Mittwoch, 3. Juli 2024

Welche Haushaltstricks wirklich gegen nervige Grundgesetzbestimmungen helfen

Diese Frage bewegt das politische Berlin: Wie lässt sich das Grundgesetz umgehen, ohne es zu umgehen?

Vor Tagen schon sollte er fertig sein, der Haushaltsplan für das letzte Jahr der Ampelkoalition. Doch nach einer Verschiebung kam die Verschiebung, nach ersten Nachrichten über einen "guten Weg" auf dem man sei, folgten weitere Verzögerungen. Statt Ende Juni wird es nun nicht Anfang Juli, sondern Mitte Juli oder auch später, vielleicht auch gar nicht. Die "entscheidende Woche" (Handelsblatt) ist jedenfalls auch schon halb rum. Um den Druck zu erhöhen, bereitet sich die Union schon demonstrativ auf vorgezogene Neuwahlen vor.

Verteilungskämpfe ohne Ende

Es geht um Milliarden, um harte Einsparungen durch höhere Einnahmen oder umgekehrt, um Verteilungskämpfe zwischen denen, die mehr Soziales wagen, und denen, die lieber an künftige Generationen denken und alles erst erarbeiten wollen, ehe es ausgegeben wird. Mehr Geld wird es nicht werden, eher mehr Geld, das fehlt. Um aber alle Ambitionen unbeschadet zu lassen, braucht es eine Einigung wenigstens für den Moment.

Doch welche cleveren Haushaltstricks helfen wirklich gegen nervige Etatlöcher? Was für effektive Abwehrmethoden hat der Finanzminister gegen Ansprüche, die auch nach einer Steigerung der Ausgaben des Bundes von 276 Milliarden Euro auf 476 Milliarden Euro innerhalb von nur zehn Jahren über zu wenig Geld und zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten für echte Fortschrittspolitik klagen? Und welche Möglichkeiten haben die, unter Verweis auf die enorm gestiegenen Ausgaben für alles darauf verweisen, dass es mehr braucht als nur ein paar Milliarden mehr, ihre Vision von einem Staat umzusetzen, der überall allen alles gibt, bis jeder genug hat?

Ausufern der Schuldenlast

Immer wieder ist es die Schuldenbremse, die in den Blickpunkt rückt. Vor 16 Jahren unter begeistertem Beifall von der Großen Koalition beschlossen, gilt die Idee der SPD nicht mehr als sehr guter Weg, "ein Ausufern der Schuldenlast" (Spiegel) zu verhindern. Leider steht die Vorschrift dennoch im Grundgesetz und muss somit zumindest der Form nach beachtet werden - das GG gilt hierzulande anders als die nur völkerrechtlich verbindlichen Maastricht-Kriterien, auf denen die Wertegemeinschaft EU fußt, als schwieriger Gegner. Es lässt sich zwar zeitweise ignorieren, weiträumig umgehen und sogar straflos brechen. Gewinnt aber am Ende irgendwann doch.

Ein probates Mittel, um lästige Vorschriften herumzulavieren, hat Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Einfall Russlands in der Ukraine beherzt ergriffen. Das Sondervermögen für die Bundeswehr, das er Anfang 2022 im Bundestag verkündete, ist ein 100 Milliarden Euro hoher Schuldenberg, der nicht existiert. Er befindet sich außerhalb von Raum und Zeit und verletzt die Schuldenbremse nicht - ganz im Gegensatz zum Geld in der Bundesklimakasse, die vom Bundesverfassungsgericht konfisziert wurde.

Vierfach-X muss mindestens

Viele kleine oder ein XXXXL-Sondervermögen für alles zu schaffen, wäre ein Weg gewesen, alles zu bezahlen, ohne dass die Ausgaben im Kassenbuch auftauchen. Doch diese Chance hat sich die Ampel verbaut, weil die einen es aller Nase lang forderten, um Tatkraft zu beweisen. Und die anderen es ablehnten, um Prinzipientreue zu zeigen.

Das kleine, noch weit höher als der Bund verschuldete Bundesland Sachsen-Anhalt allerdings hat eine Methode ausbaldowert, sich ein Sondervermögen zu verschaffen, ohne dass die dazu aufgenommenen Kredite als Schulden gelten. Dazu hat die Landesregierung einen Kredit aufgenommen, diesen aber an die landeseigene Immobilien- und Projektmanagementgesellschaft Sachsen-Anhalt (IPS) weitergereicht. 

Fiktion der Investition

Die eigens gegründete GmbH führt die Einnahme als Verbindlichkeit und nutzt sie etwa zum Neubau einer Uniklinik für etwas mehr als eine Milliarde. Die Landesregierung aber muss die Schulden nicht als Minus im Kassenbuch verbuchen, weil die Uniklinik, wenn sie eines Tages fertig ist, Miete an die IPS zahlen wird und die Milliarde so wieder eingespielt wird. Zumindest, wenn es der Uniklinik gelingt, dann erstmals mit einem positiven Betriebsergebnis zu wirtschaften.

Eine Milliarde würde dem Bund nichts nützen. Diese Summe wäre nur Kleingeld, das allein durch seine Verteilung verbraucht würde. 160 bis mindestens 1.600 Milliarden Euro hatte Bundesklimawirtschaftsminister Robert Habeck deshalb ins Spiel gebracht - doch die Höhe der Summe spielt bei der Umsetzung des Sachsen-Anhalt-Modells im Grunde auch gar keine Rolle. 

Vorbild Grenzlager

Egal, um welches Volumen es geht, wichtig ist nur, dass die Kreditaufnahme und -weitergabe mit der Fiktion einer späteren Rückzahlung aus Einnahmen verbunden würde. Die von der EU geplanten Asyllager an den Außengrenzen liefern hier eine passgenaue Lösung: Ihre Insassen werden irgendwann unter dem geheimnisumwitterten Status "legal fiction of non-entry" geführt werden. Sie halten sich dann in der EU auf, ohne in der EU zu sein.

Ein Muster, das sich durch die Schaffung einer von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) bereits vorgeschlagenen Klassifizierung einer "Legal fiction of non-indebtedness" problemlos auf das leidige Gebiet der Staatsverschuldung übertragen lassen würde. Jeder zusätzliche Schuldeneuro wäre ein Euro an zusätzlichen Volksvermögen, wenn auch nicht sofort, sondern zu einem - möglicherweise sehr weit - in der Zukunft liegenden Zeitpunkt.

Deckelschere: Großer Schnitt für die Menschheit

Zu jeder Flasche mit festem Deckel müssen Hersteller nach der Neufassung der Einwegkunststoffrichtlinie  2019/904N künftig eine sogenannte Deckelschere mitliefern, die das Lösen des Deckels ermöglicht.


Es ist eine dieser EU-Änderungen, die erst nicht beachtet werden, weil der Termin für ihre Umsetzung noch weit in der Zukunft liegt. Dann aber sind sie da und sie sorgen für riesiges Erstaunen, ja, teilweise für Entsetzen. Nicht immer ist es die Größe einer über die unzähligen Richtlinien oder Verordnungen vorgeschriebenen Neuerung, die Menschen zweifeln und verzweifeln lässt. Oft geht es gerade um Kleinigkeiten, winzige Verbesserung des Zusammenlebens und notwendige Eingriffe ins Privatleben, die übergriffig, anmaßend und unnötig empfunden werden.  

Besser erklären, Menschen mitnehmen

Noch besser erklären, heißt es dann. Um Verständnis dafür werben, warum es nicht nur gut gemeint, sondern auch sehr gut gemacht ist. Und kein Wasser auf die Mühlen derjenigen leiten, die den erwartbaren ersten Widerstand mancher Mitmenschen ausnutzen, wollen, um Stimmung gegen Staat, Partei, Regierung und EU-Kommission zu machen. Die Leute, das ist bekannt, wollen nur spalten. Sie wollen ein Deutschland zurück, das es nicht mehr gibt, ein Deutschland, das zurecht untergegangen ist.

Über Jahre hinweg hieß es in solchen Augenblicken standhalten, gerade bleiben, denen nicht nachgaben, die nur bemüht sind, alles infragezustellen und an allem herumzunörgeln. Die EU, die seit 70 oder mehr Jahren für Frieden in Europa sorgt, ist schon lange selbstbewusst genug, sich von denen, die im Tross immer hinten laufen und das Ziel anzweifelt, von der Durchführung von Fortschritt abhalten zu lassen.

Gemeinschaft streckt die Hände aus

Doch wenn nun in wenigen Tagen eine Innovation ins Leben von 460 Millionen Europäern tritt, die schon seit Monaten in einer Eingewöhnungsphase ausprobiert werden konnte, dann streckt die Gemeinschaft ihre Hände aus: Statt die harte Konfrontation mit den Meckerern, Quertreibern und Wutbürgern zu suchen, geht die Gemeinschaft bei der Umsetzung der auch als  Einwegkunststoffrichtlinie bekannt gewordenen EU-Richtlinie 2019/904 "über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt (Text von Bedeutung für den EWR)" einen anderen Weg.

Zugewandt, respektvoll, mit viel Verständnis für Sorgen, Nöte und Bedenken, so sieht sie aus, die Strategie, mit der die nach inständigen Mahnungen des deutschen Bundespräsidenten vor "riesigen Plastikinseln, die inzwischen im Meer schwimmen" (Walter Steinmeier) im Juni vor fünf Jahren verabschiedete Verfügung popularisiert werden soll, nach der EU-Schraubdeckel auch nach Öffnung fest mit der Flasche verbunden bleiben müssen. 

Vorschlag des Bundespräsidenten

Um die Umweltverschmutzung zu reduzieren, wird das ab dem 3. Juli Pflicht in der weltgrößten Staatengemeinschaft. Lose Verschlusskappen, die Flüsse verstopfen und nach Erkenntnissen von Walter Steinmeier drohten, dass "bis 2050 womöglich mehr Plastik als Fisch in den Ozeanen" schwimmt, sind dann verboten. An Flaschen "aus Kunststoff oder teilweise aus Kunststoff, wie Saftkartons oder Einweg-PET-Flaschen, mit einem Volumen von bis zu drei Litern" müssen nunmehr "Tethered Caps", zu Deutsch "Lippenkratzer", angebracht werden, die sich nicht entfernen lassen. Damit wollen EU-Kommission, EU-Rat und EU-Parlament all denen den Wind aus den Segeln nehmen, die ihre Flaschendeckel bisher traditionell in Feld, Wald und Flur geworfen haben, als gebe es eine zweite oder sogar dritte Erde und nicht nur diese eine einzige.

Der Aufschrei der traditionalistischen Kreise von Müllsündern und Deckelterroristen war groß. Obwohl  das Fachportal "Wissenschaften.de" die sogenannten "Lass-mich-dran"-Deckel bereits im vergangenen Jahr zu einem der "Meilensteine des Jahres" gekürt hatte - damit ehren die Forscher die jeweils kühnsten Innovationen, die Forschende und Forscher für die Menschheit erreicht haben - hielt der Widerstand an. "Ich finde die neuen Coca-Cola Deckel beim Trinken unkomfortabel, hätte es keine Alternative gegeben?", quengeln Ewiggestrige. Selbst die beruhigenden Hinweise teilstaatlicher Werbeportale, dass es sich nur "um eine Hilfestellung" für Minderbemittelte und Stockdämliche handele, also mithin für alle Menschen, verfing kaum. 

Ernstgenommene Bedenken

Mehr als 75 Prozent der Bürgerinnen und Bürger lehnen die neuen betreuten Verschlüsse ab. Von "Deckelfaschismus" ist die Rede, im Internet zeigen sich Deckelgegner beim gewaltsamen Anreißen der Tethered Caps, andere betonen, dass sie nun erstmals im Leben jeden einzelnen Deckel gezielt in die Landschaft oder ein nahes Gewässer würfen, um gegen die Beschränkung ihrer Freiheit beim Trinken zu protestieren. Zum ersten Mal regt sich da beinharten Widerstand. Selbst der beruhigende Zuspruch von Ämtern, Leitmedien und Herstellern, dass Menschen sich in der Vergangenheit doch auch an noch viel bizarrere Vorschriften gewöhnt hätten, sorgte nur für Hohn, nicht aber für dankbare Gefolgschaft.

Darauf hat nun die EU reagiert - ungewöhnlich schnell für die legendär langwierigen Entscheidungsprozesse, nach dem Desaster der EU-Wahl von Anfang des Monats aber wohl auch einer gewissen Not gehorchend. Mit einer Änderung der EU-Richtlinie 2019/904 (Neufassung) reagiert die Gemeinschaft auf die Bedenken.

Zwar bleibt es danach bei der gefundenen innovativen Lösung für verbundene Verschlüsse. Diese sogenannten "Scharnier-Deckel" hatten Verbraucherinnen und Verbraucher in umfangreichen Tests als beste aller schlechten Ideen gelobt. Doch zu jeder Flasche mit dem neuen Deckel müssen Getränkehersteller jetzt Schere liefern, mit der sich der Tethered Cap umstandslos und ohne körperliche Anstrengung von der Flasche lösen lässt.

Gerechte Lösung der Flaschenfrage

Man nehme damit Rücksicht auf Bedenken Älterer, Jüngerer, körperlich Schwächerer und vulnerabler Gruppen, die es allein mit Muskelkraft oft nicht schafften, den Deckel von der Flasche zu ziehen, heißt es in Brüssel. Auch im politischen Berlin reklamieren die Ampelparteien die Neuregelung für sich: Die Deckelschere sei ein "großer Schnitt für die Menschheit", heißt es aus der SPD-Parteizentrale, die angibt "Dampf gemacht" zu haben für eine gerechte Neulösung der Flaschenfrage. 

Was nun fehlt, ist Akzeptanz und Mitarbeit. "Vielen Menschen ist noch gar nicht klar, was dahinter steckt", wirbt der US-Konzern Coca Cola um eine Bereitschaft zur Umgewöhnung. "Das dauert, aber es wird das neue Normal werden."  Die aktuelle Diskussion erinnere an die zähe Diskussion um die Lieferung schwerer Waffen an die Ostfront, an Einsatzverbote für deutsche Raketen auf russischem Boden und die großen Demonstrationen gegen Remigration. 

Jetzt, wo die Regierung die Erlaubnis zum offensiven Einsatz deutscher Hilfen gegeben hat und die Bundesinnenministerin selbst weitreichende Ausweisungen schon bei geringen Anlässen plant, so heißt es im neuen EU-Flaschendeckelamt (EU-FDA), das künftig Festverschlüsse und Scherenpflicht kontrolliert, "redet kein Mensch mehr darüber."

Dienstag, 2. Juli 2024

Grüne Strategie: Ohne Moos nichts los

Der Hass ihrer Gegner ist riesig, doch die grüne Chefstrategin Annalena Baerbock (r.) zeigt beharrlich, dass sie bereit ist, Zeichen für die zu setzen, die ein ganz normales Leben führen.

Auch Wochen danach grummelt es noch im Bauch der Grünen, die zum dritten Mal auf dem Weg waren, eine echte Volkspartei zu werden und unversehens doch wieder den Boden der Tatsachen küssen mussten. Enttäuschende Ergebnisse. Der Abfall ganzer Bevölkerungsschichten. Der Osten verloren. Die Zahl der Hochburgen im Westen, wo die Bionadeviertel des progressiven Berufsbeamtentum uneinnehmbare Festungen des Fortschritts zu sein schienen, beängstigend geschrumpft.  

Der grüne Zwerg

Eine Katastrophe. Wie der grüne Riese Hulk, der sich im Handumdrehen aufbläst, aber wenig später noch schneller zu einem bedauernswerten kleinen Männchen in zerlumpten Hosen schrumpft, liegen den Grünen seit jenem 9. Juni danieder. Geschlagen. Ungeliebt. "Gehasst", wie sie es selbst nennen.

Wie vor zehn Jahren, als eine üble Kampagne der Rechten ihnen den Suppenteller mit der Idee zum wöchentlichen "Veggie-day" für alle ins Gesicht gedrückt hatte und angehende Ministerinnen wie Renate Künast ihren Traumjob wegen eines "wunderbaren Tages zum Ausprobieren, wie wir uns mal ohne Fleisch und Wurst ernähren" verloren, brachte auch der EU-Wahltag wieder eine bedeutsame Kollision der Parteitagsstrategen mit der "Wirklichkeit", die selbst Bundeswirtschaftsklimaminister Robert Habeck "umzingelt", wie er selbst sagt.

Noch nicht bereit

Die Menschen sind noch nicht so weit. Sie sind noch nicht bereit. Sie sträuben sich, wenn man sie zu hart anfasst. Doch ist man nicht streng genug, dann tanzen sie einem auf den vielen schönen neuen Vorschriften herum. Wie man es macht, macht man es falsch. Nie lieben eine alle, oft nicht mal die meisten. 

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat jetzt in einem Interview mit der ihr bekanntermaßen in tiefer Zuneigung verbundenen Süddeutschen Zeitung Klartext gesprochen. Ohne ausreichend Geld, um überall dort, wo Bürgerinnen und Bürger durch die grüne Transformation Wohlstandsverluste erlitten, Ausgleichszahlungen zu leisten, werde der Weg in Kanzleramt schwer, sagte die Ministerin, die bekannt dafür ist, kein Tabu zu scheuen.

Mehr Geld rettet alles

Für PPQ hat Gebärdendolmetscherin Frauke Hahnwech die politisch verschlüsselten Erkenntnisse der 43-Jährigen ins Deutsche übersetzt. Hahnwech, die im sächsischen Bitterfeld praktiziert und als intime Kennerin der Berliner Bühne schon wegweisende EU-Papiere etwa zur "Just-Transition-Strategy" decodiert hat, erkennt bei Baerbock eine "starke Fixierung auf das Geld", wie sie sagt. 

Wenn die Grüne fordere, dass ihre Partei künftig "soziale Fragen stärker beachten" müsse, heiße das in der Übersetzung aus dem Politischen, dass die Außenministerin mehr Geld für konsumtive Zwecke verlange, um Umstellungsschmerzen im Transformationsprozess mit Entschädigungszahlungen des Staates zu mildern. "Dieser Verweis auf die soziale Komponente ist klassisch", sagt Hahnwech, "übersetzt bedeutet das immer, man will Geld in die Hand nehmen."

Strategin der Grünen

Annalena Baerbock, die als einer der großen Strateginnen der Grünen gilt, sei jedoch in der Lage, diesbezüglich keine "dumpfe Trompete zu blasen, sondern eine leise Flöte", wie Hahnwech unumwunden lobt. Ein Satz wie "Sicherheit ist die Frage unserer Zeit – und zwar in jeglicher Hinsicht, gerade auch die gefühlte und die materielle Sicherheit", sei von vielen Politikern vorstellbar, dich nur wenige seien in der Lage, ihn so zu sagen, dass es nicht klinge wie eine Korrektur der früheren Festlegung, dass die "sicherheitspolitischen Frage unserer Zeit die Klimakrise" sei

Die eigentliche Botschaft liege darin, den alten Satz "ohne Moos nichts los" abzuwandeln. "Baerbock sagt, Geld regiert nicht nur die Welt, Geld braucht es auch, um den Energieausstieg, die Wohlstandsbremse und die Umstellung auf nachhaltiges CO₂ zu organisieren."

Nonchalant nehme Baerbock bei der Begründung, warum das bisher nicht geklappt habe, das sogenannte Partei-Wir zu Hilfe, um Robert Habeck, ihren Konkurrenten um den Kanzlerkandidatentitel, in den Senkel zu stellen: "Wir als Bundesregierung und auch als Grüne haben die Frage der sozialen Absicherung zu Beginn nicht ausreichend thematisiert", sagt sie. "Sie schafft es so tatsächlich, beim arglosen Leser den Eindruck zu erwecken, als sei das mittlerweile geschehen", lobt Frauke Hahnwech.

Schuld sind die anderen

Bei Baerbock liege alles weit, weit zurück und schuld seien immer die anderen. Gezielt verweist die Wahlverliererin von 2021 auf das "Gebäudeenergiegesetz aus dem Ministerium von Klimaminister Robert Habeck", bei dem es lange gelungen sei, die Menschen im Unklaren zu lassen, "was das alles für sie konkret heißt". Doch noch ehe das Gesetz beschlossen werden konnte, kam es dann doch heraus. "Viele erinnern sich, wie hektisch danach versucht wurde, wieder Ruhe ins Schiff zu bringen." 

Ein Staatssekretär wurde geopfert, der Zeitplan der Heizungswende so gestreckt, dass alle Regelungen zur Umbaupflicht erst inkrafttreten, wenn niemand mehr damit rechnet. Frauke Hahnwech hatte die Strategie der Langen Bank damals über die Maßen gelobt. "Man muss wissen, wann kein guter Tag zum Sterben ist." Über die Erfindung einer "kommunalen Wärmeplanung", die notwendig sei, um eines Tages zu wissen, wer künftig welche Art von Heizung betreiben dürfe, sei es damals gelungen, die Vertagung der Umbaupflicht als endgültige Beerdigung auszugeben. "Und Annalena Baerbock hat es dabei sogar geschafft, sich als Stimme des Volkes zu inszenieren."

Die Tür bleibt offen

Obwohl Robert Habeck bei den Grünen als Favorit für den Posten des grünen Verlierers im Rennen um das Kanzleramt gilt, habe Baerbock sich mit dem klug platzierten Interview eine Tür offengehalten. "Dass die SZ mit ihr spricht, zeigt auch nach außen, dass sie trotz ihrer Betrugsaffäre rund um das Buch, trotz ihrer hohen Betreuungsrechnungen und trotz der vielen Patzer auf der internationalen Bühne weiterhin eine Hausmacht bei den Medien hat." 

Als Taktikerin zeige sich die Außenministerin im übrigen auch beim Feilen und Schleifen an den verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Grenzen der politischen Gestaltungsräume. "Sie wettert nicht direkt gegen die Vermeidung von Schulden über das ja bereits längst überschrittene grundgesetzliche gestattete Maß hinaus, aber sie stellt dem Verfassungsgebot, künftigen Generationen keine untragbaren Lasten zu hinterlassen, geschickt das Argument entgegen, dass Knausrigkeit und Sparsamkeit den Frieden am meisten bedrohen. "Es wäre fatal, in ein paar Jahren sagen zu müssen: Wir haben die Schuldenbremse gerettet, aber dafür die Ukraine und die europäische Friedensordnung verloren", findet Baerbock.

Mutig an den Stammtisch

Für Frauke Hahnwech ein klares Zeichen dafür, dass die anfangs unsicher, aber selbstverliebt auftretende Politikerin gelernt habe, Dinge ganz selbstverständlich miteinander zu vermischen, die nichts miteinander zu tun haben. "Wenn sie etwa sagt, die Ampelregierung dürfe nicht scheitern, weil das der größte Gefallen sei, den wir den Feinden der liberalen Demokratie im In- und Ausland tun könnten, dann setzt sie klare Prioritäten: Lieber schlecht regieren als gar nicht." 

Baerbock inszeniere das zudem mit einer gewissen Portion Deftigkeit: "Ihre Formulierung von ,unserem verdammten Job als Regierung', die ,auch in schwierigen Zeiten Probleme miteinander zu lösen' hat, ist wie ihre vielen Bildern aus Fußballstadien vor allem als Zeichen für die gedacht, die sich wünschen, dass Politiker nicht so abgehoben vom normalen Leben regieren.

Flucht der Verbündeten: Verrat am Präsidenten

Gehässige Häme: Nachdem Joe Biden wegen eines ungünstig gelegten Termins schwächelte, fallen sämtliche verbündeten Medien über ihn her.

Der Mann war sichtlich bei bester Gesundheit. Beschwingt stieg Joe Biden die hinab, leichtfüßig und für einen Mann, der schon zu Zeiten des Vietnamkrieges Politik gemacht hat, beneidenswert junggeblieben. Zeitgenossen wie der ewige EU-Politiker Elmar Brok oder der CDU-Strippenzieher Wolfgang Schäuble mussten die Bühne räumen. Biden aber gelang im Greisenalter der Aufstieg zum mächtigsten Mann der Welt - ruhig, aber mit großer Dynamik kam er seinen Aufgaben nach. Ein Garant der Sicherheit der ganzen Menschheit, dem seine Gegner immer wieder zu schaden versuchten, indem sie Zweifel an seiner Vitalität zu wecken bestrebt waren.

Der fitte alte weiße Mann

Über lange Zeit vergebens. Wie ein Mann warfen sich die demokratischen Medien vor den ganz alten weißen Mann im Weißen Haus. Sobald dessen Gesundheit "Gegenstand von Diskussionen" (Die Welt) wurde, schlossen sich die Reihen: Videos, auf denen Biden "altersschwach und erratisch" wirke, seien "mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz manipuliert wurden. "Künstliche Intelligenz" muss heute in jedem Fake News-Vorwurf vorkommen, sonst gilt er nicht.

Hier aber half selbst das nicht. Dass die verfeindeten Republikaner "mit gekürzten und zurechtgeschnittenen Bildern den Eindruck erwecken" wollten, Biden sei alt, krank und nicht mehr in jedem Moment Herr seiner Sinne, überzeugte allenfalls die Redaktionen, nicht aber deren Publikum. Biden ist doch alt, sichtlich krank und auch nicht immer Herr seiner Sinne, blieben viele Skeptiker vorsichtig. Die Klarstellungen des Weißen Hauses zu "Trump-Kampagne mit allen Mitteln" schwenkte um: Nun waren es cheap fakes, die in einer Welle von Klarstellungsartikeln als Erklärung für das bedauernswerte Bild herangezogen wurden, das der mächtigste Mann der Welt abgab.

Was wahr war

Was man sehen konnte, war nicht wahr. Was wahr war, konnte keiner sehen: Joe Biden ist ein quecksilberiger Hecht im Karpfenteich, vibrierend vor innerer Energie und in seinem Tatendrang kaum zu bremsen. Auf seine Medien in Deutschland konnte sich der US-Präsident verlassen. Zwar hat deren Kampf gegen den Herausforderer Donald Trump nie wieder die manische Dringlichkeit der Jahre vor dessen erster Wahl erreicht. Damals prangte ein warnendes Bild des Demiurgen auf jedem zweiten Titelbild, die Deutschen wurde kriegstüchtig gemacht für Jahre unter der Knute eines Mannes, der Europa an den Kreml verkaufen, die Erderwärmung verdoppeln und alle wohlmeinenden Menschen einsperren würde. 

Doch die Verteidigung, sie stand, zumindest bis eben noch. Die Doemens und Schulers, Hautkapps und Simons kämpften einen Kampf, an dem der Kandidat schon lange nicht mehr teilnahm. Zwar wurde der Zorn der Verkünder der schrecklichen Botschaft der Wiederkehr des Weltenfressers allenfalls noch pflichtschuldig vermittelt. Die routinierte Empörung über jeden Halbsatz aus Trumps Mund war lau, die Frequenz der Aufrüttelungsversuche kommt nicht einmal in die Nähe der Brinkbäumer-Jahre beim "Spiegel", als "Nachricht" ein anderes Wort "was hat Trump gestern gesagt" geworden war.

Scheideweg TV-Duell

Das TV-Duell zwischen den beiden alten weißen Männern in der vergangenen Woche nun hat aber offenbar selbst die, die im Glauben fest waren, abfallen lassen. Nach Bidens verunglücktem Auftritt fand sich kein einziger Faktenchecker, um die wirklich wahre Wahrheit klarzustellen. Niemand bewies, dass Biden eine gute Figur gemacht und "alle Fragen beantwortet" (Jill Biden) hatte, ohne umzufallen, in eine seiner Erstarrungsposen zu verschwinden oder die große Sonnenbrillengeste zu machen, die immer kommt, wenn das System Biden neu gestartet werden muss.

Statt nachzuweisen, dass der Kreml Biden gelähmt und Trump ihn gefälscht hat, die Republikaner ihn von einem Voodoozauberer verhexen ließen und der Sender CNN seiner Verantwortung nicht gerecht wurde, dem amerikanischen Präsidenten aus der Bredouille zu helfen, knickten die Gefolgsleute des Präsidenten in Legionen ein. 

Nie sei Trump dem Wahlsieg näher gewesen, analysierte die "Tagesschau", aus den Hinterbänken im Bundestag kamen gute Ratschläge, wie sich mit ein paar Tricks ein neuer Kandidat aus dem Hut zaubern ließe und selbst die wohlwollenden Adressen, die nie wagen würden, ihren Favoriten selbst infrage zu stellen, zitierten verwegen "Ist Biden noch tragbar?"

Abfall der Verbündeten

Ein trauriges Ende einer Präsidentschaft, die aus deutscher Mediensicht direkt an die fantastischen Obama-Jahre anknüpfte. Nun brauchen die eigenen Leute in Washington einen "Notfallplan" (RND), selbst die während ihrer gesamten Amtszeit weitgehend unsichtbare Vizepräsidentin soll ihm nun am liebsten "gefährlich werden" und die "Faktenchecks" zu Trumps Lügen werden nur noch leidenschaftslos zusammengeschoben. 

Biden versucht es weiter, doch die meisten Verbündeten haben ihn aufgegeben. "Zeit für den Ruhestand" hetzt es hier. "Ist Joe Biden am Ende" fragt es dort. Die Ratlosigkeit ist mit Händen zu greifen, denn niemand hat eine Vorstellung, wie es nach der "historischen Tragödie im November" (Marie-Agnes Strack-Zimmermann) weitergehen soll. 

Unser Mann im Weißen Haus

Dass unser Mann im weißen Haus "der Welt einen Gefallen tun und abtreten" soll, um einem "verurteilten Verbrecher" (Stern) den Weg freizumachen, weil alle demokratischen Ersatzkandidaten noch schlechtere Umfragewerte haben als der amtierende Kandidat auf die demokratische Spitzenkandidatur, ist vor einigen Tagen noch die Forderung von Leuten gewesen, die Bidens Versuche, sich auf einen Stuhl zu setzen, den es nicht gab, für den Beweis seiner Vergeistigung hielten. Nun blühen entsprechende Verschwörungstheorien dort am buntesten, wo der Präsident als sichere Bank für four more years gilt.

Aufnahmen, "die angeblich den geistigen und körperlichen Verfall von Biden" zeigten, haben sich in bare Münze verwandelt.

Montag, 1. Juli 2024

EU: Das Reich der Menschen, umgeben von Feinden

Paris, Traumziel so vieler Deutscher und beliebtes Fotomotiv von Spitzenpolitikern aus Berlin, droht in diesen Schicksalstagen an die Falschen zu fallen.
 

Hört meine Worte, und bezeugt meinen Eid. Die Nacht zieht auf und meine Wacht beginnt. Sie soll nicht enden vor meinem Tod. Ich will mir keine Frau nehmen, kein Land besitzen, keine Kinder zeugen. Ich will keine Kronen tragen und keinen Ruhm begehren. Ich will auf meinem Posten leben und sterben. Ich bin das Schwert in der Dunkelheit. Ich bin der Wächter auf den Mauern. Ich bin der Schild, der die Reiche der Menschen schützt. Ich widme mein Leben und meine Ehre der Nachtwache, in dieser Nacht und in allen Nächten, die kommen. 

Eid der Nachtwache  

Die Reiche der Menschen, sie sind wieder einmal bedroht, akut bedroht. Im Süden sind die italienischen Postfaschisten aktiv, in Österreich reckt ein Rechtsradikaler sein Haupt. Ungarn ist schon länger verloren, Polen gerade zurückerobert, aber noch nicht für immer gesichert. 

Im Norden sind Zweifel an Schweden angebracht, in den Niederlanden ist es tödlich still, nachdem die Demokratie auch dort in die Hände ihrer Feinde gefallen ist. Kein Laut dringt aus dem Land, seit es sich auf "radikal-rechten Kurs" (Der Stern) gemacht hat. Und nun versammeln sie sich auch noch hinter dem längst geschleiften Westwall, die französischen Faschisten, eben noch gute Freunde der gemeinsamen Werte und mit einem Schlag im Anmarsch, 75 oder mehr Jahre europäischer Friedensordnung in den Staub zu treten.

Nur noch Freunde am Rand

Deutschland, die größte Nation unter den 27 gleichen im gemeinsamen Europa, sie steht auf einmal wieder fast allein. Stürzt bald auch noch Amerika, steht Deutschland wie vor 80 Jahren allein im kalten Wind der Wirklichkeit, "die uns umzingelt" (Robert Habeck). Ein paar Mächte am Rand halten zur Stange. Spanien, Portugal, Griechenland, sie geben die Stellung nicht auf wie manch langjähriger Weggefährte, der die Nerven verliert und sich in eine bequemere Anschlussverwendung geflüchtet hat. Noch. Aber das Ende ist bekannt.

Die Signale sind nicht zu übersehen. Die Gegner von Fortschritt, Green Deal, Verbrennerverbot und Willkommenskultur, sie sammeln sich. Sie sammeln sich zum Sturm auf die Institutionen, die seit den ersten Montan-Verträgen den Weg zu immer mehr Europa geebnet und Kurs auf die Vereinigten Staaten von Europa gesetzt hatten. Frankreich kippt. Die Achse Berlin-Paris, unter dem Duo Olaf Scholz und Emmanuel Macron ein rostiges Stück Alteisen, sie quietscht und knirscht und sie kann jeden Moment brechen. Und der Rest Europas droht mitzufallen: Halb zog es ihn, halb sank er hin. 

Zeichen setzen

Während die wenigen verbliebenen Aktivisten der großen Remigrationsdemonstrationen vom Jahresanfang nach Westen pilgern, um Zeichen zu setzen, bröckeln die Brandmauern ringsum. Mit letzter Kraft und gewieften Tricks nur konnten sich die Staatenlenker der Gemeinschaft nach dem Debakel der EU-Wahl noch einmal auf ein Weiterso unter der deutschen Kommissionschefin Ursula von der Leyen einigen. Schon dazu aber musste alles, was von der demokratischen Mitte übrig war, ohne Rücksicht auf das eigene Ansehen oder kommende Wahlen gemeinsame Sache machen. 

Die erste Runde der Parlamentswahlen in Frankreich nährt allerdings ernsthafte Zweifel daran, ob Wählerinnen und Wähler es honorieren, dass immer dasselbe hinten rauskommt, ganz egal, wo sie ihre Kreuze machen. Beteiligt am - womöglich bereits letzten - Rettungspaket für die bei den Bürgerinnen und Bürgern so arg in Verruf geratene EU waren Christdemokraten, Liberale und Sozialdemokraten aller sozialistischen Sehnsuchtsstufen. Geht es nach dem abgewählten französischen Präsidenten Emmanuel Macron, sollen es dieselben Parteien in derselben Konstellation sein, die zusammen mit den Linkspopulisten verhindern, dass die Rechte die Macht in einem weiteren EU-Kernland an sich reißt.

Das bisschen Mitte

Das bisschen Mitte, verbündet mit den Linkspopulisten des Jean-Luc Mélenchon, der seine europafeindliche Bewegung die "Neue Volksfront" nennt, soll verhindern, dass die Reiche der Menschen noch weiter schrumpfen und die Regionen noch größer werden, in denen die Ideologie des Rechtspopulismus das Sagen hat. Nurmehr Deutschland, jenes von der Geschichte gebrannte Kind, widersteht der Versuchung, es nach allen denkbaren Kombinationen der traditionellen Koalitionsfarben mal mit einer ganz anderen Mischung anderem zu versuchen. 

Hier, wo die Quantenmechanik selbst das Backhandwerk bestimmt, müssen Millionäre nicht vor rechten Scharfmachern fliehen. Hier, wo die globale Mindeststeuer regional durchgesetzt wurde, werden auch die kommenden desaströsen Niederlagen bei den Landtagswahlen niemanden länger als fünf Minuten darüber nachdenken lassen, wohin ein Weg führt, den immer weniger Menschen mitgehen.

Schild und Schwert

Die Wacht, sie wird nicht enden vor dem Tod, die SPD wie Grüne, FDP und Christdemokraten, sie sind nicht nur in Macrons Frankreich die Wächter auf den Mauern, das Schwert in der Dunkelheit und das Schild, das die Reiche der Menschen schützt. Sie sind auch bereit, ins eigene Verderben zu laufen und das über Jahre hinweg erwirtschaftete Vertretungs- und Anerkennungsdefizit bei der Mehrheitsbevölkerung so lange unbeachtet zu lassen, bis es selbst mit Hilfe der neugeschaffenen Linkspopulisten nicht mehr reicht, die unaufhaltsame Rechtsverschiebung in der politischen Landschaft aufzuhalten. 

Nur noch um Zeit geht es, um das Warten auf eine jähe Wendung, von der weder Macron noch Scholz noch sonst irgendwer in einer der Parteizentralen der Traditionsparteien sagen könnte, worin oder woraus sie bestehen könnte. Ein Wirtschaftsaufschwung würde helfen, am besten etwas mit Wumms, das bis in die verbliebene dünne Schicht der Arbeiterklasse reicht, die als Avantgarde am häufigsten rechts wählt. Auch ein Kriegsende im Osten wäre nützlich. Wie die Sache mit der Wirtschaft aber sieht sich die Regierung auch hier seit Jahren außerstande, irgendeine Art von Initiative zu ergreifen.

Das Pferd soll sprechen lernen

Kommt Zeit, kommt Rat. Man kann sich der Realität sofort ergeben. Oder wetten, dass es gelingt, einem Pferd das Sprechen beizubringen. Entweder, es klappt. Oder es klappt nicht, das aber auf jeden Fall später. Wenn die Rechtspopulisten dann erst übernehmen, wird alles schlimmer werden. Die Wendung schärfer. Der Kurswechsel bei Migration, EU-Ausbau, Klimaschutz und Identitätspolitik so rasant, dass allerlei aus der Kurve zu fliegen droht. 

Einen Plan B aber gibt es in Berlin so wenig wie in Paris. 

Stattdessen ist in der deutschen Hauptstadt eine ähnliche Lust am Untergang zu spüren, wie sie auch Macrons Neuwahlentscheidung ausdrückte. Wenn schon, denn schon, und dann mit knallenden Türen. So wird gegangen, dass die Welt bebt.

Großer Bruder VAR: Die Totengräber des Fußballs

Der Bunker der Totengräber des Fußballs. Wie bei der EU geht es auch bei der Uefa um Machtableitung und Verantwortungsverdünnung.

Noch ist nicht immer alles unter Kontrolle, noch bleibt überall Verbesserungsbedarf. Nicht zuletzt wegen des zunehmenden Klimawandels, der aktuell nicht als Höllen- oder Hitzesommer, sondern als Starkregenflut daherkommt, müssen Aufsichtspflichten, Erwärmungsziele und Kohlendioxidlimits überarbeitet und angepasst werden. Mehr Druck ist bisweilen vonnöten. Mehr Betreuung und mehr Fürsorge für die Schutzbefohlenen, die allein kaum mehr in der Lage scheinen, sich am Leben zu erhalten.  

Im Auto fiept es enervierend, wenn zu schnell gefahren wird. Der feste Flaschendeckel zerkratzt die Oberlippe. Das Cookiebanner, das wieder, wieder und wieder aufploppt, zeigt, wie sehr sich die europäischen Institutionen um jeden Einzelnen sorgen. Der einfache Mensch als Empfänger all dieser Güte ist für Gängelung, Bevormundung und der Erlösung von der Last eigener Entscheidungen dankbar. Wie und was zu tun ist, sagt ihm eine Institution,. die kein Gesicht hat, keinen Namen, keine Telefonnumer und keinen Bedarf, sich zur Wahl zu stellen oder für Fehler geradezustehen. Genau dadurch macht sie nie welche. 

Allumfassendes Angebot

Die EU müht sich seit Jahrzehnten, immer mehr und intensiver in den letzten Jahren ein allumfassendes Angebot für ein betreutes Leben zu machen. Eigenverantwortung wird gezielt auf den unteren Ebenen abgebaut, an ihre Stelle tritt vom Privathaushalt bis hoch zu den Regierungen der Mitgliedsstaaten das Prinzip der bindenden Vorgabe: Die Kommission, von niemandem demokratisch gewählt, erlässt Richtlinien und Verordnungen, die vom EU-Parlament, der größten teildemokratisch gewählten Volksvertretung der Menschheitsgeschichte, als "Formsache" (DPA) durchgewunken werden. Dann sind sie da, und die nationalen Regierungen müssen "umsetzen" (Der Spiegel). 

Jede Frage danach, ob Innovationen wie der festgeschweißte Flaschendeckel, der Tempo-Piepalarm im Auto oder der mit Milliarden geförderte Aufbau von Filialen ausländischer Konzerne der Weisheit letzter Schluss sind, verbietet sich. Es ist das Gesetz! Es steht so geschrieben! Es muss so sein. Der unsichtbare Große Bruder in Brüssel hat es so gewollt. Und weil er das größte Friedensprojekt der Weltgeschichte ist, abgesehen von den Kriegen, die zwischendurch geführt werden mussten, sichert er bereits seit soundsovielen Jahren Wohlstand und Glück, ist Hinterfragen als Vorform von Zweifel verdächtig.

Verlagerte Verantwortung

Das Prinzip dahinter ist das einer Verantwortung, die so lange von der Ausführungsebene verlagert wird, bis niemand mehr verantwortlich ist. Baut der Bürgermeister ein verrückt teures Prestigeobjekt an eine vollkommen marode Straße, trifft er auf ehrliches Verständnis, wenn er erklärt, dass es zwar für einen neuen Glaspalast ohne wirklichen Zweck Fördergeld gibt, nicht aber für die Reparatur von Schlaglöchern. 

Gesteht ein Ministerpräsident, dass er auch gern anders würde, wegen der europäischen Regeln aber nicht kann, ist ihm Beileid sicher. Ebenso dem Bundeskanzler der größten europäischen Volkswirtschaft, der die Tätigkeit der EU und ihrer 32.000 Kontrollbeamten finanziert. Und nun schon seit Monaten bang wartet, ob die Allmächtigen ihm wohl die Erlaubnis geben werden, sein eigenes Geld in die Förderung einer - von US-Konzernen betriebenen - eigenen Chipproduktion zu stecken.

Der Fußball hat von dieser Machtableitung und Verantwortungsverdünnung gelernt. Bei der Fußball-Europameisterschaft führt der Kontinentalverband Uefa in diesen Tagen beispielhaft vor, wie sich Entscheidungen so weit anonymisieren lassen, dass jedes Verdikt am Ende wie ein Gotteswort aus dem Himmel kommt. Schiedsrichter, ehemals die Spruchberechtigten auf jedem Fußballplatz, tragen nur eine Pfeife spazieren wie deutsche Ministerpräsidenten ihre Amtswürde. Ob aber ein Tor ein Tor ist oder ein Elfmeter ein Elfmeter, das entscheiden dunkle Mächte ohne Namen, versteckt hunderte Kilometer entfernt in ein paar Baucontainern in Sachsen. 

Virtuelle Killer

Hier fummeln Techniker an Computersimulationen, die das einst so einfache Spiel der 22 Männern mit dem einen Ball in virtuelles Spektakel verwandeln. Kein Leben ist mehr darin, kein Jubel mehr unschuldig. Jeden Moment kann aus dem Bunker der "Video Assistent Referees" ein Kommando zurück kommen. Das Foul war dann kein oder kein Foul war doch eins oder der Ball drin oder der Zeh im Abseits. 

Das Fußballspiel stirb auf dem Seziertisch der Analyse per KI und GPS-Vermessung. Niemand ist mehr für nichts verantwortlich, weil alle ernsthaften Entscheidungen von gesichtslosen Instanzen in Brüssel Leipzig getroffen werden:  "Mehr als zehn" (Tagesspiegel) Bildschirme, Zugriff auf 40 Kameras und eine "halbautomatische Abseitstechnik". Fertig ist die Beerdigung des Fußballspiels, wie es die Welt bisher kannte.

Tod auf dem Seziertisch

Das Vorbild der Entführung der EU durch eine von keiner Wahl legitimierte Bürokratie schimmert bei jedem Rückspulbefehl aus dem nur "etwa 36 Quadratmeter großen Raum mit Fichtenholzwänden" (Tagesspiegel) durch, in dem drei namenlose Schiedsrichter unterstützt von "zahlreichen" Technikern Tore verhindern, Spiele entscheiden und Karrieren von Trainern beenden.

Wer genau vom sogenannten "Football Tech Hub" auf dem Messegelände in Leipzig welche Entscheidungen trifft, ist genauso unbekannt wie die Umstände, unter denen das "ordentliche Gesetzgebungsverfahren" der EU in der Praxis dafür sorgt, dass harte Auflagen für die Einhegung der Landwirtschaft genauso wichtig, gut und richtig sind wie deren Aufweichung und Abschwächung. 

Das Wunder der Anonymisierung sorgt dafür, dass keine Zweifel mehr möglich sind, weil sie ohnehin keinen Adressaten haben. Wie die 460 Millionen Bürgerinnen und Bürger der EU jede noch so wirre EU-Vorschrift und jede noch so übergriffige Einmischung in ihre privaten Angelegenheiten hinnehmen, so akzeptieren Fußballfans die Ansagen aus dem VAR-Gericht. Was niemand in echt gesehen hat, wird als Computeranimation Wirklichkeit. Der millimetergenaue Laserscan ersetzt das unmittelbare Erleben. Die Vermessung von Videoaufnahmen entscheidet über Torjubel, Tränen und Turnierende.