Samstag, 29. Juni 2024

Beschwörungsvokabel Wirtschaftswende: Ende gut, alles gut

Ein Archivfund aus dem Jahr 2019 macht Furore: Die damals in der BWHF gedrechselte Worthülse "Wirtschaftswende" ist fünf Jahre später in aller Munde.

Die Öffentlichkeit hatte sie schon beinahe vergessen, jene Worthülse aus dem Jahr 2019, die sich die damals erstarkenden Freie Demokraten von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) im politischen Berlin hatte liefern lassen. Auferstanden aus den traurigen Resten von Kohls "geistig-moralischer Wende" der 80er Jahre, sollte der neue Kampfbegriff den ehemaligen Liberalen einen Hauch der mystischen "Wirtschaftskompetenz" zurückgeben, der der FDP in den dunklen Tagen der Wirtschaftswundernation Deutschland angeheftet worden war.  

Seit dem Start des Rückbaus der Industrie hatte dieser sagenhafte Nimbus deutliche Kratzer bekommen. Selbst den Grünen messen inzwischen Teile der Bevölkerung bessere Fähigkeiten zum Management von Energieausstieg und grüner Transformation zu als der FDP. Ein Alarmsignal für Parteichef Christian Lindner, der mit eben jener "Wirtschaftswende" (®© BWHF) prompt einen Begriff aus den Parteiarchiven graben ließ, den die FDP schon einmal als Waffe im Bedeutungskampf genutzt hatte: Noch in den bleiernen Zeiten Angela Merkels war die Oppositionspartei FDP mit der wirkungsmächtigen Parole in den Kampf gegen Bürokratisierung, Schuldenmacherei und EU-Überregulierung gezogen.

Ende eines Akutprogrammes

Die kurze Konjunktur der Wirtschaftswende.
Der schmissige Slogan war damals ein Teil eines "Akutprogrammes" gewesen, das "angesichts drohender Rezession" mit "steuerlichen Entlastungen" wieder auf Vordermann bringen sollte. Der Plan scheiterte, falls es ihn je wirklich gegeben haben sollte. Als die Liberalen zwei Jahre später in die Regierungsränge aufrücken durften, war von "Wirtschaftswende" nicht mehr die Rede. Der Kurs stimmte nun, die Steuern stiegen, die Abgaben kamen obendrauf, eine ganze Reihe von neuen Geldsammelideen wurden geboren oder nach und nach vorsichtig erhöht - darunter die Lkw-Maut, die Netzentgelte, die Tabaksteuer, die CO2-Steuer und die Luftverkehrssteuer.

Schließlich war es geschafft. Die Rezession war nun da, aber nicht mehr der Rede wert. Das mächtige Versprechen des "Akutprogrammes" bekam von "Wumms" und "Doppelwumms" des wirtschaftskundigen SPD-Kanzlers Glanzlichter aufgesetzt. "Sondervermögen" und Transformationspläne ersetzten die Wirtschaft eilig und fast vollständig, nachdem der fachlich zuständige grüne Minister "grüne Leitmärkte" ins Spiel gebracht hatte, auf denen die öffentliche Hand in Bälde überteuert hergestellte Grundstoffe ohne ökologischen Fußabdruck für Geld einkaufen würde, das sie nicht hat. 

Statt die Wirtschaft zu wenden, ging es aber längst nur noch darum, das mit dem Klima zu tun. Als kleinster drei Koalitionspartner blieb der FDP die Rolle als Bremser bei Heizungs-, Energie- und Verkehrswende. Keine Funktion, der der Wähler mit Liebe belohnt. In dieser bedrohlichen Situation  nicht nur für seine schrumpfende Partei, sondern auch für sich selbst und seine politische Zukunft schickte FDP-Chef Lindner eine Expedition aus Mutigen in die Archive des Hans-Dietrich-Genscher-Haus (HDGH) im Berliner Ortsteil Mitte, um die nach möglicherweise weiter verwendbaren Überbleibseln der "Wirtschaftswende" graben zu lassen. 

Zwischenzeitlich von der Linkspartei okkupiert und von der Union als eigene Idee ausgegeben, soll die magische Worthülse als letzte Patrone im Kampf um eine Rückkehr zu politischer Relevanz noch einmal ihren Zauber entfalten: Er halte "eine Wirtschaftswende für nötig" betont Lindner, "aber nicht mittels Subventionen auf Pump, sondern durch ein Dynamisierungspaket, mit dem wir private Investitionen, Gründergeist und Wettbewerbsfähigkeit entfesseln".

Der Fesselungskünstler

Kein Akutprogramm sollte es diesmal sein, sondern gleich ein großes "Dynamisierungspaket", ebenfalls eine Schöpfung der BWHF, mit dem all die Lähmung, der Mehltau, der Staub von 1.000 Jahren, die Stagnation und der "Unfall in Zeitlupe", als den die Financial Times den Verfall Deutschland beschrieben hat, in ein hübsches Blümchenkleid aus neuen Verheißungen gehüllt werden würde. Mehrere Tage tanzten die Medien nach der Melodie aus der Wirtschaftswende-Pfeife. Was für eine schöne Vorstellung, dass es anders werden könnte, als es ist! 

Mehr Wende war nie, seit Egon Krenz den Aufstand der DDR-Bevölkerung gegen das SED-Regime vor 35 Jahren zu einer von der Parteispitze bewirkten "Wende" erklärt hatte. Von der CDU-Frau Julia Klöckner ("Das kostet den Steuerzahler keinen Cent") über die radikale Rosa-Luxemburg-Stiftung der Ex-PDS bis zum "Konzeptwerk Neue Ökonomie", dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz und der AfD ist Politik-Deutschland bereit für eine "radikale Wirtschaftswende".

Je radikaler die Ankündigungen

Wie das aber so ist: Je radikaler die Ankündigungen, je mächtiger die Worthülsen und je entschlossener die Kurswechsel, desto weniger bleibt von ihnen übrig, wenn der Tag anbricht. Christian Lindner, im politischen Gelegenheitsgeschäft mit Leerbegriffen und Beschwörungsvokabeln ein Meister, hatte die "Wirtschaftswende" kaum fertig ausgesprochen, als sie schon jenem großen, gnädigen Vergessen anheimfiel, das Wissenschaftler als 3. Gesetz der Mediendynamik oder populärwissenschaftlich als die Tradition des Themensterbens in den deutschen Medien beschreiben.

Zack, und weg, so ging es auch der Wirtschaftswende, die in der 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts so viel bewegt hatte, ihre Wunderwirkung diesmal aber nur als Pflästerchen auf der klaffende Wunde tun sollte, die ein zusehends beunruhigte Bevölkerung angesichts all der aktuellen Entwicklungen schmerzlich spürt. Behandelt wird nicht mit Medizin, nicht mit Kuren oder Rehabilitation, sondern allein mit Trost und Zuspruch am offenen Sarg.


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