Montag, 24. Juni 2024

Ein Land auf Schneckenjagd: Killer im Fahrradsattel

Fahrradfahrer sind in diesen feuchten Hitzetagen für Zehntausende Todesopfer verantwortlich. Eine Studie zeigt jetzt erstmals das ganze Ausmaß des oft verschwiegenen Problems.

Sie sind in diesen Tagen überall. Radfahrer, die die frische Luft genießen, vor der Fußballseuche flüchten, auf ihren Elektrofahrrädern Sport treiben. Tausende sind unterwegs, nicht nur auf den modernen Fahrradautobahnen und den schnittigen Fernradschnellwegen, sondern auch in Parks und auf den viel zu schmalen Radspuren entlang der breiten innerstädtischen SUV-Pisten. Ein Boom, der Deutschland Energieziele erreichen hilft. Der aber auch eine dunkle, brutale, böse und tödliche Seite hat.
 

Die Todesfahrten im Hitzesommer

 
Denn Leichen pflastern den Weg der unbeschwerten Radler. Gerade in diesen Tagen des beginnenden Hitzesommers, die geprägt sind von viel Regen und hoher Luftfeuchtigkeit, wagen sich Deutschlands Nacktschnecken aus ihren Verstecken. Millionen der kleinen possierlichen Tiere schleichen sich im Schutz von Gewitterwolken und strömendem Regen aus ihren verschwiegenen Verstecken. Ungeachtet der Gefahren, die draußen im Offenen warten, schleppen sie sich über menschengemachte Wege und Pfaden. Halb missachten sie die Bedrohung durch den Menschen. Halb wissen sie gar nichts von ihr.

Für Artenvielfalt und Animaldiversität hat das katastrophale Folgen, haben Geforschthabende des Climate Watch Institutes (CWI) im sächsischen Grimma jetzt herausgefunden. In der Studie "Deadly consequences of cycling on the slug population", die im angesehenen Magazin "Science Speed Economics" veröffentlicht wurde, führen die Wissenschaftler aus, wie die modischen "zweirädrigen Raketen" ("two-wheeled rockets") eine Todesschneise durch die Schneckenpopulation fräsen. Die Todesraten seien nicht ganz so hoch wie im Bereich der Kleinstinsektenpopulation, die vom motorisierten Individual-, aber auch vom Liefer- und ÖPNV-Verkehr seit Jahrzehnten milliardenfach gemordet wird. Doch im Bereich der Gastropoda, griechisch für "Bauchfüßer", seien die Schäden einerseits akuter, andererseits gravierender.

Killer auf zweirädrigen Raketen


"Wir haben herausgefunden, dass hier menschengemachte Maschinen auf Lebewesen treffen, denen nicht einmal die Existenz der Maschinen bewusst ist", sagt CWI-Forschungsleiter Herbert Haase. Um die Dimension der Bedrohung zu verdeutlichen, greift Haase zu einem drastischen Vergleich. "Bekanntlich sind Nacktschnecken überaus gemütliche Beweger", sagt er, "Fahrradfahrer dagegen sind zehntausendmal schneller unterwegs". Eine Nacktschnecke bewegt sich mit etwa drei Meter in der Stunde voran, wenn sie Vollgas gibt. Ein Radfahrer kommt auf 30 Kilometer pro Stunde. Haase verdeutlicht den Geschwindigkeitsunterschied: Eine Rakete, die in den Weltraum startet, ist mit 27.000 Kilometern pro Stunde unterwegs, damit aber nur 400 Mal schneller als ein Pkw bei einer Stadtfahrt.
 
Für die wegen ihrer prägnanten Äußerlichkeit von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnten Tiere ist das ein Problem. "Wenn wir uns in die Tiere hineinversetzen, dann können wir erahnen, wie unschuldig sie in diese tödlich gefährlichen Momente hineingleiten", sagt Herbert Haase. Eine Nacktschnecke, die einen drei Meter breiten Weg zu überqueren versucht, sei dazu mindestens eine Stunde lang unterwegs. "Selbst auf weniger befahrenen Wegen braucht sie das Glück, dass drei, vier oder acht vorüberkommende Fahrradfahrer nicht genau dort entlangfahren, wo sie gerade kriecht." 
 

Ein Glücksspiel, das oft tödlich ausgeht

 
Ausweichmöglichkeiten hat die Schnecke nicht. Ihre Wahrnehmung erlaubt es ihr nicht, einen heranrasenden Radfahrer überhaupt zu entdecken, "nicht einmal, wenn er direkt vorüberfährt", erklärt Herbert Haase. Aus Sicht der Schnecke dauert der Passagevorgang nicht einmal eine Millisekunde, aus Sicht der Radler hingegen ist es beinahe unmöglich, einer plötzlich auftauchenden Lebewesen aus dem Stamm der Weichtiere (Mollusca) auszuweichen. 
 
Während Fußgänger die Chance haben, die in diesen Tagen der feuchte, symptomlosen Dürre häufig wandernden Tieren aus dem Weg zu gehen, weil sie meist rechtzeitig entdeckt werden, sind Fahrradfahrer ihrer eigenen Geschwindigkeit schutzlos ausgesetzt. Nacktschnecken, in Verkennung der wahren Bedrohungen von der Natur meist braun oder schwarz gefärbt, verschmelzen vom Sattel aus gesehen mit ihrer Umgebung. Es bleiben nur Sekundenbruchteile, um auszuweichen. Aus Furcht davor, sich selbst zu gefährden, verzichten Radfahrer oft selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wo es möglich wäre, auf den Versuch, Leben zu retten.
 

Mordanleitungen in den Medien

 
Ein gesellschaftliches Problem. Über Jahre hinweg haben große private Medien, aber auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten ein Klima geschaffen, in dem Schneckenleben gar nichts zählen. Nicht nur, dass es an Schutz fehlt und unsinnige Opfer nicht betrauert werden. Nein, es wird unentwegt zur Jagd gerufen. Möglichst tödliche Tipps gegen die sogenannte "Schneckenplage" (BR) müssen nicht etwa unter Hand gehandelt werden, weil Artikel 20a des Grundgesetzes den Schutz der kleinen, völlig wehrlosen Geschöpfe mit dem Satz "der Staat schützt (...) die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung" zu Chefsache gemacht hat. Ungeniert werden die Mordanleitungen öffentlich geteilt. Selbst teilstaatliche Portale beteiligen sich am Wettrennen um die tödlichsten Rezepte.

Kirchen verzichten in diesem Bereich auf Mahnungen zur Bewahrung der Schöpfung. Selbst grüne Spitzenpolitiker vermeiden jede Annäherung an das Thema. Für die deutsche Schneckenpopulation hat das verheerende Folgen, die sich in Kleingartenanlagen und auf den Fahrradpisten der Republik besichtigen lassen. Überall liegen die Leichen, zerquetschte Körper, von Reifen zermanschte Lebewesen, die ihren Versuch, ihre wuchtigen Körper auf die andere Seite zu schleppen, wo das Gras bekanntlich immer grüner ist, mit dem Leben bezahlt haben. 
 
Besonders traurig: Die Täter, Fahrradfahrer aller Altersklassen, aus allen sozialen Schichten und mit Wurzeln sowohl hier wie dort, sind sich ihrer Schuld kaum jemals bewusst, weil es sie so schnell vom Tatort wegtreibt, dass sie die Folgen ihrer oft zur reinen Freizeitunterhaltung vorgenommenen Fahren nicht einmal bemerken. Und wie Tierschützer, Politik und Wissenschaft schweigt auch die Medienlandschaft zu keinem anderen Thema so konsequent.


Keine Kommentare: