Mittwoch, 12. Juni 2024

Wahldebakel: Lässt Scholz rückgängig machen?

"Wir müssen dafür sorgen, dass unser Land modern wird, dass es vorankommt", hat Olaf Scholz die schrecklichen Ergebnisse der EU-Wahl kommentiert.

Angela Merkel war weit weg, in Südafrika, als daheim die Jacke brannte. 2020, Februar, verstörende Ereignisse im ostdeutschen Thüringen. Ein liberaler Ministerpräsident wird gewählt. Eine Frontfrau der Linkspartei wirft ihm wütend einen Blumenstrauß vor die Füße. Feueralarm an der Brandmauer. Staatskrise. Deutschland droht ein neues 1933.  

Doch nicht mit Merkel. Die Kanzlerin, weitab der Front, kabelt aus dem Süden umgehend eine eindeutige Anweisung: Der gewählte neue Landesvater finde nicht die Zustimmung der mächtigsten Frau der Welt. Seine geheime Wahl sei mutmaßlich mit Hilfe der Falschen zustande gekommen. Das werde sie nicht hinnehmen. Kurzum: Die Wahlen in Thüringen sind zu annullieren. 

Die blau-schwarz-gelbe Schande

Angela Merkel, die Ereignisse als Physikerin immer von hinten dachte, ließ sich von verfassungsrechtlichen Bedenken nicht irritieren. Es galt, die "blau-schwarz-gelben Schande", wie sie der spätere SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert nannte, resolut auszuradieren. Merkel wies an, dass "auch das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden" müsse. "Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung gebrochen hat für die CDU und auch für mich, nämlich dass keine Mehrheiten mithilfe der AfD gewonnen werden sollen", stellte sie klar. 

Ein raumgreifender Schritt, mit dem die Ostdeutsche aus Hamburg den Boden des Grundgesetzes verließ, aber Applaus von allen einheimste, denen ein starkes Berlin, das überall mitregiert, wichtiger ist als das Chaos einer politischen Subsidiarität, wie sie die Mütter und Väter des Grundgesetzes beim Design der Verfassungsordnung vor Augen hatten.

Eine Kanzlerin räumt auf

Die Bundeskanzlerin räumte auf. Sie entließ ihren Ostbeauftragten, weil er dem neuen Mann an der Spitze der Erfurter Landesregierung irrtümlich gratuliert hatte. Später musste auch ihre Parteichefin gehen, der es nicht gelungen war, die "unverzeihliche" (Merkel) Wahl eines FDP-Mannes zum Ministerpräsidenten zu verhindern. Auch der kurzzeitige Amtsinhaber Thomas Kemmerich musste unter dem Druck aus der Zentrale zurücktreten. 

Parallel verhandelten die demokratischen Parteien in Berlin eine Lösung, wie Thüringen unter Vormundschaft des Bundes zurückgeführt werden könne auf den Pfad der Demokratie. Am Ende bestieg ein westdeutscher Linkspolitiker den Stuhl des Ministerpräsidenten, eingeschworen auf das Versprechen, gleich bald in Kürze sofort unverzüglich Neuwahlen abzuhalten, um Wählerinnen und Wähler über den richtigen Weg zu befragen.

Demokratie geht auch ohne Wahlen

Dazu kam es dann nicht mehr. Es ging auch so. Der Linke Bodo Ramelow, als Notverwalter eingestellt, absolvierte eine gesamte Legislatur und bewies: Demokratie geht auch ohne Wahlen. Ergebnisse sind nicht alles, denn entschiedene politische Interventionen können allemal reparieren, was an der Urne danebengegangen ist. Zwar wurden die Anweisungen von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Umgang mit der Wahl in Thüringen später vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als verfassungswidrig abgeurteilt (Az.2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20). 

Doch der politische Mut, soweit zu gehen, wie es das Grundgesetz nicht erlaubt, zahlte sich auch für die hinter die Brandmauer zurückgedrückte in Teilen gesichert rechtsextreme Oppositionspartei aus: Allen Umfragen zufolge wird die AfD ihr Wahlergebnis von 2019  deutlich verbessern können, während alle anderen Parteien zum Teil so heftig verlieren, dass ihre Zahlen nur noch mit der Lupe lesbar sind.

Scholz scheut vor harten Maßnahmen zurück

Ein klarer Fingerzeig für Olaf Scholz. Zwar ist der Kanzler heute noch weiter weg vom deutschen Alltag als Angela Merkel damals jenseits von Afrika. Aber nach dem Übergreifen der Demokratiekrise auf beinahe ganz Deutschland, insbesondere den kompletten Osten, ist der Garant von "Sicherheit", "Frieden" und "Demokratie" gefordert, die blaue Schande, die mehr als sechs Millionen Wählerinnen und Wähler Deutschland in der Welt bereitet haben, "auszumerzen", wie der sozialdemokratische Altvordere Franz Müntefering gern nannte. 

Noch zögert Scholz aber offenbar. Bisher hat der Bundeskanzler die Ergebnisse von EU- und Kommunalwahlen noch nicht einmal als "unverzeihlich" bezeichnet, geschweige denn, dass er den Moment, an dem der Rechtsrutsch kam, als "schlechten Tag für die Demokratie" angeprangert hat. Statt Wählerinnen und Wählern vor Augen zu führen, was sie sich selbst eingebrockt haben und wie schlecht das für Land, Leute und die Demokratie ist, beließ es Scholz bei einem Auftritt auf einer Pressekonferenz mit dem chilenischen Präsidenten Gabriel Boric beim Eingeständnis, dass das "Wahlergebnis für alle drei Regierungsparteien schlecht" gewesen sei. 

Kein Scherbengericht

Keine Annullierungforderung. Kein Scherbengericht über die Schuldigen. Kleinlaut fast die Bitte des Kanzlers an SPD, Grünen und FDP, nun aber "Ergebnisse zu erzielen, um die Unterstützung für die Ampelkoalition vor der nächsten Bundestagswahl zu erhöhen". Es gehe darum, "dass wir unsere Arbeit machen, dafür zu sorgen, dass unser Land modern wird, dass es vorankommt", brüskierte Olaf Scholz alle, die erwartet hatten, dass er wie Merkel entschieden in die Bütt geht und die Brandmauer verteidigt. So schlimm ist die Lage noch nicht, diese Medizin behält Olaf Scholz noch in Reserve. 


5 Kommentare:

irgendwer hat gesagt…

Blau und Oneshadeofred sind ja gar nicht das Problem. Für die Ampel. Die und ihre beschimpften Wähler sind doch vielmehr der Kleister, welcher die Entropie, in die Humpty Dumpty gerade zerfällt, wieder einigermaßen zusammenpappen soll.

Nachdem der "Weltklimarat" sich schon einen halben Friedensnobelpreis erarbeitet hat, mit der langfristig zuverlässigen Vorhersage eines mehrfach gekoppelten chaotischen Systems (so der IPCC bis 2001), arbeitet jetzt die Ampel an ihrer eigenen Nobelpreisnominierung für die Widerlegung des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik.

Und die Geschichte hat leerreiche [haha, Wortspiel] Beispiele. Gerade in Deutschland, wo vor 91 Jahren eine NGO* das Ruder vollständig herumriss und aus dem Deutschland des Weimarer Chaos einen Platz des himmlischen Friedens machte.
*) Das waren die, die eim Wurstessen nicht auf den Senf achten mussten, weil der auf dem vereinseigenen Hemd ja nicht auffiel.

ppq hat gesagt…

aus meiner sicht zögert er einfach zu viel beim zögern. die merkel, die hats immer vom ende her gedacht und deshalb einfach gar nichts gemacht, außer aller zwei jahre bei der will zu erklären, dass das schon ganz richtig so war.

den scholz aber sieht nicht mal da, sondern nur bei phoenix. aber wer kann das schon empfangen?

Anonym hat gesagt…

>> die Widerlegung des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik <<

Was nützt das alles. Das letzte Dogma der Alleinseligmachenden von 1950 besagt, das Mariechen in carne, nicht etwa nur in spiritu ins Jenseits abgereist ist ...
Oder, (an sich) große Geister wie z.B. Ralph Ruthe glauben den CO2-Mulm ohne Wenn und Aber und verehren die Heilige Greta.

irgendwer hat gesagt…

Vielleicht hat er mehr konkurrierenden... ähm... Input?
So im Sinne von Grundlagen von für den normaldurchschnittlichen Medienkonsumenten völlig erratischen Entscheidungen, gegen jede Beschlusslage...?

Der Unterschied mag aber auch sein, dass M. inoffiziell durchaus pointiert und scharfzüngig war/ ist, was ihrem sedativen Singsang eine Aura des rhetorischen Stilmittels verschaffte. Auch kennen ja alle die Schriften des Ralph Georg Reuth, welcher die jungen Jahre M.s und ihre wilden Eskapaden beleuchtete und jeder wusste "Die M. kann auch anders!".

Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass M. das Rolemodel der weißen Mittelschichtsfrau war, der man alles durchgehen ließ.

Bei Scholz hingegen müssen die überraschenden Plottwists mühsam konstruiert werden, sind dann eben doch lange vorhersehbar und damit sterbenslangweilig.

Die Europawahl europaweit zu annullieren wäre da mal 'was gewesen. Aber als Mann hätte er sich dann fragen lassen müssen, warum er den Falschen in der Wiederholung zu 50% der Stimmen verhelfen will...

Nein. Scholz kann nicht Merkel. Das schafft er nicht.
Söder hätte das gekonnt. Aber den hatten sie ja nicht haben wollen.

irgendwer hat gesagt…

In carne, in spiritu...
Nichts ist schneller als das Licht, doch trotzdem ändert sich der Zustand verschränkter Quanten [Sachsen dürfen jetzt schmunzeln] gleichzeitig.
Wenn Sie die Konsequenz dessen durchdenken, gibt es mit einiger Wahrscheinlichkeit gar keinen wirklichen Antagonismus der eingangs erwähnten Reisevarianten.