausschließt." Entschieden wendet sich Klabusch als Sprecher der bundesweiten Initiative Interpretative Mathematik (IIM) gegen den Aberglauben, dass es eine neutrale Arithmetik gibt, die Lösungen unabhängig vom Lösenden erlaube.

"Schon die Vorgabe, dass etwas nur richtig oder falsch sein könne, ist ein typischer Winkelzug weißer Denkungsart", begründet Klabusch die Ablehnung eines Festhaltens an Mathe-Prüfungen, bei denen manche Schülerinnen und Schüler deutlich schlechter ab als andere. Diese von der traditionellen Schulmathematik am schlimmsten betroffenen Schüler müssten nicht mehr unter dem Makel leiden, nicht die vermeintlich objektiv richtigen Antworten geben zu können, wenn ihnen mit der Interpretativen Mathematik Werkzeuge in die Hand gegeben würden, Gleichungen auf ihre Weise zu lösen. "Es muss nicht immer ein einziges Ergebnis korrekt sein", sagt Klabusch und verweist auf Rechenresultate aus der als besonders kompliziert geltenden Quantenmathematik hin. Deren große Stärke sei es, dass Ergebnisse mit vielen Freiheitsgraden akzeptiert werden. "Niemand weiß es genau."

Richtige Lösung muss vor allem gefallen

Diesen Ansatz verfolge auch die Interpretative Mathematik, die darauf setze, dass eine richtige Lösung vor allem eine sein müsse, an die Schülerinnen und Schüler glauben. "In den USA wird das als Ethnomathematik gelehrt, beschreibt Horst-Heinz Klabusch, doch diese Bezeichnung lehne man in der IIM ab. "Uns ist wichtig, dass falsche Antworten auch richtig sein können, doch wir sind nicht überzeugt, dass sich dieses Ziel mit unwissenschaftlichenThesen über Ethnien und womöglich Rassen und verschiedene Religionen  erreichen lässt."

Freitag, 26. Juli 2024

Klimakiller Frankfurter Rundschau: Am Tag mehr Schaden als ein Deutscher in 31.000 Jahren

In Erdöl verpackt und oft als Remittent zurückgeschickt, richtete die Frankfurter Rundschau schon früher an einem Tag mehr Klimaschäden an als ein Durchschnittsdeutscher in siebzig Jahren.

Sie schreibt und kommentiert unter nahezu komplettem Ausschluss der Öffentlichkeit, immer hoch engagiert, aber kaum gehört, ein Rudiment der untergegangenen alten Bundesrepublik, das durch zahlreiche unglückliche Zufälle bis heute überlebt hat wie ein Käfer unter einem Stein. Die Frankfurter Rudnschau war einmal eine Tageszeitung, die aus gewerkschaftsnaher Perspektive auf die Welt schaute, gefangen in Illusionen, aber verglichen mit all den anderen überregionalen Blättern recht nah am Leben von Arbeitern und Angestellte.  

Fischen am linken Rand

Richtig groß wurde die Kleinste unter den bundesweit vertriebenen  Tageszeitungen damit nie, totzukriegen war sie allerdings auch nicht: Erst an einen Rheinländer verkauft, dann an den damals noch streng konservativen Nachbarverlag, landete die FR schließlich bei der Ippen-Gruppe, ein zusätzliches Profitcenter, das am linken Rand des Spektrum Leser und Werbegelder abgreifen soll. Funktioniert hat das nie, stets lief die zusammenschmelzende Redaktion dem Zeitgeist vergebens hinterher.

Je mehr sie sich auch radikalisierte, je weiter weg war sie vom ersehnten Schulterschluss mit den immer wieder hymnisch besungenen sozialen Bewegungen. Je weniger Leser sie erreicht, desto konsequenter setzte sie auf die Beschimpfung derjenigen, die sie nicht lasen. Inhalte werden nach mehreren Entlassungswellen nun überwiegend von der SPD eingekauft. Die Wirklichkeitsinterpretationen von schreibenden Rentnern wie Stephan Hebel, für den Angela Merkel eine  "Hohepriesterin der Heilslehre des Neoliberalismus" war, verteilen sich auf etliche angeschlossene Abspielstationen

Der Wahn als Wirklichkeit

Der Wahn der eigenen bizarren Vorstellungen ist hier Wirklichkeit und auch wenn er sich als Produkt - für den überregionalen Versand in fossile Plastiktüten verpackt - so schlecht verkauft, dass die Frankfurter Rundschau schon seit mehr als einem Jahrzehnt keinerlei Auflagenzahlen mehr meldet, ist der Schaden, den der Betrieb des vormals journalistischen Unternehmen anrichtet, beträchtlich. 350.000 Tonnen CO2 entstehen allein durch die Herstellung der mutmaßlichen Restauflage von 20.000 Exemplaren täglich, das ist die Last, die ein normaler Deutscher in einem etwa 31.000 Jahre langen Leben verursachen würde. 

Viel schlimmer noch als Taylor Swift

Dazu kommt im Fall der FR jedoch auch noch der Umstand, dass das Blättchen eine Internetseite betreibt, die als wahrer "Klimakiller" (FR) fungiert: Mit 20 Millionen Abrufen, wenn auch nicht bekanntgegeben wird in welchem Zeitraum, produziert die Frankfurter Rundschau 230 Tonnen CO2. Das ist dreißigmal mehr als die US-Sängerin Taylor Swift bei ihrem Skandalflug zum Super Bowl anrichtete, der für die FR Anlass war, die Künstlerin wegen ihres großen CO2-Fußabdrucks hart zu kritisieren. Dabei übertrifft doch allein schon der Tagesausstoß an CO2-Ausstoß, den den die FR-Internetseite produziert, die Menge, die 20 Menschen in einem Jahr als Klimaschuld anhäufen.

Kritik am eigenen Tun aber ist aus Frankfurt nicht zu vernehmen. Dort wo harte Einschränkungen zugunsten der Klimarettung immer ein offenes Ohr und einen, wenn auch eingebildeten, Verstärker finden, weil es "eben manchmal wehtun muss" (FR) , herrscht in eigener Klimasache ohrenbetäubendes Schweigen. Noch hat die Frankfurter Rundschau die verheerende Bilanz des eigenen Tuns transparent gemacht, noch nie hat sie Rechenschaft darüber abgelegt, wie viele Bäume sterben müssen, um das Blatt bis ins letzte Dort zu schaffen oder in Kiosken zu hinterlegen, aus denen es zumeist schon am nächsten Tag als unverkauftes Remittentenexemplar zurück zu Absender wandert.

Die Klassenkämpfer: Wer ist diese "politische Klasse"?

Ursprünglich als Bezichtigung von außen aufgebracht, sieht sich die politische Klasse heute selbst und selbstbewusst als solche.

Auf einmal ist sie überall plötzlich ist die Klassengesellschaft zurück. Diesmal klafft der Graben nicht zwischen oben und unten, zwischen Vorstadt und Zentrum, Stadt und Land. Sondern zwischen denen, die sich selbst zu einer neuen gesellschaftlichen Gruppe rechnen, von der weder Grundgesetz noch in Marxens "Kapital"noch nicht die Rede war: Die "politische Klasse" (Deutschlandfunk)  bezeichnet die gesellschaftliche Führungsschicht der Berufspolitiker, eben noch im Ausland, je weiter weg, desto mehr. Nun aber verstärkt auch nicht mehr nur in Ausnahmefällen bezogen auf den "Innenbetrieb des Parteienstaates" (Handelsblatt), die sich trifft, berät und für alle entscheidet.  

Eingerichtet im Parteienprivileg

Diese politische Klasse habe sich "im Parteienprivileg des Grundgesetzes eingerichtet", warnten Kommentatoren schon vor Jahren, als Deutschland noch nicht unter der Last der selbstauferlegten Verantwortung stöhnte. Es ist der Versuch der Umwertung eines Begriffes, den Hetzer, Hasser und Zweifler lange für sich reklamiert hatten, um vermeintlich negative Begleiterscheinungen politischer Professionalisierung zu betonen. 

Dass die neue Nomenklatura der Volksparteien sich aus Kadern rekrutiert, die ihr ganzes Sein, ihre gesellschaftliche Stellung und ihren Lebensunterhalt allein der organisierten Formation verdanken, der sie sich - zumeist in früher Jugend - verschrieben haben, wurde mit dem aus dem Französischen entlehnten Schlagwort kritisiert, um vermeintlich zunehmende Ablösungstendenzen der Eliten zur Delegitimierung machtausübender Menschen zu nutzen.

Okkupierter Begriff

Rechte Parteien, Populisten und rechtsextreme Gruppierungen okkupierten den Begriff, der ein rationales Umgehen mit möglicherweise noch bestehenden Defiziten der Demokratie unmöglich machen soll. Peter Glotz, der große sozialdemokratische Vordenker, hat früh darauf hingewiesen, das eine so formulierte Kritik an der politischen Klasse nur darauf zielt, sie lächerlich zu machen und Denunziation zu ermöglichen, ohne dass sie als solche entschlossen zurückgewiesen werden kann. Berühmt geworden ist die Anklage des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der sich dieses Stilmittels 1994 virtuos bediente: "Die heutige politische Klasse in Deutschland ist gekennzeichnet durch ein Übermaß an Karrierestreben und Wichtigtuerei und durch ein Übermaß an Geilheit, in Talkshows aufzutreten."

Doch zuletzt sickerte der fragwürdige Euphemismus aus den rechten Echokammern in den medialen Mainstream. Ganz selbstverständlich ist die Rede vom "Staat als Beute", von einer politischen Klasse, die die Wähler täusche, und von einer "Kaste" (Die Zeit), die sich zwar "nicht durch Erbfolge", aber durch durch Wahlen fortpflanze: Ein "eigenes Korps mit eigenen Funktionsgesetzen", zusammengesetzt aus den "politisch Herrschenden, den Regierenden, in Deutschland ein paar Tausend Mitglieder, weit überwiegend Männer", so Die Zeit.

Beschimpfung als Selbstbezeichnung

Selbstbewusst sprechen die Bundesminister oder Ministerpräsidenten, Bundesrichter oder hohe Parteifunktionäre, Edelfedern, Spindoktoren, Parteiarbeiter, Aktivisten und hauptberuflich Engagierten inzwischen von sich selbst als der politischen Klasse. Eine Gruppe, die durch soziale, kulturelle und finanzielle Schranken abgeschottet ist von der Bevölkerung als Ganzes. Eine Schicht, die Partei- und Wahlämter wie Wahl- und Parteiämterinhaberbeobachtung als Erwerbsberuf betreibt, am liebsten abgekapselt und nur gelegentlich Nähe als herrschaftliche Gnade verteilend. Die politische Klasse weist sich dadurch aus, dass ihre Mitglieder nicht nur für die Politik, sondern ausschließlich von der Politik lebt. 

Ihr Verhältnis zu Verfassung ist spannend: Einst geschrieben, um die politische Klasse in ihren Handlungsmöglichkeiten einzuschränken, hat die politische Klasse ihre Möglichkeit, die Verfassung  nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, beständig erweitert und immer breiter angelegt. Zuletzt gelang es ihr, die Erststimme bei Bundestagswahlen zu entwerten, um die über parteiintern aufgestellte Listen antretenden Empfänger von Zweistimmen zu begünstigen. Damit wird der innere Zusammenhalt der Klasse der Berufspolitiker gestärkt und die Durchlässigkeit zwischen der Frau und dem Mann auf der Straße und den im Parteiauftrag nach ihrem Gewissen im Parteiauftrag agierenden Politikern und Politikerinnen zu zurückzubauen.

Selbstgemachtes Aushängeschild

Aus der Beschimpfung der vor allem in Berlin verorteten politischen Klasse durch einschlägige Absender aber haben die zusehends selbstbewusster agierenden Klassenangehörigen sich ein Aushängeschild gebaut. Die von den lateinischen Substantiven classis und politicus abgeleitete Bezeichnung für die neue Bevölkerungsgruppe umfasst nicht mehr nur Handelnde im politischen Raum, sondern auch deren protokollführende Begleiter, ihre Berater, Propagandisten und zivilgesellschaftlichen Stichwortgeber. 

Durch diese Ausweitung seiner Bedeutung erst hat der früher als Beschimpfung genutzte Begriff seinen Klassencharakter erhalten. Heute ist er einer der Bausteine der modernen Gesellschaftsbeschreibung: Einerseits ist da die politische Klasse, daneben agiert die zugehörige sogenannte Zivilgesellschaft, dazu gibt es im politischen Selbstgespräch nur noch die schwätzende, hetzende und querdenkende verfassungsfeindliche Opposition. Und sehr viel Bevölkerung mit sehr wenig Verständnis für nichts, der es deshalb fortwährend gilt, die eigenen klugen Entscheidungen noch besser zu erklären.

Neue Dimension von Elite

Seit Klaus von Beyme den vom italienischen Juristen und Politologen Gaetano Mosca (1858 - 1941) in  seinem Buch „Elimenti di scienza politica" (1896) geprägten Begriff der politischen Klasse in einer Untersuchung zur "neuen Dimension der Elitenforschung" auf die mögliche "Ablösungstendenzen" abgeklopft hat, haben Professionalisierung, Karrierisierung und Routinisierung politischer Karrieren eine neue Dimension erreicht. Zählte Helmut Schmidt einst neben den Politikern nur die politischen Journalisten zur politischen Klasse, gehört heute ein weiteres und ungleich breiteres Umfeld aus Aktivismus, Berufsprotest und Behörden dazu. 

So wie die von Karl Marx ausgedachte Gesellschaft ohne ökonomische Klassen ohne Herrschaft auskommen sollte, so kommt die moderne Mediendemokratie nicht ohne die Minderheit der politischen Klasse aus, "die eine Mehrheit beherrscht" (von Beyme), ohne dass diese hierarchische, streng zweigeteilte Gesellschaft mit ihrem Elite-Masse-Gegensatz im öffentlichen Gespräch zu einer Erklärungsnot führt: Die Steuerung der Gesellschaft durch eine Klasse, die über alle ideologische Differenzen hinweg gemeinsame biographische, intellektuelle und funktionale Merkmale teilt, gilt als alternativlos. Dass sich diese politischen Klasse leider, leider, leider aus sich selbst heraus erneuert, als unumgänglich. 

Getrennt vom Alltag

Durch räumliche Erhöhung und durch Sicherheits­kräfte vom Volk getrennt, durch Einkommen und Lebensstil vom Alltag abgeschottet, zeichnen sich die Angehörigen der neuen Klasse dadurch aus, dass ein Hochdienen bis in Ämter mit politische Entscheidungsmacht unumgänglich ist. Spitzenpositionen werden in der Regel nur über bestimmte Laufbahnen erarbeitet, die nur in den politischen Parteien möglich sind. "Sie kanalisieren den politischen Auswahlprozeß nahezu vollständig" (Bernhard Weßels) und stehen nur denen offen, die die Ausdauer mitbringen, ihre Zeit kommen zu lassen. Wem es gelingt, der betreibt Politik als Beruf, er ist Angehöriger eben jener "politischen Klasse",  die in keinem Bereich spezielle Kenntnisse haben muss, zugleich aber für Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Moral, Verteidigung, Zukunft, Deutung der Vergangenheit und Wohlstand verantwortlich ist.

Überfordert, ratlos, um Lösungen verlegen, nie aber um einen neuen Plan für neue Aufgaben, existiert diese Klasse in einem abgekapselten Raum, der kaum mehr einen Austausch mit seiner Umgebung kennt. Die Realität erscheint von innen gesehen als störende Belästigung, die Wirklichkeit als Nebengeräusch, das Zeit raubt, die lieber für interne Richtungskämpfe genutzt werden würde.