Mittwoch, 26. Juni 2024

Volkes Wille: Nein zu Bart und Brille

Will auch nach dem Eintritt ins gesetzliche Rentenalter noch einmal Verantwortung schultern: Ursula von der Leyen. Abb.: Kümram, Buntstift auf Buntpapier

Sie haben es ja so gewollt. Mit ihrem beinahe geschlossenen Votum für ein "Weiterso", wie es die Europäische Volkspartei im Wahlkampf versprochen hatte, setzten die Wählerinnen und Wähler der 27 Mitgliedsstaaten der EU Anfang des Monats ein deutliches Zeichen: Ja, auch wenn Ursula von der Leyen nicht kandidiert hatte. Und ja, auch wenn die Bilanz der EU in den letzten 25 Jahren längst noch nicht alle Skeptiker und Kritiker überzeugt. Und ja, obwohl die 66-Jährige so unbeliebt ist, dass sie im Wahlkampf alle Marktplätze mied und sich nicht plakatieren ließ. Sie steht bereit. Und die Menschen wollen sie.

Die Eiserne Lady

Es bleibt dabei: Ursula von der Leyen, die vor neun Monaten das gesetzliche Rentenalter erreicht hat, soll auch weiterhin an der Spitze der Brüsseler Kommission stehen und dort für die Durchsetzung von Green Deal, Chips Act, Fit for 55, Renew EU, KI-Act und all den anderen hochfliegenden Plänen sorgen, die bisher nicht schneller vorankommen als die legendäre "Lissabon-Strategie", mit der ihr Vorvorvorgänger Manuel Barolo einst am Vorhaben scheiterte, Europa zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt" zu machen. 

Die Wahlen haben gezeigt: Das Volk steht hinter der Frau aus Niedersachsen, deren Parteienfamilie erneut besser abschnitt als jede andere. Die Personaldecke in EU-Europa ist überdies denkbar dünn: Schon die Besetzung des Chefpostens bei der Nato, der stets einem Europäer zufällt, weil die Amerikaner das Militärbündnis bereits befehligen müssen, ließ sich nur stemmen, weil der niederländische Langzeit-Premierminister Mark Rutte von seinen Wählerinnen und Wählern un- und glücklicherweise gerade den Suhl vor die Tür gestellt bekommen hatte.

Alternativlos als ihre eigene Nachfolgerin

Ähnlich wie der Niederländer ist von der Leyen alternativlos als ihre eigene Nachfolgerin. Noch lange ist die Frau aus Niedersachsen mit Europa nicht fertig, zu viel ist in ihrer ersten Amtszeit unvollendet liegengeblieben.  Vom Projekt Hera, mit dem sie die EU pandemieresilient machen wollte, war lange nichts mehr zu hören. Der mittlerweile schon um anderthalb Jahre verspätete Bau der Intel-Fabriken beim Magdeburg wartet weiterhin auf grünes Licht der Kommission für die benötigten zehn Subventionsmilliarden. Aus Angst vor den Landwirten räumte die EU im Wahlkampf die geplanten ehrgeizigen Umweltziele ab. Die Einführung einer gemeinsamen EU-Zeit, noch vom greisen Vorgänger Jean Claude Juncker versprochen, wurde ganz aufgegeben.

Eine Bilanz, die den Staats- und Regierungschefs bei ihrem Hinterzimmertreffen vor dem entscheidenden EU-Gipfel gar keine andere Wahl ließ, als auf den Ruf der Menschen draußen in den Mitgliedstaaten zu hören und der ehemaligen deutschen Familienministerin, die bis heute den Weltrekord für die meisten Ministerposten in den meisten Ressorts hält, den Weg zur zweiten Amtszeit  zu ebnen. Ein "Machtpoker" (Spiegel), der auch als "wahre EU-Wahl" bezeichnet wird. 

Keine Chance für den Mann mit der Brille

Wahlberechtigt sind 27 Staats- und Regierungschefs, sie haben die freie Auswahl aus genau einer Kandidatin. Sie müssen keine Rücksicht auf den"Spitzenkandidaten" der Sozialdemokraten und Sozialisten nehmen. Der Brillenträger Nicolas Schmit ist seit dem Wahltag ebenso komplett abgetaucht wie nach der letzten Wahl der aussortierte bärtige Wahlsieger Manfred Weber. Es fällt nicht auf, denn wieder sind Bart und Brille nicht Volkes Wille.

Die Bürgerinnen wie die Bürger wollen Ursula von der Leyen, streng, aber gerecht, eine Politikerin, die Europa per SMS regiert. Verglichen mit dem männlichen Mitbewerber aus Luxemburg ist wenigstens halbwegs bekannt. Verglichen mit den Anführern anderer Weltreiche blutjung. Und verglichen mit ihrem Vorgänger immer noch gut zu Fuß.

Doch obwohl jeder der Partner aus den zur Mehrheit notwendigen drei Blocks ein Stück vom Kuchen bekommt, ist der Ausgang der Abstimmung Ende Juli offen. 400 der inzwischen wieder auf 720 angewachsenen Zahl der Abgeordneten im größten teildemokratisch gewählten Parlament der Welt gehören zur Leyen-Allianz aus Christdemokraten, Sozialisten und Liberalen. Mehr als 39 von ihnen dürfen sich nicht entscheiden, den Ruf der Völker zu ignorieren.

Gesprochene Verbrechen: Nazi-Enttäuschung in Sonneberg

Im Vorfeld der EU-Abstimmung hatten Engagierte erneut nachdrücklich vor der Wahl der Falschen gewarnt. Mit Erfolg: Auch aufgrund der enttäuschenden Bilanz des ersten AfD-Landrates legte die als in Teilen gesichert rechtsextrem beobachtete Partei in Sonneberg nur um zwölf Prozent zu.

Was hatte er nicht alles versprochen vor seiner Machtergreifung in Sonneberg. Der erste AfD-Landrat der Republik lockte Wählerinnen und Wähler mit weitreichenden Zusagen. Grenzen dicht, Gesundheitswesen wie in der DDR, brutales Vorgehen gegen Andersdenkende, Abriss der Brandmauer rund um das Rathaus, Rückabwicklung der Demokratie. Bundesweit herrschte Entsetzen in jenem Sommer vor einem Jahr, der bisher der letzte Sommer in Deutschland war und im abgelegenen Thüringer Zipfel Schalkau, Mittwitz und Pressig zudem der letzte Sommer der Freiheit.

Kurzer Empörungsblitz

Nach den heftigen Schockwellen aus Sonneberg entpuppte sich die kleine Bundestagswahl im winzigen  Landkreis am Rande der Zivilisation als Empörungsblitz, der kaum länger leuchtete als der ein knappes Jahr später folgende Theaterdonner nach der EU-Abstimmung. Den ersten mutigen Reportertrupps, die sich ins Krisengebiet wagten, folgten später keine weiteren Expeditionen mehr. Sonneberg verschwand wieder dorthin, wo es immer gewesen war. Ein Stück Niemandsland, zugleich Staatsgebiet und exotische Fremde. Bewohnt von einem Menschenschlag, der geheimnisvoll und stur genug ist, wider besseren Wissen zu tun, wovon ihm alle abraten.

Kein Dexit, kein Euro-Ausstieg.
Erst ein Jahr nach der ersten Manifestation des später als "Rechtsrutsch" bezeichneten Zivilisationsbruchs ziehen Experten, Wissenschaftler, Kommentatoren und zivilgesellschaftliche Organisationen nun Bilanz. Welche Verbrechen hat Robert Sesselmann eingelöst? Wo hat er auf ganzer Linie versagt? Wie hat seine AfD ihr erstes kommunales Spitzenamt genutzt, um Deutschland zurückzuführen ins Jahr 1933? Und wie steht es um die angekündigten Abwanderungen von Firmen, den Zustrom von Rechtsextremen aus anderen Teilen der Republik und die befürchtete Zunahme von Nazi-Gewalt in der ersten amtlich bestätigten und behördlich anerkannten national-befreiten Zone?

In der national-befreiten Zone

Sesselmann, geh Du voran, so klang es, als die früher vom Verfassungsschutz als in Teilen gesichert linksextrem beobachtete Landesregierung in Erfurt ihr Okay gab: Ja, der erste Landrat der AfD steht auf dem Boden der Verfassung, er darf im kleinen Sonneberg, einst weltweit für seine Spielzeugfabriken bekannt, damit beginnen, die Träume der AfD vom Ausstieg aus dem Euro, dem Dexit, dem Friedensschluss mit Putin, der Remigration krimineller und abgelehnter Asylbewerber und dem Kampf gegen Sprachfortschritt, Inflation, Verbrenneraus und bürokratischen EU-Maßnahmen zum Wiederaufbau Europas nach der Corona-Pandemie beginnen. 

52,8 Prozent der Sonnebergerinnen und Sonneberger hatten sich gewünscht, Teil dieses Großexperiments im Kleinen zu sein, das aus den Redaktionsstuben der Republik noch weitaus skeptischer betrachtet wurde als der grüne Jahrhundertschritt zum Komplettumbau der Heizungsnation. Und das mit gutem Grund, wie sich jetzt zeigt: Denn der AfD-Mann hat offenbar auf ganzer Linie versagt. Weder ist es Robert Sesselmann gelungen, einen Waffenstillstand zwischen Russland und der völkerrechtswidrig angegriffenen Ukraine herbeizuführen, noch ist der Zustrom an Ansiedlungswilligen abgerissen oder Schluss gemacht worden mit Inflation, zuvielgesellschaftlichen Initiativen oder der Möglichkeit, im privaten Umgang zu Gendern.

Versagen auf ganzer Linie

Ein Versagen auf ganzer Linie, wie der genaue Blick zeigt. In Sesselmanns kurzer Amtszeit hat Sonneberg weitergemacht wie bisher: Wie in allen Landkreisen fehlt es an Geld, die Kreisstraßen zu unterhalten, noch vor dem geplanten Zurückstutzen der Krankenhauslandschaft auf das Notwendigste ist der lokale Klinikverbund in die Insolvenz geschlittert. Bis heute gelten auch in Sonneberg sämtliche überbürokratischen EU-Regeln, ebenso die von Bundeskanzler Olaf Scholz eben erst im ARD-Sommerinterview bestätigten Erhöhungen von Mindestlohn, Bürgergeld und Dokumentationspflichten.

Nichts hat die Wahl des demonstrativ mit einem ehemaligen NPD-Mitglied liierten rechten Rechtsanwaltes für die Sonneberger gebracht, aber auch Deutschland ging leer aus. Hunderte Industriearbeitsplätze, die in den vergangenen Jahren in und um Sonneberg verloren gingen, konnte Sesselmann nicht zurückholen. Sonneberg steckt seit sieben Jahren in der Rezession - auch der neue Mann im Landratsamt zeigte sich unfähig, die Wirtschaft in Schwung zu bringen. 

Offene Türen der Weltsozialamtsfiliale

Fehlanzeige auch bei allen anderen Punkten: Bis heute gibt es Kriminalität in und um Sonneberg, in der Ukraine tobt weiterhin der Krieg, kurz vor der Sommerpause steht Deutschland ohne Haushaltsentwurf da. Trotzdem hat die Sonneberger Filiale des Weltsozialamtes, das Sesselmann hatte umgehend schließen wollen, fast mit 134 Schutzsuchenden doppelt so viele Asylbewerber und Ukrainer aufgenommen wie im letzten Jahr für der Machtergreifung. Dass "keine qualifizierte Fachkraft freiwillig in ein kaltes Land mit einer schwierigen Sprache geht, in dem sie auch noch Angst um ihre Sicherheit haben muss" (Taz), gilt weiterhin. Mittlerweile aber wirkt sich das so drastisch auf das Alltagsleben aus, dass Bürgerinnen und Bürger bei EU-Wahl krasse Denkzettel ausstellten: Eine Abstimmung in der Wahlkabine, bei der Sesselmanns Partei nur zwölf Prozent zulegen konnte, obwohl die Ampelparteien 16,6 Prozent abgaben und die CDU 4,8 Prozent verlor.

Dienstag, 25. Juni 2024

Auf glühenden Kohlen: Warum es nicht lohnt, die Bahn zu sanieren

Bahnschienen werden weich, der Müggelsee kocht: Bis zum Ende des Jahrhunderts droht Deutschland ein Hitzeschock.

Es lohnt sich nun gar nicht mehr, die Bundesbahn zu sanieren. Neuen Berechnungen zufolge, die das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" verbreitet, wird es künftig in Deutschland so warm werden wie heute in Teilen Südeuropas. Nach Recherchen des ZDF sind die Folgen für den öffentlichen Nahverkehr fürchterlich: Ab 39 Grad Hitze schon verbiegen sich Bahn- und Straßenbahnschienen. Zugverkehr wird unmöglich, weil die stählernen Trassen dann weich werden. Aus diesem Grund verkehren bereits in vielen heißen Weltregionen keine Züge, auch Straßenbahnen sind in Afrika und im südlichen Asien kaum gebräuchlich.

Rückschlag für Umstieg

Für Deutschlands geplanten Umstieg von der individuellen Mobilität auf kollektive Bewegungsformen sind das keine guten Nachrichten. Eine Karte, auf die "Spiegel" verweist, zeigt, dass Berlin schon im Jahr 2080 heiß und weitgehend unbewohnbar sein könnte wie die norditalienische Region Emilia Romagna. Rostock droht das Schicksal Barcelonas, München säße auf ähnlich glühenden Kohlen wie heute Rom. 

Detailliert hat der Umweltforscher Matthew Fitzpatrick von der US-amerikanischen Universität Maryland auf seiner "Future Urban Climates"-Map herausgearbeitet, wie stark die Temperaturen sich ändern werden - trotz der im vergangenen Jahr bereits verabschiedeten Hitzeschutzstrategie der Bundesregierung und der weltweiten Anstrengungen, die Klimakrise in den Griff zu bekommen.

Landstriche unbewohnbar

Vergebens. Die Karte mit Daten von mehr als 40.000 Städten, zur Zeit weitgehend nicht erreichbar, zeigt, wie ganze Landstriche unbewohnbar werden, sogar weit über das am heftigsten betroffene Deutschland hinaus. Auch skandinavischen Städten wie Stockholm und Oslo droht nach "Spiegel"-Recherchen der Hitzeschock, sie würden sich "künftig anfühlen wie Kroatien derzeit". Auch die Einwohnerinnen und Einwohner, die dann noch in London ausharren, einer Metropole, aus der nach dem Brexit viele Firmen abgewandert waren, müssten sich 2080 mit einem mörderischen Klima arrangieren, "wie es sich derzeit in der Gemeinde Labarde bei Bordeaux findet".

Weinberge an der Themse statt Londoner Schmuddelniesel, Strandbäder im isländischen Frühling und die Lofoten als neues Mallorca? Der Rückbau der Deutschen Bahn, der Umstieg zahlloser Städte von Straßenbahn auf Elektrobus? Zumindest wird es so kommen, wenn die Menschheit ihren Selbstvernichtungskurs mit anhaltend hohen fossilen Emissionen nicht ändert. Dann wird nicht nur das ursprünglich angestrebte 1,5-Grad-Ziel verfehlt, sondern auch die letzte Rückfalllinie bei zwei Grad. Matthew Fitzpatrick prognostiziert mit Hilfe der offiziellen Vorhersagen des Klimarates IPCC eine weltweite Erwärmung um rund neun Grad, bleibt es beim fossilen Volldampf. 

Dreimal mehr als der IPCC

Der Forscher liegt damit beim Dreifachen des Wertes, den der Klimarat zuletzt bei 3,2 °C im Jahr 2100 festgeschrieben hatte, jedoch um mehr als drei Grad unter der wissenschaftlichen Prognose, die das Brandenburgische Landesamt für Umweltschutz vor fünf Jahren veröffentlicht hatte. Möglich sei jedoch auch eine weniger steile Hitzekurve: Bei strikt reduzierten Emissionen erwärme sich der Planet bis Ende des Jahrhunderts womöglich auch nur um drei Grad. Dann werde sich, hat der "Spiegel" ein Horrorszenario der besonderen Art ermittelt, "Berlin anfühlen wie derzeit die Gemeinde Böhl-Iggelheim in Rheinland-Pfalz."

Klimageldverweigerung: Rückenwind von der Wissenschaft

Robert Habeck weiß schon, wofür er das Klimageld ausgeben will, wenn es die Bürgerinnen und Bürger endgültig nicht bekommen. Die Wissenschaft stützt den Minister.

Kommt es bald nicht oder später nie? Wird es am fehlenden Geld gelegen haben oder an der Uneinigkeit der Ampel-Koalition? Stehen technische Probleme einer Auszahlung der als "Klimaprämie" im Koalitionsvertrag ausdrücklich versprochenen Ausgleichsgelder für die der großen Transformation meist schutzlos ausgelieferten Wählerinnen und Wähler im Wege? Oder werden es strukturelle Probleme sein, eventuell mit der notwendigen Zustimmung der EU?  

Streit in der Koalition

Lange war nicht abschließend ausgemacht, mit welcher Begründung es die Bundesregierung schaffen würde, ihr Klimageld-Versprechen bis zum allerletzten Tag ihrer Amtszeit zu brechen. Die FDP machte Abwicklungsprobleme geltend. Die Grünen verwiesen auf wichtigere Projekte. Der Kanzler schwieg und sagte damit alles. 

Dabei bleibt es auch. Allerdings haben sich jetzt Forscherinnen und Forscher zu Wort gemeldet, die die bedeutenden Vorteile des bisher vielleicht radikalsten Vertrauensbruches von Rot-Grün-Gelb in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Statt soziale Spannungen durch den Klimaschutz durch die Rückzahlung von Mehrbelastungen an die Bürger abzufedern, solle der Staat in Zeiten hoher Zinsen lieber Kredite aufnehmen, um Umstieg auf teure, klimaneutrale Technologien zu beschleunigen. Die in Zukunft schnell steigenden Preise für den Ausstoß von CO₂ hätten den Vorteil, erzieherisch auf alle zu wirken. Würde Energieverbrauch noch teurer, wären Bürgerinnen und Bürger eher bereit, auf bestimmte klimaschädliche Verhaltensweisen zu verzichten.

Lieber mehr als weniger

Bei den Wissenschaftlern, angeführt von Ottmar Edenhofer, dem Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), wird der Effekt freundlich umschrieben. Wenn CO₂-Ausstoß ein angemessener Preis gegeben werde, könne der Markt die günstigsten Lösungen finden, um Kohlendioxid einzusparen. Das sagenumwobene Klimageld, anfangs eines der Fortschrittsversprechen der Ampel, würde kontraproduktiv wirken: Die beabsichtige Belastung durch die beständig steigenden CO₂-Preise würde gemindert, der Erziehungseffekt nachlassen, einer Gewöhnung an die höheren Kosten der Weg bereitet. Das sei "nicht zielführend".

Robert Habeck, Christian Lindner und Olaf Scholz dürften sich in ihrer Hinhaltetaktik bestätigt fühlen. Der Quertreiber Hubertus Heil, der sich als letzter Ampel-Minister öffentlich an den "sozialen Kompensationsmechanismus (Klimageld)" erinnert hatte, dürfte künftig nur noch wenig Lust haben, den Rat der Ökonomen in den Wind zu schlagen und ein Festhalten am Koalitionsvertrag zu fordern. Deren Wort wiegt zu schwer: Ohne dass es je dazu kam, haben sie herausgefunden, dass "die pauschale Rückgabe von CO₂-Einnahmen sich bei weitem nicht als Wunderwaffe erwiesen hat, um der Öffentlichkeit die Bepreisung von CO₂ schmackhaft zu machen". 

Der Staat als besserer Klimaschützer

Der Staat wisse allemal deutlich besser, was mit den zuletzt um etwa 40 Prozent auf nunmehr 18,4 Milliarden Euro gestiegenen Einnahmen aus dem Emissionshandel anzufangen sei. Die rund 220 Euro pro Person, die als Rückerstattung ausgezahlt werden müssten, würden Menschen letztlich nur "an der Wirksamkeit und Fairness der CO₂-Bepreisung" zweifeln lassen, "wenn die Einnahmen als einheitlicher Zuschuss an die Verbraucher zurückgegeben werden", so die Forscher. Denn "warum, so fragen einige, sollten Bill Gates, Elon Musk oder Jeff Bezos den gleichen Scheck erhalten wie ein armer Mensch", dächten viele gleich global. 

Dazu passt auch eine Umfrage, bei der Bürgerinnen und Bürger in Frankreich, Deutschland und Spanien mehrheitlich dafür plädiert hätten, der Bundesregierung das überzählige Geld zu überlassen. Den Befragten sei es wichtiger, die - ohnehin bereits mehrfach verplanten - Einnahmen aus der CO₂-Steuer nicht selbst in Empfang nehmen zu müssen, sondern sie denen zu geben, die etwas von grünen Investitionen verstünden. 

Angst vor zu hohen Zahlungen

Wenn ab 2027 auch Heizen, Kühlen und Mobilität vollumfänglich CO₂-Steuer-pflichtig werden und die Steuer dann deutlich über den 45 Euro pro Tonne CO₂ steige, kämen anderenfalls vermutlich Klimageld-Erstattungen in vierstelliger Höhe auf die Haushalte zu, größere Familien müssten sogar mit fünfstelligen Summen rechnen. Im politischen Berlin sind alle Parteien überzeugt, dass gerade wirtschaftlich nicht erstklassig aufgestellte Empfänger mit so hohen Summen nicht umgehen können.

Montag, 24. Juni 2024

Ein Land auf Schneckenjagd: Killer im Fahrradsattel

Fahrradfahrer sind in diesen feuchten Hitzetagen für Zehntausende Todesopfer verantwortlich. Eine Studie zeigt jetzt erstmals das ganze Ausmaß des oft verschwiegenen Problems.

Sie sind in diesen Tagen überall. Radfahrer, die die frische Luft genießen, vor der Fußballseuche flüchten, auf ihren Elektrofahrrädern Sport treiben. Tausende sind unterwegs, nicht nur auf den modernen Fahrradautobahnen und den schnittigen Fernradschnellwegen, sondern auch in Parks und auf den viel zu schmalen Radspuren entlang der breiten innerstädtischen SUV-Pisten. Ein Boom, der Deutschland Energieziele erreichen hilft. Der aber auch eine dunkle, brutale, böse und tödliche Seite hat.
 

Die Todesfahrten im Hitzesommer

 
Denn Leichen pflastern den Weg der unbeschwerten Radler. Gerade in diesen Tagen des beginnenden Hitzesommers, die geprägt sind von viel Regen und hoher Luftfeuchtigkeit, wagen sich Deutschlands Nacktschnecken aus ihren Verstecken. Millionen der kleinen possierlichen Tiere schleichen sich im Schutz von Gewitterwolken und strömendem Regen aus ihren verschwiegenen Verstecken. Ungeachtet der Gefahren, die draußen im Offenen warten, schleppen sie sich über menschengemachte Wege und Pfaden. Halb missachten sie die Bedrohung durch den Menschen. Halb wissen sie gar nichts von ihr.

Für Artenvielfalt und Animaldiversität hat das katastrophale Folgen, haben Geforschthabende des Climate Watch Institutes (CWI) im sächsischen Grimma jetzt herausgefunden. In der Studie "Deadly consequences of cycling on the slug population", die im angesehenen Magazin "Science Speed Economics" veröffentlicht wurde, führen die Wissenschaftler aus, wie die modischen "zweirädrigen Raketen" ("two-wheeled rockets") eine Todesschneise durch die Schneckenpopulation fräsen. Die Todesraten seien nicht ganz so hoch wie im Bereich der Kleinstinsektenpopulation, die vom motorisierten Individual-, aber auch vom Liefer- und ÖPNV-Verkehr seit Jahrzehnten milliardenfach gemordet wird. Doch im Bereich der Gastropoda, griechisch für "Bauchfüßer", seien die Schäden einerseits akuter, andererseits gravierender.

Killer auf zweirädrigen Raketen


"Wir haben herausgefunden, dass hier menschengemachte Maschinen auf Lebewesen treffen, denen nicht einmal die Existenz der Maschinen bewusst ist", sagt CWI-Forschungsleiter Herbert Haase. Um die Dimension der Bedrohung zu verdeutlichen, greift Haase zu einem drastischen Vergleich. "Bekanntlich sind Nacktschnecken überaus gemütliche Beweger", sagt er, "Fahrradfahrer dagegen sind zehntausendmal schneller unterwegs". Eine Nacktschnecke bewegt sich mit etwa drei Meter in der Stunde voran, wenn sie Vollgas gibt. Ein Radfahrer kommt auf 30 Kilometer pro Stunde. Haase verdeutlicht den Geschwindigkeitsunterschied: Eine Rakete, die in den Weltraum startet, ist mit 27.000 Kilometern pro Stunde unterwegs, damit aber nur 400 Mal schneller als ein Pkw bei einer Stadtfahrt.
 
Für die wegen ihrer prägnanten Äußerlichkeit von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnten Tiere ist das ein Problem. "Wenn wir uns in die Tiere hineinversetzen, dann können wir erahnen, wie unschuldig sie in diese tödlich gefährlichen Momente hineingleiten", sagt Herbert Haase. Eine Nacktschnecke, die einen drei Meter breiten Weg zu überqueren versucht, sei dazu mindestens eine Stunde lang unterwegs. "Selbst auf weniger befahrenen Wegen braucht sie das Glück, dass drei, vier oder acht vorüberkommende Fahrradfahrer nicht genau dort entlangfahren, wo sie gerade kriecht." 
 

Ein Glücksspiel, das oft tödlich ausgeht

 
Ausweichmöglichkeiten hat die Schnecke nicht. Ihre Wahrnehmung erlaubt es ihr nicht, einen heranrasenden Radfahrer überhaupt zu entdecken, "nicht einmal, wenn er direkt vorüberfährt", erklärt Herbert Haase. Aus Sicht der Schnecke dauert der Passagevorgang nicht einmal eine Millisekunde, aus Sicht der Radler hingegen ist es beinahe unmöglich, einer plötzlich auftauchenden Lebewesen aus dem Stamm der Weichtiere (Mollusca) auszuweichen. 
 
Während Fußgänger die Chance haben, die in diesen Tagen der feuchte, symptomlosen Dürre häufig wandernden Tieren aus dem Weg zu gehen, weil sie meist rechtzeitig entdeckt werden, sind Fahrradfahrer ihrer eigenen Geschwindigkeit schutzlos ausgesetzt. Nacktschnecken, in Verkennung der wahren Bedrohungen von der Natur meist braun oder schwarz gefärbt, verschmelzen vom Sattel aus gesehen mit ihrer Umgebung. Es bleiben nur Sekundenbruchteile, um auszuweichen. Aus Furcht davor, sich selbst zu gefährden, verzichten Radfahrer oft selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wo es möglich wäre, auf den Versuch, Leben zu retten.
 

Mordanleitungen in den Medien

 
Ein gesellschaftliches Problem. Über Jahre hinweg haben große private Medien, aber auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten ein Klima geschaffen, in dem Schneckenleben gar nichts zählen. Nicht nur, dass es an Schutz fehlt und unsinnige Opfer nicht betrauert werden. Nein, es wird unentwegt zur Jagd gerufen. Möglichst tödliche Tipps gegen die sogenannte "Schneckenplage" (BR) müssen nicht etwa unter Hand gehandelt werden, weil Artikel 20a des Grundgesetzes den Schutz der kleinen, völlig wehrlosen Geschöpfe mit dem Satz "der Staat schützt (...) die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung" zu Chefsache gemacht hat. Ungeniert werden die Mordanleitungen öffentlich geteilt. Selbst teilstaatliche Portale beteiligen sich am Wettrennen um die tödlichsten Rezepte.

Kirchen verzichten in diesem Bereich auf Mahnungen zur Bewahrung der Schöpfung. Selbst grüne Spitzenpolitiker vermeiden jede Annäherung an das Thema. Für die deutsche Schneckenpopulation hat das verheerende Folgen, die sich in Kleingartenanlagen und auf den Fahrradpisten der Republik besichtigen lassen. Überall liegen die Leichen, zerquetschte Körper, von Reifen zermanschte Lebewesen, die ihren Versuch, ihre wuchtigen Körper auf die andere Seite zu schleppen, wo das Gras bekanntlich immer grüner ist, mit dem Leben bezahlt haben. 
 
Besonders traurig: Die Täter, Fahrradfahrer aller Altersklassen, aus allen sozialen Schichten und mit Wurzeln sowohl hier wie dort, sind sich ihrer Schuld kaum jemals bewusst, weil es sie so schnell vom Tatort wegtreibt, dass sie die Folgen ihrer oft zur reinen Freizeitunterhaltung vorgenommenen Fahren nicht einmal bemerken. Und wie Tierschützer, Politik und Wissenschaft schweigt auch die Medienlandschaft zu keinem anderen Thema so konsequent.

Waste in Germany: Rohstoff-Nation auf halbe Ration

Ist sehr oft noch sehr gut: Für Kondome ist in der neuen Nationalen Kreislaufstrategie eine mindestens zweimalige Verwendung vorgesehen. Eine Nationale Kreisbehörde soll streng kontrollieren. 

Das Private ist politisch, der private Müll wird es nun auch. Stolz hat Bundesumweltministerin Steffi Lemke eine nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie (NKWS) vorgestellt, die vorsieht, dass Bürgerinnen und Bürger ihren sogenannten Pro-Kopf-Verbrauch neu abgebauter Rohstoffe halbieren. Statt wie heute alljährlich 16 Tonnen an Baustoffen, Kunststoffen und Metallen zu verschwenden, hat Lemke eine Reduzierung auf nur mehr acht Tonnen für jeden beschlossen.  

Modernste Bürokratie

Die NKWS, mit der die Ministerin gegen bösartige Gerüchte um millionenteure versäumte Kontrollen bei Klimazertifikaten entgegentritt, setzt zur Durchsetzung auf ein ganzes Bündel modernster bürokratischer Maßnahmen. So soll es Gesetzesinitiativen etwa zur Einführung eines digitalen Produktpasses für jeden einzelnen Gegenstand des täglichen Bedarfs geben. Dessen Lebenszyklus könnte dann mit Hilfe von Blockchainanwendungen durch eine noch zu gründende nationale Kreisbehörde (NKB) überwacht werden. Zu frühes Aussortieren wäre strafbar oder zumindest nicht legal. 

Anreizprämien hingegen soll es für nachhaltigen Konsum geben. Wer Jacken, Hosen und Schuhe länger nutzt als gesetzlich vorgeschrieben, bekäme ebenso Nachhaltigkeitspunkte gutgeschrieben wie treue Nutzer von Geschirr, elektronischen Geräten und Handwerkszeug. Die Nachhaltigkeitpunkte berechtigen zur Teilnahme an der Deutschen Nachhaltigkeitslotterie, bei der wertvolle Preise aus Recyclingmaterial verlost werden, um die Ausrichtung der öffentlichen Beschaffung auf die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft zu popularisieren. 

Keine Panik nötig

Panik, wie sie beim Heizungsumbaugesetz-Experiment wegen der Plötzlichkeit der Anweisungen zum Abschied von der gewohnten Lebensweise ausbrach, ist diesmal nicht nötig. Die Ampel-Koalition hat sichtlich aus ihrem übereilten Vorgehen gelernt. Schon die Neufassung des Heizungsgesetzes hielt zwar an Ziel und Auflagen fest, verschob aber alle Umsetzungstermine so weit in die Zukunft. Dadurch ist sichergestellt, dass erst viel später wieder blankes Entsetzen regieren wird, wenn Bürgerinnen und Bürger begreifen, dass milliardenschwerer Fernwärme und Tausende kommunale Wärmeplanungspläne das Wohnzimmer kein Grad wärmer und keinen Cent günstiger durch den Winter bringen.

Steffi Lemke, die als grüne Ostquotenfrau im Kabinett Umweltpolitik zwischen den beiden großen grünen Macho-Egos von Klimaminister Robert Habeck und dem immer noch ambitionierten Ex-Parteichef Cem Özdemir im Landwirtschaftsressort machen muss, hat die Lehre angenommen. Für die Halbierung ihres Rohstoffverbrauchs setzt sie den Deutschen eine großzügige Frist. Erst im Jahr 2045 wird bei zu hohem Verbrauch mit drastischen Bußgeldern reagiert werden. Vorher sieht die Halbierungsstrategie einen Ausstiegspfad vor, der etwas ambitionierter ist als der auf EU-Ebene.

Nachahmer willkommen

Um die internationale Nachahmung zu erleichtern, die wahrscheinlich schon in Kürze einsetzen wird, hat sich Lemke von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin den schnittigen Begriff "Circular Economy" für ihre Bundesrecyclingregeln entwerfen lassen. Aus "Made in Germany" soll "Circularity made in Germany" werden, "gut für Umwelt und Klima", wie Steffi Lemke sagt. Wie genau der Pro-Kopf-Verbrauch neu abgebauter Rohstoffe halbiert soll, gibt das Ministerium nicht vor, einen Fingerzeig aber enthält das Papier: Der Anteil wiederaufbereiteter Rohstoffe in Europa solle "verdoppelt" werden. 

Daraus ergäbe sich ein Recycling-Anteil von etwa 26 Prozent, rein rechnerisch verbliebe eine Lücke von etwa 25 Prozent, die die Ministerin offenbar mit einem "Orientierungsrahmen für ihre Geschäftsmodelle für die nächsten 10 bis 15 Jahre" zu schließen beabsichtigt. Aus 14 Tonnen heutigem Neu-Rohstoffverbrauch würden zwölf, das Recyclingloch im sogenannten Rohstoff-Fußabdruck bis zu den angestrebten jährlich nur noch acht Tonnen pro Kopf würde eventuell durch "die Energiewende und mehr ressourcensparenden Leichtbau und Abfallvermeidung" geschlossen. 

Neue Behörde für Müll-Überwachung

Bis zum Jahr 2030, das hat auch die EU bereits beschlossen, sollen zehn Prozent und bis zum Jahr 2045 pro Kopf 20 Prozent weniger Abfall produziert werden. Um die Prozesse zu führen, zu leiten und die Erfolge abrechenbar zu kontrollieren, wird im Rahmen der Behördenansiedlungsoffensive BAO), die bereits vom letzten Kabinett Merkel angeschoben worden war, eine Nationale Kreislaufbehörde (NKB) gegründet, die Unternehmen und Privathaushalten helfen soll, den erhöhten Dokumentationsaufwand auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft regelgerecht zu bewältigen. Die NKB könnte auch federführend dabei mitwirken, absehbar fehlende Sekundärrohstoffmengen zur Verfügung zu stellen.

Sonntag, 23. Juni 2024

Sehnsucht der Völker: Wo bleibt die EU-Nationalmannschaft?

Die Trikot der neuen EU-Nationalmannschaft sind schon lange fertig: Eigentlich sollte schon 2020 soll eine gemeinsame EU-Elf für Europa antreten.
 
Sie war schon vor sechs Jahren versprochen, ein Mittel im Kampf gegen rechten Nationalismus und linke Spalter, eine Hoffnung der Völker auf mehr Gemeinsamkeit und Frieden. Doch obwohl die damalige EU-Kommission glasklar erkannt hatte, dass die Zeiten großer Fußballturniere nicht nur immer eine gute Gelegenheit sind, unangenehme Entscheidungen zu treffen, sondern auch Tage, in denen das alte, grausame Gespenst des Nationalismus aus seinem Keller kriecht, wurde bis heute nichts aus dem kühnen Plan einer Mannschaft für alle.
 
Wie das Klimageld, die gemeinsame EU-Armee und die für 2025 versprochenen "Vereinigten Staaten von Europa" ist der Traum von einer einheitlichen EU-Nationalmannschaft, in der die Europäer endlich miteinander statt gegeneinander spielen, ein Phantom geblieben. Das Nationale, zuletzt von der SPD im EU-Wahlkampf offensiv genutzt, ist den strammen Nationalisten offenbar immer noch zu nützlich, um sich Mehrheiten zu sichern, als dass sie auf die Sehnsucht der Völker Rücksicht nehmen, die nicht mehr zu selbstsüchtigen nationalen Regungen verleitet und von betont vielfältig gekleideten Mannschaften gegeneinander in Stellung gebracht werden wollen.

Die Nation als das Trennende

Wenn die Fahnen wehen, ist der Verstand in der Trompete, hat Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller gesagt. Ein Satz, der später ein altes ukrainisches Sprichwort wurde, weil er gut beschreibt, wie Sport spaltet, der Teamgedanke zu Ressentiments führt und selbst fortschrittliche Geister plötzlich in atavistische Reflexe zurückfallen, bei denen das Gegenüber nicht mehr Mensch ist, sondern Schotte, Ungar, Türke mit Ruhrgebietswurzeln, Schwarzer, Weißer oder Pole, der auch schon in Hamburg gespielt hat.

So sehr sie die Gemeinsamkeiten sucht, die sie so selten findet, so sehr fürchtet die EU sich auch nach dem verheerenden Rechtsruck vom 9. Juni noch vor dem schnellen, entschiedenen Schnitt in den alten Zopf der nationalstaatlich bestimmten Fußballmannschaften. Brot und Spiele und nationalistische Gefühle, sie dienen nicht nur der Ablenkung von den Nöten des Alltags, sondern auch der emotionalen Entlastung: Individuen sind aufgefordert, sich einer Gruppe anzuschließen, in dem sich kleiden wie andere Mitglieder, dieselben Lieder grölen und dieselben Fahnen schwenken. 

Gegen fragwürdige Regimes

Auf Augenhöhe tritt die Gefühlsgemeinschaft dann an gegen die fragwürdigen Systeme aus Ungarn und der Türkei. Man misst sich beim Laufen und Schießen mit einem Land wie der Schweiz, gegen das seit Jahren strenge Sanktionen verhängt worden sind. Und selbst den Russlandfreunden aus Serbien und den georgischen Vertretern, die gerade die Werte der EU verraten haben, begegnen die Kicker der Demokratien als Sportsmänner.

Dass die Kraft der gemeinsamen Werte sich zum Teil gegenseitig aufhebt, wenn die Niederlande Polen schlagen oder die Portugiesen Tschechien, ist ein trauriges Kapitel der Uneinigkeit, die in der größten Staatengemeinschaft der Menschheitsgeschichte nicht nur über die EU-Armee und die neue EU-Außenbeauftragte, sondern auch über die gemeinsame EU-Nationalmannschaft herrscht.
 
Dass Nationen eine längst überholte Idee des 19. und 20. Jahrhunderts sind und "Nationalmannschaften" nur ein obsoletes Vehikel, um die großen Nationenkriege auf dem Sportplatz nachzuspielen, weiß jeder. Doch den Schritt zu gehen und als EU voranzumarschieren, indem die derzeit 27 Nationalteams zu einer Mannschaft zusammengelegt werden, davor scheuen alle zurück.

Fußball am Ende der Nation

Dabei hatte der deutsche Kommissar Günther Oettinger schon vor vielen Jahren "mehr Gemeinsamkeit" in der EU gefordert und damit die Arbeit an der Verordnung EG-BKSport 08/2018 ausgelöst, die offiziell "Verordnung über die Annäherung der Fußballnation Europa" hieß. Das EU-Gesetz, das die Mitgliedsstaaten ursprünglich bis zur Winter-WM in Katar hatten umsetzen sollen, ebnete den Weg einem einheitlichen Fußball-Europa. Das Ziel war festgeschrieben: Statt einer Vielzahl von Nationalmannschaften der einzelnen Mitgliedsstaaten der Union sollte nur noch eine einheitliche EU-Nationalmannschaft als völkerverbindendes Identifikationsangebot für alle Europäer an den Start gehen.
 
Aus 27 mach 1, das würde auch der Fußball-Europameisterschaft neues Leben einhauchen. Nicht mehr die immer gleichen würden von Sieg zu Sieg eilen, denn 15 der 16 Plätze im Euro-Starterfeld, die derzeit EU-Staaten blockieren, wären frei für mehr Vielfalt und Diversität am Ball. Andorra, Island und Bosnien könnten dabeisein, Monaco, Montenegro und Norwegen. Es würde sogar reichen, um neben England und Schottland auch Nordirland und Wales mitspielen zu lassen. Selbst Israel, das wegen der Weigerung seiner Nachbarn, gegen die einzige Demokratie im Nahen Osten anzutreten, ohnehin in den europäischen Wettbewerben antritt, hätte eine sichere Teilnahmeperspektive.

Eine erste Internationalmannschaft

Aber natürlich keine Titelaussichten. Eine gemeinsame europäische Mannschaft wäre vermutlich auf Jahre hinaus unschlagbar, sie würde den Weltfußball zu dominieren. Ein probates Mittel in Zeiten, in denen es keine Kleinen mehr gibt und einzelne EU-Länder allein kaum noch Aussichten auf Erfolg haben. Über die Mittel und Wege, eine solche europäische Nationalmannschaft zusammenzustellen, verfügt die EU längst: Nach dem Vorbild der EU-Kommissare könnte jeder Mitgliedsstaat einen Kicker entsenden, den einen Platz zu viel, den das Regularium der Uefa nicht hergibt, übernähme der Trainer.

Günther Oettinger hat darin seinerzeit auch eine emotional unumgängliche Weichenstellung gesehen. "Die Union ist ohne gemeinsame Internationalmannschaft unvollständig", mahnte er vor Jahren schon. In Abstimmung, aber mit einfacher Mehrheit, um Entscheidungsprozesse zu beschleunigen, könnte der EU-Rat über Aufstellung und Taktik abstimmen und die Quotierung der Einsatzzeiten der einzelnen Vertreter der Mitgliedsstaaten überwachen. Mit einem System aus Setzen, Losen und Rotieren soll sichergestellt werden, dass die Aufstellung der EU-Elf stets sportlich fair als politischer Kompromiss ausgehandelt wird.

Neue deutsche Härte: Mission Handelskrieg

Auf seiner ersten China-Reise zeigte Robert Habeck harte Kante und diplomatisches Geschick.

Es war ein schönes Abschiedsgeschenk, das die scheidende EU-Kommission im Moment ihrer Abwahl gepackt hatte. Nachdem der Plan, Elektroautos durch Wünsche, Bitten und Anweisungen billiger zu machen, gescheitert war, griff Ursula von der Leyen zum vorletzten Mittel. Nur neun Monate nach der Ausrufung des Kampfes gegen "billige Elektroautos aus China, die den Weltmarkt überschwemmen", erklärte die Kommission die angekündigte Untersuchung für beendet. Und kündigte für den Juli die Erhebung von Extra-Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge an, die mit 33.000 bis 73.000 Euro viel zu preisgünstig seien.

Ein europäischer Geschwindigkeitsrekord

Für die Union ist es ein Rekord. Nie zuvor ist eine Prüfung zur Einführung neuer Zölle schneller über die Bühne gegangen. Niemals hat Europa einem Handelspartner nach der Ankündigung eines solchen Schrittes eine kürzere Frist zur Veränderung seiner Praktiken gesetzt. Drei Wochen gewährte die Kommission der Regierung in Peking, der Ursula von der Leyen nicht verziehen hat, wie sie als Spitzenrepräsentanten der größten Staatengemeinschaft der Menschheitsgeschichte bei einem Besuch vor einem Jahr an den Katzentisch gesetzt worden war. 

Nach chinesischen Gepflogenheiten eine Kriegserklärung, die das kommunistische Regime umgehend mit der Ankündigung eigener neuer Zölle beantwortete. Alles erinnert an den Zollstreit mit den USA, der auch nach fünf Jahren nicht beendet, sondern nur auf die lange Bank geschoben worden ist. 

Niemand wird gewinnen

Niemand wird am Ende etwas gewinnen. Jeder weiß das. Doch während mit der Schutzmacht in Übersee auch mitten im Zank Normalbetrieb simuliert werden kann, steht dem bei einer Konfrontation mit Peking der chinesische Hang entgegen, um jeden Preis sein Gesicht wahren zu müssen. Chinesen, wie die meisten Asiaten, lassen sich alles sagen. Aber höflich, durch die Blume. Wer sie unter Druck setzen und zu etwas zwingen will, darf das. Aber nicht so, dass es danach aussieht, er wolle Druck ausüben und sein Gegenüber zu etwas zwingen.

Annalena Baerbock, die vom Völkerrecht kommt, weiß das genau. Im Zuge der Umsetzung der neuen deutschen China-Strategie bezeichnete sie Chinas Großen Vorsitzenden Xi als "Diktator" , um klarzumachen, wer am längeren Hebel sitzt. Die Machthaber in Peking waren wie geplant außer sich.  Baerbocks Diplomaten heilten den Schaden, indem sie Peking auf ein altes, auch in China schon fast vergessenes Sprichwort hinwiesen: 谁会因为愚人误解了自己的话而对他怀恨在心呢? Auf Deutsch so viel wie: Wer wird dem Toren nachtragen, dass er sich im Wort vergreift?

Ohne Töpfchen voller Honig

Dennoch stand Robert Habeck auf seiner ersten China-Reise unter besonderer Beobachtung. Würde er ähnliche Fettnäpfchen finden und ebenso entschlossen hineintreten? Oder würde er Töpfchen voller Honig dabeihaben, um Deutschlands größten Handelspartner zu beschwichtigen? Setzt der wegen der wankenden und schwankenden deutschen Industrie schwer angeschlagene Klimawirtschaftsminister auf Zuckerbrot oder Peitsche, um Peking auf Linie zu bringen?

Ehrensache. Habeck hat "harte Kante" (ZDF) gezeigt, seine Reise gleich mit "deutlichen Aussagen" gestartet, die chinesische Regierung vor wirtschaftlichen Konsequenzen ihrer Unterstützung für Russland gewarnt, Menschenrechte angemahnt und die chinesische Seite aufgefordert, "die Befunde der EU-Kommission" zu der von Brüssel als "Marktverzerrung" bezeichneten E-Auto-Schwemme "ernst" zu nehmen und die allzu erfolgreichen heimischen E-Mobilitätskonzerne BYD, Nio oder Xpeng entschlossen zurückzupfeifen.

Daheim ein voller Medienerfolg

Zumindest in den Medien daheim entpuppt sich die waghalsige Strategie als voller Erfolg. Dass der Mann, der im kommenden Jahr Kanzler werden muss, wenn es nach den großen Kommentarfabriken in Berlin, Frankfurt, Hannover und Hamburg geht, sich nicht von den Kräfteverhältnissen auf der deutsch-chinesischen Handelswippe irritieren lässt - zuletzt führte Deutschland Waren im Wert von 157,2 Milliarden Euro aus China ein, exportierte aber nur noch Waren im Wert von rund 97,3 Milliarden Euro - hielt den Mann aus Lübeck nicht von ab, die Gastgeber gemäß einer alten chinesischen Tradition streng ins Gebet zu nehmen.

Brüskiere sie, traktiere sie und warte dann, bis sie nachgeben, das ist die Strategie, mit der Deutschland den "Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen" (Baerbock) in die Knie zwingen will. Robert Habeck hat in China klargemacht, dass die neuen EU-Strafzölle ebenso wie der vor dem Endausbau stehende grüne Zoll mit dem Namen "CO₂-Grenzabgabe" auf Beschluss der EU-Kommission nicht als Strafzölle" bezeichnet werden dürfen, wie es die Hamburger "Zeit" tut. Es handele sich vielmehr um Wettbewerbsgleichheitsherstellungzölle, die vielleicht gar nicht hätten verhängt werden müssen, wenn es "die Unterstützung von China gegenüber Russland nicht geben würde".

Der kann Diplomatie

So aber bleiben nur Strafe und Züchtigung. Peking hat die Botschaft verstanden. Ohne Begründung wurde ein Treffen mit Ministerpräsident Li Qiang abgesagt, um eine würdige Antwort zu geben. Deutschland verwandelte den natürlich fest verabredeten Termin daraufhin kurzerhand in ein "erhofftes Treffen" mit der Nummer Zwei. Habeck musste den Überraschten spielen: Er wisse auch nicht, warum Qiang ihn nicht sehen wolle, sagte der Bundesklimawirtschaftsminister. 

Wenigstens Handelsminister Wang Wentaoerbarmte sich. Und beschrieb den Abschottungsversuch der EU für chinesische Verhältnisse gnadenlos undiplomatisch als Einsatz wirtschaftlicher "Waffen". Robert Habeck, ohne Mandat der Wertegemeinschaft zu Verhandlungen um eine Beilegung des Konflikts angereist, schaute erschrocken. Damit hatte niemand rechnen können. Für die Tribüne daheim schlug er anschließend vor, die nicht einmal ein Jahr alte deutsche China-Strategie umgehend "neu auszurichten".  

Ein Satz, der zeigt, dass der grüne Hoffnungsträger Diplomatie kann: Er sagt alles, aber nichts, er klingt überaus bedeutsam, bleibt aber zugleich vollkommen inhaltsleer.

 

Samstag, 22. Juni 2024

Zitate zur Zeit: Was das Messer nicht heilt

Keine Kampagne ist völlig umsonst, alle kosten sie, und sei es nur Vertrauen.

Was mit Arzneien nicht geheilt werden kann, wird mit dem Messer geheilt; was das Messer nicht heilen kann, wird mit dem brennenden Eisen geheilt; und was immer dies nicht zu heilen vermag, muss als unheilbar betrachtet werden.

Hippokrates beschrieb schon um 480 v. Chr., wie sich die Vielzahl der endgültigen gemeinsamen EU-Lösungen auf grundsätzliche Einigungen bei allem an der Wahlurne auszahlen

Nazi-Immobilien: Prahlen mit Zahlen

Nazi-Immobilien sind nach jeder Vorlage des Verfassungsschutzes ein gigantisch großes Medienthema. Dabei beträgt der Anteil der von Rechtsextremen genutzten Häuser in Deutschland gerade mal 0,0009 Prozent

Wer mit der Wahrheit lügen will, mit reinen, puren, ungeschminkten Fakten Meinung machen und dabei nicht erwischt werden, dem rät das Lehrbuch des klassischen Demagogiefaches "Lügen mit der Wahrheit" Zahlen ohne jeden Bezug zu präsentieren, den Kontext von Daten wegzulassen und in Grafiken zeichnerisch Wertungen zu setzen, die mit den abgebildeten Werten nichts zu tun haben.  

Erprobte Manipulationsmethoden

Alle diese Methoden sind ausgiebig erprobt, alle funktionieren problemlos, weil die deutschen Medien bereit sind, zugunsten beunruhigender Botschaften auf jede Nachfrage zu verzichten. Je schlimmer, desto besser. Und je bedeutsamer die Behörde ist, die eine Alarmmeldung verbreitet, desto hingebungsvoller wird aus den zumeist kargen Fakten eine Nachricht gedrechselt, die den Auftraggeber zufriedenstellt.

Der ist oft nicht einmal gezwungen, irgendwelches Material bereitzustellen, aus dem sich hochwirksame Gräuelmärchen herstellen lassen. Als das Bundesamt für Verfassungsschutz jetzt gezwungen war, nach Jahren des immer intensiver geführten Kampfes gegen rechts einen Anstieg der extremistischen Bedrohungen an allen Fronten einzugestehen, griffen die Informationsdesigner der Behörde, deren Personalbestand sich in den letzten sechs Jahren um 38 Prozent erhöhte, zu einem beliebten Taschenspielertrick, mit dem die Aufmerksamkeit von den zunehmenden antisemitischen, islamistischen und linksextremen Angriffen zurück auf die von Bundesinnenministerin Nancy Faeser als besonders bedrohlich ausgemachte rechte Gefahr gelenkt wurde.

Ablenkung mit Immobilien

Die Immobilien müssen die Angst vor dem Rechtsruck retten, wenn schon die Zahl der Linksextremisten schneller steigt als die der Rechtsextremisten und am Ende der Diskussion um die Radikalisierung der Klimabewegung die amtliche Entscheidung steht, eine bisher hochangesehene Widerstandsorganisation wie "Ende Gelände" als extremistischen Verdachtsfall einordnen zu müssen, tut eine "Analyse des Verfassungsschutzes" (Der Spiegel) not, die belegt, dass "Rechtsextreme immer mehr Immobilien im Osten anhäufen". Mögen ihnen auch die Leute ausgehen. An "Restaurants, Kampfsporthallen, Konzertsälen", mit denen sich "Rechtsextreme eigene Parallelwelten aufbauen" (Zitate Spiegel) herrscht kein Mangel.

So scheint es zumindest. 2022 befanden sich der Verfassungsschutzanalyse zufolge 210 Immobilien im Besitz von Rechtsextremen oder sie wurde zumindest von Rechtsextremen genutzt, waren an diese verpachtet oder vermietet. Damit habe sich die Zahl "der erfassten, rechtsextremistisch genutzten Immobilien seit 2017 fast verdoppelt", zitiert ein Medienchor von "Tagesschau" bis RND und Westdeutsche Zeitung den erschütternden Befund. Aus 136 rechtsextremistischen Objekte wurden 210, ein Anstieg von 47 Prozent in nur sieben Jahren, pro Jahr also fast 6,5 Prozent.

Schlimm wiedermal dieser Osten

Und, niemand versucht das zu verbergen, weil es besonders alarmierend ist: 61 Prozent der bundesweit 210 rechtsextremistisch genutzten Immobilien stehen in den Bundesländern Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin, obwohl die Fläche der alten Bundesrepublik mehr als doppelt so groß ist.

Liegt an den Preisen? Oder wieder an der ostdeutschen Wesensart, die bekanntermaßen ganz besonders schlimm zum Rechtsextremismus tendiert? Fragen, die die vom Verfassungsschutz angeregte deutschlandweite Aufregungswelle nahelegt: Im Handumdrehen sind nicht nur drei Viertel aller bekannten Extremisten in Deutschland komplett verschwunden. Sondern das verbliebene Viertel der Rechtsextremen ist nun auch zusammengekocht auf ein Problem, das weit im Osten spielt, in den "Ländern, in denen die Szene besonders aktiv ist" (Spiegel).

Spiel mit amputierten Daten

Es ist ein grandioses Spiel mit amputierten Daten, selbstausgedachten Kategorien und dem bewährten Hantieren mit Prozentzahlen, das die Medien in einen Zustand so kompletter Besinnungslosigkeit versetzt, dass sie den Brei aus beziehungslos aneinandermontiertem Blödsinn begeistert ins Land blasen. Aktuell gibt es in Deutschland rund 19,3 Millionen Wohngebäude, dazu kommen weitere vier Millionen Gewerbeimmobilien. Rechtsextremisten besitzen oder nutzen - die Kategorisierung des Verfassungsschutzes ist hier ganz bewusst sehr offen gehalten - damit knapp 0.0009 Prozent aller Gebäude im Land. 

Mit anderen Worten: Etwa jedes 115.000 Haus. Die "Parallelwelten" (Spiegel) sind winzig kleine Inseln im Nirgendwo, Häuschen im Braunen, die untergehen in einem Meer aus unpolitischen Gebäuden. Wer eine Nazi-Immobilie finden will, muss lange, lange Wege gehen. 0,0009 Prozent Nazi-Nutzung liegen sogar noch deutlich unter dem amtlichen Anteil der Rechtsextremisten an der Gesamtbevölkerung, die nach Angaben des Verfassungsschutzes seit Jahren bei etwa 0.05 Prozent stagniert. Jeder 2.000 Deutsche ist danach Rechtsextremist, dennoch wird nur jedes 115.000. Haus von Nazis genutzt. 

Dieses recht rätselhafte Phänomen einer eklatanten Unterrepräsentation bezeichnen deutsche Medien dann als "Vernetzung".

Freitag, 21. Juni 2024

Überall nur Wetter: Das Klima zeigt die kalte Schulter

Überall nur Wetter: Das Klima zeigt die kalte Schulter
Der Höllensommer lässt im Moment noch auf sich warten.

Sommeranfang, endlich auch meteorologisch, und immer noch kein Klima. Die Vorschaukarten zeigen ein müdes Gelb, allenfalls Orange. Die Ansager müssen immer weiter abschweifen, um Mahnen und warnen zu können. Indien sei sehr heiß. In Saudi-Arabien habe ein offenbar mit Haltung, Betragen und Einstellung seiner Gläubigen ganz und gar nicht einverstandener Gott mehr als tausend Pilger durch Hitzeschläge getötet.  

Schüler leiden am schlimmsten

Eine ARD-Reportage aus Rom zeigt die am schlimmsten Betroffenen: Eine deutsche Schulklasse leidet am Trevi-Brunnen. Es ist Ende Juni und schon sind beinahe 38 Grad. Der Asphalt würde glühen, wäre es noch wärmer. Hätten wir das gewusst, sagt eine der Schülerinnen, dann wären wir nicht gekommen. 

Auch aus den USA und Griechenland kommen ähnliche Meldungen. 36 Grad in Athen. Amtliche Hitzewarnung für Teile der USA: Der US-Metropole Detroit im Bundesstaat Michigan droht die "schwerste Hitzewelle seit mehr zehn Jahren". Es werden Temperaturen oberhalb der 35 Grad Celsius erwartet. Ein "Heat Dome", zudem der erste für die deutschen Medienlandschaft. Der Lake Michigan würde verdunsten, wäre es noch wärmer.

Höllensommer lässt auf sich warten

Nur in Deutschland, einem Klimavorreiter, lassen Hitze- und Höllensommer auf sich warten. Trotz des im letzten Jahr verabschiedeten Bundeshitzeschutzplanes (BHSP) und der folgenden energischen Anstrengungen, eine bundesweite Infrastruktur aus Trinkbrunnen, Hitzeschilden und begrünten Innenstädten zu errichten, zeigten sich die Monate seitdem durchweg zu warm. Gerade die kalte Jahreszeit war viel zu heiß, vor allem nachts. Nun aber scheint der Trend zu kippen: Detailgenau widmen sich die Nachrichtensendungen und Klimaredaktionen den Orten, an denen es "überall zu heiß" (Die Zeit) ist.

Es geht darum, dem falschen Eindruck entschlossen zu begegnen, dass es derzeit etwas "kühl" (Der Westen), windig und regnerisch ist und die "globale Hitzewelle" (Die Zeit) so global nicht sein kann, wenn man sie vielerorts gar nicht spürt. Orte, die in der ausgedünnten Auslandsberichterstattung normalerweise keine Chance haben, jemals erwähnt zu werden, wenn es nicht den Papst dorthin verschlägt oder Wladimir Putin zu Besuch kommt, werden als Zeugen aufgerufen.

Zu spät zu heiß

Im indischen Varanasi, von der ARD einmal auf den Namen "Stadt des glücklichen Todes" getauft, sei "die Hitze unerträglich", und das im Juni, wo doch eigentlich sonst immer im Mai über 40 Grad herrschen. In Mekka sterben Pilger in der Hitze, obwohl sie die vom Bundesgesundheitsminister empfohlene Hitzeschutzbekleidung samt Kopfbedeckung trugen. Griechenland schließt die Schulen, Deutschland die Freibäder

Noch neun Tage Juni, dann wird auch dieser Monat wieder zu warm gewesen sein.

Irgendwo.

Messerzonen: Pflicht zum Kettenhemd

Bereits heute verboten, aber in der Macho-Männer-Szene ein beliebtes Accessoire: Das Einhandmesser.

Niemand wollte auf Nancy Faeser hören. Niemand nahm die Bundesinnenministerin ernst, der ein gewisser Hang zum Bedrohungshopping nachgesagt wird. Stets taucht die Sozialdemokratin dort auf, wo Medien gerade eine akute Gefahr an die Wände malen. Faeser ist es dabei gleich, ob türkischer Enkeltrick oder russische Cyberkrieger, islamischer Sprengstoffanschlag oder reichsbürgerliche Stichverletzung - die Melodie, dass insbesondere der wachsende Rechtsextremismus die größte Bedrohung für das friedliche Zusammenleben bildet, kann Nancy Faeser nachgewiesenermaßen auf jeden Grundton singen.

Gefährder auf dem Schirm

Sie hat zugleich auch immer alle Gefährder auf dem Schirm, mit einem 360-Grad-Blick, der ihr schon vor einem Jahr klar bedeutete, dass es neben den Reichsbürgern und Rechtsextremen vor allem die Messer sind, die Menschen glauben lassen, das Leben in Deutschlands sei nicht mehr sicher.  Während Wissenschaft und Forschung noch zweifelten, ob es überhaupt entsprechende Zahlen gebe, und wenn ja, was sie aussagen wollten, zog Nancy Faeser Konsequenzen. Auch auf die Gefahr hin, dass es aussehen würde wie ein Offenbarungseid der Behörden, forderte sie ein Messerverbot in Zügen und Nahverkehr, "um die Sicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln erhöhen

Doch niemand wollte hören. Zwar schlossen sich die Innenminister der Länder unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit an, doch die Gesellschaft blieb taub. Angeblich sei Deutschland immer noch sicher. Seit den berüchtigten "Baseballschlägerjahren" im Osten sei das Ausmaß an Sicherheit sogar deutlich erweitert worden - niemand müsse mehr vor "national befreiten Zonen" gewarnt werden oder gar davon  abgehalten, als ausländisch lesbarer Besucher ins Land zu kommen. Im Gegenteil: Viele blieben sogar, so dass sich das Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden, immer weiter verringere.

So sicher wie nie

Doch gerade weil Deutschland so sicher ist wie nie seit den Tagen der deutschen Teilung, erregen schon 25 sogenannte Messerattacken pro Tag die Aufmerksamkeit der Politik, die eine Gelegenheit sieht, sich selbst als Ordnungskraft zu inszenieren. 9.000 Fälle von Messergewalt jährlich bedeuten zwar, dass nur einer von 10.000 Bürgerinnen und Bürgern pro Jahr Opfer eines "Vorfalls mit einem Messer" (Der Westen) wird. Doch diese 0,01 Prozent der Bevölkerung reichen Politikern aller Parteien, eine Messerkrise inszenieren, die es so nach Erkenntnissen von Faktenfindern gar nicht gibt.

Im politischen Berlin aber ist die Verzweiflung nach der Abfuhr bei der EU-Wahl parteiübergreifend gewaltig. Schon vor Jahren sind die symbolischen Messerverbotszonen eingeführt worden, zulässige Klingenlängen wurden beschränkt, sogar das Mitführen illegaler Waffen per Gesetz unterbunden. Doch gereicht hat es nicht. Im Unterschied zu einer Zeit, als niemand irgendeine Notwendigkeit sah, Angriffe mit blanken Waffen statistisch zu erfassen, haben die Deutschen zuletzt eine beängstigende Vorliebe für Hieb- und Stichwaffen entwickelt: Messermänner sind Einzelfälle, sie treten allerdings gehäuft auf. Eine neue Messerkultur, der bisherige klare Antworten des Rechtsstaates offenbar nicht ausreichen.

Gegen den Widerstand der Wissenschaft

Gegen den Widerstand der Wissenschaft, die Messer als Auslöser von Vorfällen wie in Mannheim, Wolmirstedt, Gmünd und Frankfurt noch infrage stellt, regiert der Generalverdacht. Wie zuvor schon Nancy Faeser hat auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann nun "ein generelles Verbot des Mitführens von Messern an öffentlichen Plätzen und Bahnhöfen" gefordert und die Innenminister der Länder sind einer niedersächsischen Initiative vom vergangenen Jahr beigesprungen, die die verbale "Bekämpfung der zunehmenden Messerkriminalität" zum Ziel hat. Neben einem Verbot sämtlicher Springmesser soll es in Deutschland künftig untersagt sein, Messer mit einer feststehenden Klinge ab sechs Zentimetern mit sich führen, die als Verantwortliche, Ursache und Auslöser von so viel Messerleid und Messerschmerzen gelten.

Es ist nun doch so weit. Das radikale, allumfassende und ausnahmslose "Total-Verbot" (Die Welt) für "Macho-Messer", das "unser Land sicherer machen würde als jede Islam- oder Hartz IV-Debatte" (Welt), es kommt. Eine Liste der Innenminister der Länder führt detailliert auf, was alles außer dem verboten wird, was schon verboten ist, um die rätselhafte Messerkriminalität weiter einzudämmen.

Kettenhemd statt Akkubohrmaschine

Vom Küchenmesser über das Brotmesser bis zum Klappmesser, von dort weiter zu übergroßen Brieföffnern, kleinen Beilen und großen Äxten, auch Hämmern und spitzen Rundfeilen, Schraubenziehern, Akku-Bohrmaschinen, Nagelfeilen und Zimmermannsnägeln fällt vieles darunter, das derzeit noch anmeldungsfrei transportiert werden darf. Es gebe es "keinen vernünftigen Grund, dergleichen Gegenstände mit sich zu führen", heißt es im politischen Berlin.

Verfassungsrechtliche Bedenken, wie sie hier und da geäußert werden, könnte die große Koalition aus Ampelparteien und der in den Ländern regierenden Union plus der Linkspartei am Ende allerdings auch umgehen. Eine Pflicht zum Tragen eines Kettenhemdes könnte, so hieß es am Rande der Innenministerkonferenz, der einfachere und wirksamere Weg sein, Deutschland noch sicherer zu machen.


Donnerstag, 20. Juni 2024

Hautfarbenfetisch: Grüne, die auf Schwarze starren

Manchen sehen Fußballer, die Grüne Katrin Göring-Eckardt erkennt Hautfarben, Wurzeln und Blutlinien.

Die meisten Menschen sehen Fußballer, schnelle Fußballer und langsamere, wendige, flinke und eher kantige Typen, groß, klein, mit langem und mit kurzem Haar. Zweifarbig bekleidet mindestens, stürmen sie über die Plätze, junge Leute, die ein großes Talent teilen, gemeinsam eine große Ehre tragen und das Glück haben, mit all dem auch noch sehr viel Geld zu verdienen.  

Die meisten Menschen sehen junge Männer, die sich anstrengen, junge Männer, die jubeln oder todtraurig zusammensinken. Die meisten Menschen freuen sich mit, wenn ihre Mannschaft gewinnt. Die meisten Menschen sind in der Lage, dies zu tun, ohne den Drang zu spüren, die andere Mannschaft dafür zu hassen. Selbst wenn die eigenen Lieblinge verloren haben, schaffen sie es irgendwie, mit dem normalen Leben weiterzumachen. Nur einmal, in Südamerika, endete ein Fußballspiel mit einem Krieg. Selbst damals vergaßen die entsetzten Zuschauer, durchzuzählen, wie viele Weiße, Schwarze oder Bunte auf dem Platz gestanden hatten.

Den Finger in der weißen Wunde

Katrin Göring-Eckardt ist allerdings eben gerade nicht die meisten Menschen. Als Bundestagsvizepräsidentin obliegt es der Frau aus Thüringen, die ihre politische Karriere einst als "Bürgerrechtlerin" gestartet hatte, den Finger in die Wunde zu legen, zu mahnen, zu warnen und, nicht zuletzt, im Blick zu behalten, was den Millionen am Bildschirm und in den Stadien nicht immer gleich und oft gar nicht ins Auge fällt. 

Dass die Strompreise sinken, konnte die Grüne Spitzenpolitikerin deshalb schon sehen, als es noch gar nicht so weit ist. In ihrem barock ausgestatteten Büro entstanden die großen Pläne für das Schrumpfen der Wirtschaft bei strikter Beibehaltung einer gestärkten Demokratie. Dass Deutschland einen Parlamentspoeten braucht, der gleich dem Imbongi in traditionellen afrikanischen Stammesgesellschaft Politikerinnen und Politikern als bezahlter Lobsänger voranherschreitet, um dem gemeinen Volk die Güte, die Macht und die wunderbaren Taten seiner Anführer zu verkünden, vermochte sie nicht durchzusetzen. Doch das lag allein an der FDP.

Bei unpassendster Gelegenheit

Katrin Göring-Eckardt ist von der Herkunft und der Abstammung Ostdeutsche, aber niemand merkt ihr das mehr an. Sie hat es geschafft, westdeutscher zu sein als die Westdeutschen selbst, mit höchstsensiblen Fühlern vermag sie Risse, Spalten und Verwerfungen in der Gesellschaft aufzuspüren, die andere nicht einmal entdecken würden, wären sie kopfüber hineingestürzt. Göring-Eckardt weiß um ihr so seltenes Talent. Und sie nutzt es bei jeder Gelegenheit. Und sie nimmt niemals Rücksicht darauf, dass sie absolut unpassend ist. 

Fußballspiele etwa, auch und besonders siegreiche, sind für die 58-jährige aus Friedrichroda, einer Reißbrettgründung der Thüringischen Landgrafen, die den neuen Ort um das Jahr 1100 herum mit Migranten aus den übervölkerten Dörfern Innerthüringens bevölkerten, ein Anlass, durch Spielertrauben und Trikots hindurchzuschauen und die ganze Wahrheit zu betrachten: Manche der jungen Leute auf dem Platz haben helle Haut, manche dunklere, manche erscheinen sogar beinahe schwarz. Für viele Zuschauer mag das nicht wichtig sein, weil sie zuschauen, um hochklassigen Sport zu sehen und hoffen, dass die eigene Elf gewinnt.

Fetisch Hautfarbe

Doch Katrin Göring-Eckardt geht ein anderer Gedanke durch den Kopf. "Stellt Euch kurz vor, da wären nur weiße deutsche Spieler", hat sie vorgeschlagen, während die nun wieder als "Nationalmannschaft" gelabelte ehemalige "Mannschaft" des DFB sich ihren zweiten Sieg bei der EM erarbeitete. Huch. In einem Moment trugen noch alle deutschen Spieler das Vielfaltsdress in shoking pink, eine Art Regenbogen zum Anziehen. Und nun sind da weiße deutsche Spieler. Und offenbar auch - erwähnt werden sie nur als Auslassung - schwarze deutsche Spieler. Wunder der Wahrnehmung: Katrin Göring-Eckardt ist eine Grüne, die auf Schwarze starrt, wenn sie Menschen in lila Leibchen sieht.

Sie kann nicht anders. Es ist ein Fetisch, ein unwillkürlicher rassistischer Reflex, ein tiefsitzendes Bedürfnis, Menschen nach äußerlichen Merkmalen in Gruppen einzuteilen und diese Gruppen entlang einer von frühen kindlichen Prägungen geschaffenen Rangliste zu ordnen. Jede Gelegenheit ist gut genug, missbraucht zu werden. Kein Sport ist unschuldig. Kein Turnier kann einfach nur sportliches Kräftemessen sein. Jedes Tor, jedes Abseits, jeder Pfostentreffer bietet sich an, mit einer politischen Botschaft beladen und im Namen Hetze, Hass und Zweifel ausgeschickt zu werden, um zu provozieren, zu spalten und sich selbst auf einen Sockel zu stellen, von dem aus der Ruf ertönt: Ihr seid schlecht. Ihr seid rückständig. Ihr seid längst nicht so gut und fortschrittlich wie ich.

Blutlinien und Hautfarben

Die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer wissen es nicht. Doch Expert*innen, die ähnlich auf Blutlinien und Hautfarben fixierte sind wie Katrin Göring-Eckardt, haben längst nachgezählt. Neun Spieler der deutschen Nationalmannschaft haben danach einen sogenannten "Migrationshintergrund", ihre familien haben also zu Odins Zeiten noch nicht dort gelebt, wo heute Deutschland liegt. Die vier Ostdeutschen sind dabei nicht mitgerechnet, ihr Migrationshintergrund ist oft nur anhand der Geburtsurkunden zu erkennen.

Viele sind es mittlerweile leid, beständig nach Wurzeln graben zu sollen und Hochachtung zu empfinden, weil der eine Spieler nur einen Pass hat, der andere aber die Möglichkeit gehabt hätte, auch "für das Heimatland seines Vaters" (ARD) zu spielen. In einer Umfrage hatten kürzlich 21 Prozent der Deutschen angegeben, dass sie es "besser" fänden, wenn "wieder mehr Spieler mit weißer Hautfarbe in der deutschen Nationalmannschaft spielen würden".

Sie sehen keine Mannschaft

Diese Leute haben es schon geschafft. Sie sehen keine Mannschaft, die sich für ein gemeinsames Ziel anstrengt, sondern Herkünfte, Abstammungen, Hautfarben und Blutlinien, die ihnen mal besser erscheinen und mal verachtenswert. Sie denken wie Katrin Göring-Eckardt in Schablonen, sie unterscheiden Menschen nach der äußerlichen Ähnlichkeit zu sich selbst und sind nicht in der Lage, sich über einen sportlichen Erfolg zu freuen. 

Zumindest nicht, ohne ihn als Mittel zur Propaganda für ein Thema zu benutzen, dass ihnen so wichtig erscheint. So wichtig, dass sie jederzeit bereit sind, ihm schweren Schaden zuzufügen, nur um selbst für einen Moment als jemand dazustehen, der so edel, hilfreich und gut ist, dass er dort, wo andere einfach Fußballern zuschauen, immer lauter Menschen mit Migrationshintergrund betrachtet, die an der Seite von Schonlängerhierlebenden nicht für ihr Land spielen, sondern versuchen, das prächtige Bild einer Integrationsgesellschaft zu malen.