Mittwoch, 15. Mai 2024

EU-Migrationspaket: Innen an den Außengrenzen

Eine EU-Außengrenze von außen. Innen kommt dann das Lager an der Außengrenze hin.

Das wird ein Quantensprung, ein Neuanfang, ein gemeinsamer großer Wurf. Neun Jahre nach der für "in 14 Tagen" angekündigten europäischen Lösung für das Zustromproblem Europas ist es nun so weit: Auch das EU-Parlament in Brüssel hat dem EU-Migrationspaket kurz vor Dienstschluss noch zugestimmt.

Schärfere Regeln

Die "schärferen EU-Asylregeln" (Spiegel) sind damit "endgültig beschlossen". Nach einem Jahrzehnt des Streits und des Haders greifen nun bald nicht nur Unterstützungsmaßnahmen für EU-Staaten, in denen besonders viele Migranten ankommen, finanziert von denen, die niemanden aufnehmen sollen. Sondern auch sogenannte "schnelle Asylverfahren an den EU-Außengrenzen", eine magische Idee aus dem Mai vergangenen Jahres, die sich an der britischen Ruanda-Lösung orientiert, ohne allerdings das gleiche Maß an brutaler Unmenschlichkeit so demonstrativ heraushängen zu lassen, dass Reiselustige in aller Welt ihre Pläne ändern.

Ja, es ist zweifelsohne die wichtigste Änderung im Vorfeld der anstehenden EU-Wahlen: Ein Teil der Asylverfahren soll künftig "direkt an den Außengrenzen" stattfinden. Wer aus einem Land mit einer niedrigen Anerkennungsquote kommt, muss dort ausharren, bis wie früher nach ganz individuellen Gesichtspunkten über seinen Antrag entschieden ist. 

Das soll ganz besonders flott gehen, ein paar Wochen, dann steht das Urteil. Anschließend, so ist es geplant, führt der negative Bescheid sofort zur Abschiebung. Die Mitgliedstaaten hoffen, so abschreckende Beispiele dafür zu schaffen, dass sich sogenannte irreguläre Migranten gar nicht mehr auf den Weg machen, weil sie wissen, dass nach ein paar Wochen Lagerhaft "an der Außengrenze" die Heimreise ansteht.

Strong against smugglers

Ein "Eigentor" nennt das teilstaatliche Portal T-Online, der Deutschen liebste Nachrichtenquelle, die Sprachformel, deren Verabschiedung EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola zum "historischen Tag" erklärt hat, weil sie "strong against smugglers" sei. Ein starkes Zeichen nach innen wird damit gesetzt, denn die in Deutschland standardmäßig benutzte Formulierung "an den Außengrenzen" soll betonen, dass niemand reinkommt, der gleich wieder rausmuss. 

"These migrants will not be allowed to enter the country's territory and instead be kept at facilities on the border", umschreibt es die Asylum Procedures Regulation (APR) genannte neue Regelung auf Englisch. Wegen geringer Chancen auf Asyl aussortierten Schutzsuchenden wird also nicht erlaubt, das Territorium der EU zu betreten.

Die "Asylverfahren an den Außengrenzen" finden damit also wohl in Nachbarstaaten statt, die nicht zu EU gehören, Bosnien, Albanien, Mazedonien, Norwegen und die Schweiz  hätten dann die Lager zu bauen, in denen die Schnellverfahren in höchsten zwölf Wochen stattfinden. 

"An den Außengrenzen", betont die "Zeit", drohe damit "ein härterer Umgang mit Migranten", denn "jede und jeder muss nach der neuen EU-Asylreform künftig an den EU-Außengrenzen strikt kontrolliert und registriert werden". Wer nur geringe Aussicht auf Schutz in der EU habe, werde ein rechtsstaatliches Asylverfahren "an den Außengrenzen" durchlaufen und im Fall einer Ablehnung von dort direkt nach Hause zurückkehren müssen.

Harte Linie

Vor Jahren schon hatte sich die deutsche Sozialdemokratie für einen Plan starkgemacht, um  solche Auswüchse zu verhindern. Mit einem Fünf-Punkte-Plan spielte die Partei damals geschickt mit den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger vor einer anhaltenden Überfremdung und sie bot zugleich eine ganze Anzahl an einfachen Lösungen an, wie sie für Populisten typisch sind. 

So sah das wegweisende Papier der Partei erstmals vor, dass Europa seine Außengrenzen schützen, Griechenland helfen und Fluchtursachen bekämpfen solle. Weil die meisten Flüchtlinge in Ländern außerhalb der EU unterkämen, wollte die SPD in einem nationalen Alleingang mehr Geld an Staaten überweisen, die bereit sind, Menschen, die sich aus Verzweiflung, Angst und wegen Verfolgung und Krieg und auf den Weg nach Europa gemacht hatten, unterwegs aufzuhalten. Dieses sogenannte türkische Modell sollte  auf alle südeuropäischen und die meisten afrikanischen Staaten ausgeweitet werden - nationaler Alleingang beim Versuch, die weiterhin offenen Grenzen vordem fortexistierenden Anspruch auf Freizügigkeit zu schützen.

Verpuffte Initiative

Doch so smart der Ansatz schien, das Asylrecht als "eine der zentralen Errungenschaften in Europa" zu bewahren, ohne die  Grenzkontrollen, wie sie Deutschland, Frankreich und Dänemark inzwischen seit Jahren widerrechtlich durchführen, weiter auszuweiten, so wenig erfolgreich war er. Obwohl die Spitzen der früheren Arbeiterpartei betont hatten, sie setzten auf "europäische Lösungen", die traditionell jede Verantwortung für jeden Rechtsbruch auf eine Ebene ohne greifbare Verantwortliche verlagern, fiel der Fünf-Punkte-Plan durch. 

Weder die "beschleunigten Verfahren für eine Rückführung" noch zu Lebzeiten der Betroffenen noch die Registrierung, Unterbringung und Durchführung von Asylverfahren außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes in freundlichen, halboffenen Wartecamps, die "den humanitären Standards unseres Kontinents entsprechen", fanden eine gesellschaftliche Mehrheit in den Medien. Dabei hatten die geplanten Aufnahmeeinrichtungen (KZ) ausdrücklich nicht wie geschlossene Lager wirken, sondern den Eindruck von offenen Wohngruppen mit Tagesfreizeit machen sollen. 

Je später, desto schlimmer. Die alte Weisheit, dass rechtzeitig vermiedene unabwendbare Entscheidungen umso fürchterlicher ausfallen, je später sie dann doch getroffenwerden müssen, bewahrheiutet sich auch im neuen Plan des EU-Migrationspaketes. Von einer lange für selbstverständlich gehaltenen klaren Trennung zwischen Einwanderung aus humanitären Gründen und der Einwanderung in den Arbeitsmarkt ist nicht mehr die Rede. Damit künftig weniger "illegale Migranten" kommen, sollen deren Verfahren dorthin verlagert werden, wo aus den Augen und aus dem Sinn sind. Die Einwanderung von teuren Sozialgästen soll damit durch Abschreckung verhindert werden, selbst auf Kosten der ersehnten Zuwanderung billige Arbeitskräften nach dem Bedürfnis der Industrie.

Geniale Ideen, von denen sich Beobachter fragen, warum eigentlich nicht schon früher jemand darauf gekommen ist. Inhaltlich positionieren sich die Sozialdemokraten damit auf jeden Fall zwischen ARD und ZDF, gleichzeitig aber auch zwischen Bild und Spiegel. Ein Coup, denn wenn es der SPD-Parteispitze nun noch gelingt, CDU, CSU, die 27 Partnerländer in Europa und zumindest eine Anzahl an Unterstützerstaaten in Nordafrika und Zentralafrika für ihre wegweisenden Ideen zu gewinnen, dürfte Europa seine Schicksalsstunde unbeschadet überstehen.

Keine Lager außerhalb

Dass von Verhandlungen mit den künftigen Lagerländern bisher so wenig zu hören war, wo doch die Reform die irreguläre Migration begrenze und die Länder, die besonders stark betroffen seien, wie der Bundeskanzler freut kommentiert, liegt an einem Kniff, der aus der Übersetzung der  Abschottungsrevolution in die Formulierung vom "wirksamen Grenzschutz an den Außengrenzen" nicht sofort ersichtlich wird. 

Denn Lager außerhalb der EU wird es nicht geben, mit "an den Außengrenzen" ist in Wirklichkeit "innerhalb der Außengrenzen" gemeint - wer kommt, darf weiter herein, ein echter Zaubertrick, wie ihn vielleicht wirklich nur die EU zu bewirken vermag, verleiht ihm jedoch gleichzeitig den Status "legal fiction of non-entry". Er ist zwar faktisch drin. Aber praktisch weiter draußen.

Ein Rezept auch gegen die extremen Rechten, die bei der Europawahl in mehreren EU-Staaten zu triumphieren drohen. Eine EU-Lösung aber vor allem, die quantenphysikalische Qualitäten hat. Es wird keine Verlegung von Asylverfahren in Drittstaaten geben, aber auch keinen Zustrom mehr, der in den Mitgliedsstaaten mühsam verwaltet werden muss. Das Aufatmen in Brüssel sei groß, berichtet T-Online, auch wenn "viele rechtliche Fragen sind noch offen" seien. 

Geklagt darf weiter werden

Denn dass sich ein Asylsuchender in einem Land befindet und nicht in einem anderen, verändert seine Rechtsstellung: Ein Mensch, der im Sudan, in Afghanistan oder in Bangladesch einen Asylantrag an deutsche oder Behörden anderer EU-Staaten stellt, kann gegen eine Ablehnung nicht klagen. Wer aber erst einmal den Boden der Gemeinschaft betreten hat, kann sich auf Artikel 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berufen, nach dem jeder, der vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden in seinem Herkunftsland flieht, ein Anrecht auf Schutz hat.

An den Außengrenzen, aber im Land, wenn auch als mit der juristischen Fiktion der Nichteinreise vorsortiert, ändert nichts am Recht auf den Rechtsweg. Das Bundesinnenministerium bestätigt das: Richtig sei, dass auch "in Außengrenzverfahren Asylanträge nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geprüft" würden und alle Schutzsuchenden bei Ablehnung ihres Antrags Klage erheben könnten. "Zudem kann im Außengrenzverfahren ein Antrag auf aufschiebende Wirkung der Klage gestellt werden, bis zum Abschluss der gerichtlichen Prüfung dieses Antrags werden Schutzsuchende nicht zurückgeführt."

Außengrenzen mit allen Rechten

"An den Außengrenzen" bedeutet also genaugenommen innerhalb der Außengrenzen, mit allen Rechten, denn die "Grenzverfahren nach der Asylverfahrens-Verordnung werden an den Außengrenzen ausschließlich von EU-Mitgliedstaaten auf deren Hoheitsgebiet und nicht in Drittstaaten durchgeführt", wie das Bundesinnenministerium Gerüchte zurückweist, die von der zuletzt boomenden Pflichtformulierung ausgelöst wurden.

Gerüchte, die Innenministerin Nancy Faeser selbst befeuert hatte, als sie auf dem Höhepunkt der AfD-Umfrageerfolge im letzten Herbst "Asylverfahren außerhalb der EU" in Erwägung zog und versprach, dass die Bundesregierung prüfen werde, "ob die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Transit- oder Drittstaaten erfolgen kann". 

Ein Ergebnis wurde nicht bekannt und nun wird es auch nicht mehr gebraucht. Mit der Verkündung der Reform ist Druck aus dem Thema raus, wenigstens für die Zeit "innerhalb der nächsten zwei Jahre" bis zur "Umsetzung" (DPA) der Regeln, die immer schon galten, an die sich nur niemand hielt.


3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Abschiebung erfolgt dabei nicht zwangsläufig in das jeweilige Heimatland, sondern auch in ein mögliches sicheres Drittland, über das die Einreise in die EU erfolgte.

Und wenn die Heimat- und sicheren Drittländer 'fickt euch' sagen, denn sie haben keinen Grund, das nicht zu sagen, marschiert dann die EU-Armee ein?

Anonym hat gesagt…

Und wenn die Heimat- und sicheren Drittländer ...

Und ob die das würden. Aber, so wird es nicht laufen - der Pointoffnävverritörn dürfte ab 2016 überschritten worden sein.

Anonym hat gesagt…

Ein "Quantensprung" ist definiert als die KLEINSTMÖGLICHE aller möglichen Ânderungen. Klugscheißmodus aus.
Es ist etwa wie mit dem "Olympioniken". Volksetymologie und so.