Freitag, 31. Mai 2024

Hitlern: Der kleine und der große Gruß

Zur Aufklärung zeigt Deutschland erfolgreichster Komödiant Jan Böhmermann hier den sogenannten "kleinen Hitlergruß": Haare unter der Nase imitieren dabei gezielt ein verfassungsfeindliches Symbol.

Der Mann aus Tschechien, der vor zwölf Jahren bundesweite Schlagzeilen machte, hatte verstanden, wie der Hase läuft. Arm hoch, Mund auf, und schon kochen die Emotionen hoch. Die rechte Hand am rechten Fleck, das ist in Deutschland ein verfassungsfeindliches Symbol, zumindest immer dann, wenn es sich nicht um Kunst oder eine sogenannte "soziale Geste" handelt. Wer auffallen will oder muss, der reißt den Arm in die Höhe. Nicht immer ist das von der Kunstfreiheit gedeckt.

Der kleine Gruß

Zum großen Hitlergruß, dem Hakenkreuz des kleinen Faschisten ohne Zugriff auf Titelblätter bedeutender Magazin, ist zuletzt aber eine neue und besonders perfide Methode des auch als ""Abhitlern"" bekannten Spiels mit verbotenen Zeichen gekommen. Dabei handelt es sich um das Zeigen des sogenannten "kleinen Hitlergrußes", einer bislang eher unbeachteten Geste, bei der der Arm unten bleibt, dafür aber Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand unter die Nase gelegt werden. Angedeutet wird damit der "böseste aller Bärte" (Spiegel): Hitlers markanter Zweifingerbart, der als das Markenzeichen des zeitweise ganze Nachmittags- und Nachtstrecken im deutschen Fernsehen füllenden Diktators gilt.

Jahrzehntelang gingen die deutschen Behörden dem großen Hitlergruß nach, den kleinen aber ignorierten sie. Zwei Finger an der Nase griffen nach der Mitte der Gesellschaft, die darin zumeist nur ein weiteres Unterhaltungsangebot im Stil von "Er ist wieder da" sah. Dass Broker an der Börse in Chicago die zweifingrige Geste nutzten, um eingehende Aufträge der Deutschen Bank zu signalisieren, war allenfalls amüsant, aber nicht nur wegen des im Ausland liegenden Tatortes kein Anlass für Aufregung unter Staatsanwälten.

Doppelprovokation im "Pony"

Mit dem Sylt-Skandal hat sich das geändert. Einer der überführten Täter der zynischen Singspiele auf der Sonneninsel der Reichbürger ist im Video zu sehen, wie er die Börsengeste aus den USA nachahmt: Den großen Hitlergruß kombiniert er geschickt und sich der Wirkung offenbar sehr sicher mit dem kleinen. Eine Doppelprovokation, die die Politik und die Strafverfolger alarmiert hat. Was nun? Was tun? 

Der Bart selbst wie seine Imitation stehen bislang nicht auf der amtlichen Liste der verfassungsfeindliche Symbole. Doch als Teil einer rechten Popkultur, die versucht, die Grenzen des Zeigbaren zu verschieben, gehörte der kleine Hitlergruß dort schon längst hin. Schließlich hatte schon der schornsteinfegende Faschist Lutz Battke den genuin modernistischen Bart ohne Schnörkel und Lametta imitiert, um die Mehrheitsgesellschaft ungestraft provozieren zu können. Konsequenzen hatte das nicht. 

Einheit von Führer und Volk

Experten aber haben immer schon gewarnt. "Der Bart war die unmittelbarste Form der Einheit von ‘Führer’ und Volk, die propagandistisch und legitimatorisch immer wieder aufgerufen wurde", analysierten Forschende der Gerda-Henkel-Stiftung die sogenannte "Bartwerdung Hitlers" (GHS). Die Haare zwischen Oberlippe und Nasenunterkante verkörperten, was Hitler sein wollte: Ein lebendiges Symbol, das auf den ersten Blick erkennbar ist. Mit dem Tod des Führers und der Verbrennung seines Körpers, so die Wissenschaftler, sei der Bart nicht etwa verschwunden, "sondern kann alles als Hitler bezeichnen".

Crash Test Dummies: Menschenversuche im Politiklabor

Großer Laborversuch: Mit Hilfe von 84 Millionen Testpersonen hat Robert Habeck im vergangenen Jahr ermitteln lassen, wie weit er gehen kann.

Einen Versuch war es wert. Als Bundesklimawirtschaftsminister im vergangenen Jahr das Heizungsausstiegsgesetz anschob, erzeugte die vorgesehenen Regelungen noch weit vor einer Einigung auf finale Formulierungen eine Welle der Empörung. Was denken die sich dabei? Sind sie wahnsinnig geworden? Wer soll das alles bauen? Und wer soll es bitte alles bezahlen?, waren Fragen, die die Republik über Wochen bewegten. Schnell geriet der grüne Männerklub um den Minister ins Visier von Kritikern.  

Ein kühnes Bauernopfer

Nur durch ein kühnes Bauernopfer gelang es schließlich, die Stampede wieder einzufangen. Eine Gesamtlösung im Sinne des Weltklimas wurde mit Hilfe der sogenannten "kommunalen Wärmeplanung", die von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin geliefert worden war, auf die lange Bank geschoben. Alles würde kommen, wie geplant. Aber nicht jetzt und auch nicht gleich morgen.

Von außen betrachtet schien das alles ein vollkommen schiefgegangenes Manöver gewesen zu sein. Schlecht konzipiert. Miserabel kommuniziert. Ein Stimmungskiller in ohnehin schweren Zeiten, der "Habecks Klüngelwirtschaft" (Der Spiegel) aus "grünem Sumpf", "Vetternwirtschaft" und "Filz" (Spiegel) mit Patrick Graichen einen Vordenker der nachhaltig wertschätzenden Klimaneutralität kostete. Ein Schlag ins Kontor, von dem sich die Grünen bis heute nicht erholt haben: Von den ehemals über 25 Prozent, die ihnen Umfragen Ende 2021 zubilligten, ist nur noch etwas mehr als die Hälfte geblieben. 

Vereinheitlichung des Energieeinsparrechts

Die 2. Novelle des "Gesetzes zur Vereinheitlichung des Energieeinsparrechts für Gebäude und zur Änderung weiterer Gesetze" zur Umsetzung der EU-Gebäuderichtlinie EPBD und der Energieeffizienz-Richtlinie EED  wurde schließlich geändert. Nun hat jeder das Recht, Energie einzusparen. Hauseigentümer, Mieter und die Industrie profitieren von der Möglichkeit, entlang der Vorgaebn der Energieeffizienz-Richtlinie zu investieren. Eine Chance, die sich niemand entgehen lassen will.

Die Aufregung legte sich, weil alle so harsch kritisierten Regelungen nun erst später in Kraft treten werden. Doch der Schaden ließ sich nicht mehr reparieren: Die Ampel-Koalition hatte augenscheinlich einen Beweis geliefert, dass sie bitter entschlossen ist, über Köpfe und Brieftaschen der Bürgerinnen und Bürger hinwegzuregieren.  

Kein verkorkster Versuch

Die wahre Geschichte des verkorksten Versuches, das Weltklima an einem Tag und durch harte Umbaurichtlinien für deutsche Wohnzimmer zu retten, ist aber doch wohl eine ganz andere gewesen. Wie Robert Habeck jetzt im Gespräch mit Bürgern in Berlin berichtet hatte, sei es ihm um viel mehr gegangen als um den Ausstieg aus Gas- und Ölheizungen. Habeck sagte, bei der "Debatte um das Gebäudeenergiegesetz, also wie heizen wir in Zukunft" habe es sich "ehrlicherweise" auch um einen "Test gehandelt, wie weit die Gesellschaft bereit ist, Klimaschutz – wenn er konkret wird – zu tragen". Er habe einsehen müssen, dass "ich zu weit gegangen bin".

Zu erwarten war das nicht gewesen, denn die Corona-Jahre hatten der Politik eigentlich klar signalisiert, dass alles durchsetzbar ist, wenn es mit einem Notstand begründet wird. Gerade beim Klimaschutz segelten die Grünen in den Tagen der Erarbeitung über die konkreten Zumutungen für die Bevölkerung mit Rückenwind. Die Jugend, die später abrupt nach rechts rutschte, engagierte sich bei Fridays for Future für möglichst harte Auflagen. Klima-Ikone Greta Thunberg tanzte noch nicht mit Antisemiten, sondern zeigte Gesicht in Lützerath, einer heute weitgehend vergessenen Symbolgemeinde für den Kampf gegen die "Fossilen" (Ricarda Lang).

Test im Politiklabor

Dass der Test, einer der größten Menschenversuche im Politiklabor seit dem Mauerbau um Ostberlin, trotzdem so episch danebenging, wusste Habeck als einer der Ersten. Er habe gesehen, dass der Gegendruck sofort dagewesen sei. Deshalb wohl entschied die Bundesregierung, den beabsichtigten sofortigen Klimaschutz zu vertagen, bis sich die Lage beruhigt hat: Das schließlich beschlossene Gebäudeenergiegesetz orientiert sich am Modell Frosch im Kochtopf: Das nichtsahnende Tier wird nicht sofort ins heiße Wasser geworfen, wo es nur Zetern und Jammern würde. Stattdessen kommt es kaltes Wasser, das ganz langsam erhitzt wird, so dass sich der Frosch wohlig räkelt, bis er im kochenden Wasser stirbt, ohne zu wissen, weswegen.

Alles in allem dann doch noch ein schöner Erfolg. Robert Habeck, dessen Ambitionen auf das Kanzleramt ungebrochen sind, hat drei Schritte nach von gemacht und dann einen zurück, immer noch sieht der von Patrick Graichen ausgearbeitete Ablaufplan zum Energieausstieg den schrittweisen Austausch aller Heizungen vor, die mit Gas oder Öl betrieben werden, immer noch sollen an ihre Stelle bundesweite Fernwärmemonopole treten, die mit Fantasiepreisen für den Umstieg auf elektrische Wärmepumpen werben, die eines Tages dann von gesunkenen Strompreisen profitieren.

Unanständige Furcht

Alles für den Klimaschutz, egal, was es kostet. Robert Habeck weiß dank des Heizungstests genau, wo zu viel den Sack zerreißt und dass jede staatliche Zwangsmaßnahme, die sich gegen die Interessen einer gesellschaftlichen Mehrheit richtet, noch viel umfangreicher mit Notlagen, Alternativlosigkeit und einem anderenfalls drohenden noch fürchterlicheren Übel begründet werden muss. Möglichst viele Menschen müssten verstehen, "was der Gedanke hinter Klimaschutz ist – Freiheit". Und dass dahinter jede Furcht vor Wohlstandsverlusten zurücktreten müsse.

Donnerstag, 30. Mai 2024

Porentief rein: Ohne Preußens Glanz und Gloria

Nach und nach werden die lästigen Spuren getilgt, die noch auf die Existenz Preußens hinweisen.

Nicht nur sauber, sondern rein soll sie werden, die Erinnerung an die fürchterliche deutsche Geschichte. Zuerst hatte Annalena Baerbock das Bismarck-Zimmer im Außenamt umtaufen und das dort aufgehängte Bismarck-Porträt von Franz von Lenbachs ins Archiv bringen lassen. Dann folgte Claudia Roth mit ihrem Wunsch nach einer Umbenennung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in irgendwas, Hauptsache ohne Preußen.  

Preußen soll verschwinden

Der Name mit dem Bezug auf das Herrschergeschlecht, das die Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 vorantrieb, von den Nazis seiner Selbständigkeit beraubt und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Alliierten aufgelöst wurde, weil sie es als Kern des deutschen Militarismus ausgemacht hatten, soll verschwinden, dem Vergessen anheimfallen, das Erinnern nicht mehr stören. Deutschland, soweit es nach den aktuell Verantwortlichen geht, besteht erst seit 1949. Damals landeten die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit einer Raumkapsel nahe Frankfurt/Main, die neuen Gesetzestafeln unterm Arm. Seitdem läuft eine Zeitrechnung, die kein Davor mehr kennt.

Schon in der Ära Merkel gab es zarte Ansätze, alles zu beerdigen, was vor dem lag, was als "dunkelstes Kapitel" (Merkel, Wulff, Steinmeier et al.) unauslöschlich bleibt. Der 150. Geburtstag des deutschen Nationalstaates wurde nicht gefeiert, nicht mit einem Staatsakt, nicht mit einer Gedenkstunde und nicht einmal mit den üblichen kritisch-konstruktiven Elogen in den Leitmedien. So souverän Deutschland auch ist, abgesehen vielleicht von belastbaren Kenntnissen über möglicherweise auf deutschem Boden stationierte Atomwaffen, so strikt gilt die Festlegung aus dem Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947: "Der Staat Preußen, seine Zentralregierung und alle nachgeordneten Behörden werden hiermit aufgelöst."

Rettung aus dem Rheinland

Zehn Jahre später rehabilitierte die Bundesregierung unter dem Rheinländer Konrad Adenauer Preußen ein wenig, indem sie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz aus der Taufe hob. 2003 folgte die Gründung des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam, neben den Preußen-Museen in  Wesel und Minden und dem Stadion von Preußen Münster ein Ort, der seitdem von einem ehemaligen Kutschpferdestall aus als "offenes Forum für die aktive Beschäftigung mit der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte" auftritt.

Preußische Geschichte aber ist lästige Geschichte. Ein Staat, der sich zur offiziellen Feier anlässlich des 75. Jahrestages seiner Verfassung nicht die Nationalhymne, sondern eine verballhornte Version mit anderem Text vorsingen lässt, will schon gar nicht mehr daran erinnert werden, wo er herkommt, was er auch mal war und weshalb er weltweit heute noch immer wieder damit verwechselt, obwohl er die Reitstiefel längst gegen modische Pumps eingetauscht hat. 

Ein neuer, sauberer Name

Das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam wurde deshalb nun umbenannt.  Der neue Name lautet "Brandenburg Museum für Zukunft, Gegenwart und Geschichte", ohne Preußen, ohne den von der deutschen Rechtschreibung vorgeschriebenen Bindestrich, aber um zwei Worte länger und weniger "sperrig", wie die Streichung Preußens begründet wird. Statt die Last einer Geschichte zu tragen, die sich nicht mehr ändern lässt, will das Haus nun seine "vielfältigen Kulturprogramme und Bildungsangebote nach außen vermitteln". Die neue Bezeichnung, ganz im großen Trend gewählt, setzt auf den unverfänglichen Namen "Brandenburg", für dessen "geschichtliche und kulturelle Vielfalt" getrommelt werden soll.

Da gibt es jede Menge zu sehen, denn Brandenburg aus früheres Grenzland verfügt über einen Boden, der sich in Jahrhunderten mit Blut nur so vollgesogen hat. Mit Feuer und Schwert erobert, anschließend verloren und zurückgeholt, wurde hier ganze Völker geschlachtet, zwangsumgesiedelt, remigriert und zu einem neuen Glaubensbekenntnis gezwungen. Das Brandenburg Museum für Zukunft, Gegenwart und Geschichte radiert den späten preußischen Teil aus, dem der damalige SPD-Ministerpräsident Manfred Stolpe mit seiner Gründung hatte Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen.

Die preußische Geschichte soll künftig zwar "weiter eine Rolle spielen". Aber wenn alles gut geht, fragt bald niemand mehr danach.

Kampfbegriffe der Syltkrise: Angriff der skandierenden Gröler

Kaum jemand ist in der Lage, die korrekte Bedeutung der aus den versverliebten Höfen des Mittelalters stammenden Verb "skandieren" zu beschreiben. Für Medien aber ist es eine unerlässliche Kampfvokabel geworden.

Sie "grölen" und manchmal "gröhlen" (Die Linke im Bundestag) sie sogar. Sie skandieren aber auch, noch komplizierter, denn das schwache Verb "skandieren" besitzt nicht einmal ein eigenes Substantiv, von dem es sich ableiten ließe. Draußen im Land, wo die Menschen alleweil darauf warten, dort abgeholt zu werden, wo sie sind, um sich die Entscheidungen der Politik noch besser erklären lassen zu können, wissen einer Umfrage des Fimos-Institutes aus Chemnitz unter 2.112 Wahlberechtigten etwa 57 Prozent der Bürgerinnen und Bürger nicht, was der Begriff "Skandieren" meint. Ganze 72 Prozent können das Verb nicht auf seine Herkunft zurückführen, ins Deutsche übersetzen oder zutreffend umschreiben.  

Unklarheit schafft Klarheit

"Irgendetwas mit Geschrei", vermuteten die Befragten immer wieder, womöglich sei auch das Rufen verfassungsfeindlicher Parolen gemeint. Dieser vor allem in den Kreisen der höher gebildeten Mittelschicht verbreitete Annahme geht so falsch nicht. Wie Rechte, Rechtspopulisten und Rechtsextreme tatsächlich stets "aufmarschieren", während Linke, Linksextreme und Linkspopulisten sich zum bunten und friedlichen "Gegenprotest" versammeln, sind es auch schon vor den Vorfällen von Sylt die meist ostdeutsch gelesenen Querleugner und Ewiggestrigen gewesen, die zum Machtmittel des Skandierens griffen, um Furcht und Schrecken in den Stadtzentren zu verbreiten. 

Das Skandiéren - betont skanˈdiːrən - tritt häufig im Zusammenhang mit sogenannten Ausschreitungen auf, seit Jahren der neue Sammelbegriff für die früher gebräuchlichen Zusammenrottungen. Bei solchen Anlässen werden nicht nur Böller gezündet, Gegendemonstranten provoziert und demokratiefeindliche Reden geschwungen, es werden in der Regel auch "Parolen gebrüllt", es wird "gegrölt" oder sogar "gegröhlt" (GA) und es wird eben unentwegt und unermüdlich "skandiert". Ein Wort, das im 16. Jahrhundert zur Beschreibung von Gedichtvorträgen erfunden wurde. Und nun die Liveticker zur Staatskrise rund um die Nazisänger von Sylt tapeziert.

Begriff aus dem Mittelalter

Damit war nicht zu rechnen gewesen. Ursprünglich benötigten die versverliebten mittelalterlichen Höfe einen Begriff für Poeten, die ihre Gedichte mit starker Betonung der Hebungen sprachen, sehr rhythmisch, jede Silbe einzeln, wie es das Lateinische scandere (deutsch: stufenweise emporsteigen, sich erheben) beschreibt. Es war nicht etwa der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) in Berlin oder ihren Vorläufern Reichsamt für Worte und Benennungen (RWB) und VEB Kombinat Geschwätz zu verdanken, dass aus der Spezialistenvokabel für Reim und Bücherleim ein politischer Kampfbegriff wurde. 

Das hat vielmehr das damalige Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" bewirkt, der im Sommer 1948, einer rechtlosen, von heute aus gesehen inexistenten Zeit ohne Grundgesetz, einen anonymen Autoren einen Kranz winden ließ für die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, der in einem "Lob des Strichpunktes" gipfelte, einem "Lob dieses kleinen, gewaltigen Zeichens, das den Satz im Weiterlaufen skandiert, ohne ihn anzuhalten"

Vom Fachbegriff zur Kampfvokabel

Bis Ende der 60er Jahre blieb das Wort in den Ateliers der Leute mit dem besseren Geschmack eingesperrt. Ein Fachbegriff nur, der bei Vernissagen kundig fallen gelassen werden konnte. Erst 1967, die Studentenrevolte brodelte noch in den Hörsälen, doch die Liebe zu Mao und der Weltrevolution hatte die fortschrittlichen Kreise bereits erreicht, skandierte es zum ersten Mal politisch: "Sie machen die Revolution zu Fuß, auf Fahrrädern und Lastwagen. Ein Vorbeter brüllt Parolen durchs Batterie-Megaphon, die Masse skandiert", berichtet der "Spiegel" über die gottgleiche Verehrung, die Mao Tse-tung in seinem Volk erfährt.

Erst Ende der 70er Jahre bekommt das Skandieren vom Hamburger Nachrichtenmagazin seine heutige Bedeutung verliehen. Damals werfen "200 Skinheads, weiße Rocker mit kahlgeschorenem Kopf und in Ledermontur, in "den schwarzen Elendsvierteln englischer Großstädte am helllichten Tage Steine und Milchflaschen in die Schaufenster indischer Geschäfte" Und während sie so durch die Straßen toben, "skandierten sie ihr Glaubensbekenntnis ,Tötet die schwarzen Bastarde' und ,Schwarze raus'.

Kernvokabel der Syltkrise

Auf Sylt schließt sich jetzt ein Kreis. Der Angriff der skandierenden Gröler und "Gröhler" (TZ) auf die Grundwerte der Gesellschaft mag nicht strafbar sein, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei einem ersten öffentlichen Fernsehauftritt nach dem Ausbruch der Syltkrise verkündet hat. Doch wer nicht anders beschrieben werden kann als jemand, der "skandiert", der kann nicht mit Nachsicht oder Verständnis rechnen. 

Jetzt zeigt sich erst deutlich, wie wichtig das Wort ist, das eine große Mehrheit der Bevölkerung nicht in Alltagssprache zu übersetzen vermag. "Skandieren" steht für sich selbst, es ist ein Begriff, der beschreibend abwertet und die Beschriebenen dort einordnet, so niemand sein will. Immer dringlicher ist die Anwendung der Vokabel, die aus den Thronsälen über die Salons in die Redaktionen und vorn dort ins Waffenarsenal des politischen Nahkampfes fand. Der "Spiegel" verwendete "skandieren" in dem halben Jahrhundert zwischen 1948 und dem Ende des 20. Jahrhundert 81 Mal.

In den 25 Jahren seitdem 700 Mal. Davon allein 65 Mal im vergangenen Jahr, zehnmal im vergangenen Monat und sechsmal in der zurückliegenden Woche.

Wie startet man eine chemische Reinigung?

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Vielen Menschen gelingt es, ihren Traum von der Selbständigkeit zu verwirklichen und unabhängig zu sein. Die Textilreinigung kann eine gute Branche für ein eigenes Start-up sein, da die Nachfrage nach professionell gesäuberter Kleidung stabil ist und man in dieser Branche in der Regel keine saisonalen Krisen oder nennenswerte Konjunkturschwankungen zu befürchten hat.

Jede Umsetzung einer Geschäftsidee, sei es ein eigenes Konzept oder ein Franchisekonzept, stellt den Gründer vor Herausforderungen und Entscheidungen, die es zu bewältigen gilt. Nachfolgend sind einige der wichtigsten Schritte aufgeführt, die für den Start notwendig sind.

Nachfrage für professionelle Textilreinigung

Privathaushalte sind heutzutage mit den neuesten Waschmaschinenmodellen ausgestattet. Doch empfindliche Kleidung aus Seide oder Wolle verformt sich beim Waschen und Produkte aus Leder oder Leinen können nach einem herkömmlichen Waschgang völlig unbrauchbar sein.

Empfindliche Kleidungsstücke können zu Hause schonend mit dem Einsatz von Dampfbügelstationen gereinigt werden, sodass Wäsche, Kleidung und Polstermöbel sauber und hygienisch bleiben. Wer eine solche Anschaffung vermeiden will, für den kommt der Gang zur Reinigung infrage.

In einer professionellen Textilreinigung werden sowohl empfindliche als auch robustere Kleidungsstücke mit Lösungsmitteln schonend und gründlich gereinigt.

Viele Großfamilien und Tourismusbetriebe lassen vor allem Bettwäsche und Handtücher von einem professionellen Unternehmen reinigen, während Berufstätige vermehrt Anzüge und Hemden dort abgeben. Dementsprechend stark ist die Nachfrage nach diesem Service.

Den Markt verstehen

Bevor man sich kopflos in die Gründung stürzt, empfiehlt sich eine Marktanalyse für den gewählten Standort. Ein zukünftiger Unternehmer muss die Konkurrenz beobachten und Angebote einholen und vergleichen. Nur so kann man verstehen, welche potenziellen Kunden man für sich erreichen möchte.

Ist der Standort eher ländlich, touristisch oder vielleicht in der Stadt mit viel Laufkundschaft und Unternehmen? Mit diesen Daten kann man sein Angebot an die Präferenzen der Zielgruppe anpassen und differenzieren.

Einen Businessplan erstellen

Einen Businessplan zu erstellen, ist die Grundlage aller Start-ups und dient auch kleineren Betrieben als solide Grundlage, um Ziele und Umsatzprognosen festzulegen. In diesem Plan sollte man sich entscheiden, welche Kunden man für sich als Zielgruppe gewinnen möchte, für welche Preisgestaltung man sich entscheidet und in welchem Umfang man Marketing nutzt.

Rechtliche Anforderungen erfüllen

Vor Aufnahme der Tätigkeit sollten alle Genehmigungen und Lizenzen am gewünschten Standort eingeholt werden. Die Vorschriften für die Einhaltung von Umweltschutzbestimmungen, die Abfallentsorgung und den Umgang mit Chemikalien können von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sein.

Das erste Ladenlokal

Layout und Einrichtung sind wichtig, um die Arbeitsabläufe zu optimieren und eine einladende Atmosphäre für die Kunden zu schaffen. Dabei ist eine moderne und hochwertige Ausstattung von wesentlicher Bedeutung, um eine optimale Qualität zu gewährleisten und zufriedene Stammkunden zu gewinnen.

Am Puls der Zeit bleiben

Auch die Textilreinigungsbranche entwickelt sich ständig weiter, mit neuen Trends und Technologien, die man nicht verpassen sollte, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Neue und innovative Leistungen wie nachhaltige Textilreinigung, mobile Lieferdienste oder digitale Buchungsapps für die Kunden können das Geschäft beleben. In der Anfangsphase kann das Feedback der ersten Kunden sehr wertvoll sein.

Es bietet nicht nur eine verlässliche Grundlage für Verbesserungen, sondern man kann auch neue Geschäftsfelder innerhalb der Reinigungsbranche für den eigenen Betrieb entdecken.

Eine verlässliche Branche

Mit viel Ausdauer und Interesse an einer kundenorientierten Branche kann man mit einer chemischen Reinigung sicherlich ein lohnendes Unternehmen gründen. Eine vorausschauende Planung, die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und die ständige Weiterentwicklung in der Branche können hier ausschlaggebend für den Erfolg sein. 

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Mittwoch, 29. Mai 2024

Konjunktur für Nazizeichen: Faszination mit Haken

Der deutsche Hang zu Hitlers Hakenkreuz sucht beständig nach Anlass.

Es braucht nicht einmal einen Anlass. Es ist da, es taucht auf wie Nessi aus dem Sommerloch, ein Zeichen, das für alles steht, ohne noch für irgendetwas stehen zu müssen. Das Hakenkreuz, vor 100 Jahren aus Asien importiert und zum Signet einer Völkermörderbande erklärt, hat das Ende von Hitlers "Bewegung" nicht nur überlebt. Es ist auch wirkungsmächtiger als es jemals war, seit die Soldaten der Sowjetarmee bei einem Fototermin die rote Fahne den Reichstag pflanzten.  

All das Grundgesetz-Gebimmel

Eben erst konnte das frühere Nachrichtenmagazin nicht anders. Um zu illustrieren, dass Schwarz, Rot und Gold und all das Grundgesetz-Gebimmel den alten Nazikram allenfalls notdürftig abdecken, entschied sich die Redaktion, ein Titelbild von 1977 noch einmal aufs Cover zu heben. "Nichts gelernt?" lautete die Zeile, das Fragezeichen aber war nur auf Rat der Unternehmensanwälte platziert worden. Niemand hat hier nichts gelernt und keiner die Absicht, sich an das offizielle Verbot zu halten, das wegen der Verwendung "von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" bestraft, wer "im Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 oder Absatz 2 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen verbreitet oder öffentlich verwendet".

Sektsänger und Parolenchor

Der "Spiegel" warnt natürlich, er zeigt deshalb gar nicht, was zu sehen ist. Es handelt sich um ein Bildungsangebot für die, die es bisher nicht mitbekommen haben. Und der "Stern", ehemals eine konkurrierende Illustrierte, kann da nicht mutlos danebenstehen. Die Sylter Sektsänger und ihr Parolenchor bieten den passenden Anlass, zurück zu hakenkreuzen: "Die Champagner-Nazis" (Stern) von der Waterkant erlauben dem Magazin für erfundene Geschichte, was es sich bei seinen berühmten "Hitlertagebüchern" nicht gewagt hatte. Damals musste ein Foto von Hitlers Kladden reichen, mit dem original falschen "FH" wie "Führer Hitler" vorn drauf. In genau der altdeutschen Schrift, die die Nazis verboten hatten. 

Heute ist ein Kreuz im Sektkelch des "Stern", der Grusel prickelnd frisch nach all den Jahren. Es spricht eine tiefe und offenbar unstillbare Sehnsucht nach machtvollen "Zeichen" aus der unendlichen und nie ermüdenden Beschäftigung mit der Swastika. Ein "Faszinosum", wie es Philipp Jenninger genannt hätte, der genau wusste, wovon er sprach. 

Jenningers Grabrede

"Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt", hatte der damalige Bundestagspräsident in seiner eigenen Grabrede über den deutschen Hang zu Hitler zu formulieren versucht. Und damit eine treffende Beschreibung der Faszination geliefert, die Leitmedien heute noch erkennen lassen, wenn sie das wie von Hitler angewiesen nach rechts gewinkelte und um 45 Grad geneigte Kennzeichen der NSDAP heute nutzen, um die Nation angesichts von Rechtspopulisten und Sylter Sängerknaben aufzurütteln.

Das große WIR: Ihr sollt wollen müssen

Das Wort "Wir" bestimmt den Ton im CDU-Programm. Es kommt 686 Mal vor - achtmal auf jeder Seite.

Für die Kommunisten war es das Kollektiv. Kapitalisten, der sich wünschen, dass ihre Angestellten mehr arbeiten, als ihnen bezahlt wird, nennen es Team. Die neue Linke dagegen hat das aktuell als "Gemeinschaft" im Wahlprogramm: Ein Mittel für und gegen alles, Gemeinschaft ist Liebe, Glück und Fröhlichkeit, Wärme, Toleranz und Frieden, einer für alle, alle für die ehemalige SED, die ihren letzten Auftritt auf der großen Bühne mit der Leidenschaft eines Ackergauls in der letzten Schicht vor dem Abdecker angeht.

Das Wir des großen Ganzen

Doch auch die CDU hat sich auf ihrem Programmparteitag beim großen Ganzen bedient. Das Wort "Wir" ist die neue Dominante der Basis des Fundaments der Merz-Partei, die Merkel entschlossen hinter sich gelassen hat und nun dort weitermacht, wo Komiker sie schon vor 15 Jahren sahen. Damals hätte die Ankündigung eines Bundeshohnverbotes noch wie ein Witz geklungen, heute steht es unmittelbar ins Haus. "Wir müssen", hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser gemeinsam mit Innengeheimdienstchef Thomas Haldenwang die Notwendigkeit begründet, auch die zu entdecken und zu schnappen, genau wissen, was sie gerade noch sagen dürfen, ohne sich strafbar zu machen.

Das große "Wir" will das nicht und deshalb kommt es 686 Mal vor im neuen Grundsatzprogramm der Union galt, das den schönen Namen "Grundsätzlich CDU" trägt und seit seiner Verabschiedung keine Rolle mehr spielt. Dabei ist das Papier ein äußerst bemerkenswertes Dokument, das von Zeiten erzählt, in denen die sich konservativ kostümierende Partei der demokratischen Mitte die Inhalte verwendet,die zehn Jahre zuvor die andere linke Dauerregierungspartei  plakatiert hatte. Unter dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück war das Wir damals für "bezahlbare Mieten", "mehr Kitaplätze" und ein "Alter ohne Armut". Unter Friedrich Merz bedient sich die CDU nun am abgelegten Ideenvorrat der deutschen Sozialdemokratie. Macht doch nichts. Merkt doch keiner.

Wir aus fünf Buchstaben

Das "Wir" ist so wichtig, dass abgesehen von "und" und "die" kein anderes Wort so oft vorkommt. "Der", "ein" und "für" liegen dahinter. Dann folgt schon "unser", quasi das Wir aus fünf Buchstaben. Es ist ein Wir, das alle meint, ausgenommen die, die es hier im Munde führen. Wenn die CDU sagt "Wir", dann meint sie eigentlich ihr, denn unmittelbar danach folgt immer ein Müssen, Wollen oder Sollen, das selbst die zum Kampf entschlossene Partei des Münsterländers nicht allein hinbekommt. "Wir" heißt also ihr müsst, ihr Bürger, da draußen. Wir hier drinnen, wir haben ja schon herausbekommen, was wir müssen. Also, was ihr tun sollt. 

Intellektuell ein Spektakel, das den Bürgerinnen und Bürgern eine klare Alternative bietet. Die andere ehemalige Volkspartei SPD hatte vor der Bundestagswahl 2021 eine Wortwolke produziert, die viel von dem vorwegnahm, was dann folgen sollte. "Deutschland muss wollen Zeit Arbeit Gesellschaft", das waren die zentralen Botschaften, hinter denen das Wir zurückstehen musste. Jetzt demonstrierten die Konservativen, dass sie keine Angst haben, einer Gesellschaft, die des ewigen Individualismus überdrüssig ist, einen Spiegel vorzuhalten und ihm zu sagen: "Wir verbinden die Freiheit des Einzelnen mit seiner Verantwortung für die Gemeinschaft."

Gegen das laue Miteinander

Das geht weit über das laue "Miteinander" hinaus, mit dem SPD-Chefideologe Kevin Kühnert Sätze wie "konsequent zu Ende gedacht, sollte jeder maximal den Wohnraum besitzen, in dem er selbst wohnt" und alles, "was unser Leben bestimmt, sollte in der Hand der Gesellschaft sein" gesagt hatte. Bei der CDU gibt 126-mal "uns", 124-mal den und die "Menschen", 91-mal "Deutschland", 74-mal "Land" und 70-mal "Leben". Ein Grundsatzprogramm des Grundsätzlichen, das "Freiheit" (61), "Staat" (58), "Gesellschaft" und "Sicherheit" (je 54) auf Augenhöhe denkt. Wie viel Schweiß hat die Programmkommission in monatelangen Diskussionen, in Nachtsitzungen mit viel Pizza und Kaffee und beim Brüten über Vorentwürfen vergossen über diesen schicksalhaften 82 Seiten?

Und wie viele "Menschen" (124-mal) haben es gelesen? Wie viele aber nicht? "Wir wählen die Freiheit!", ruft es gleich am Anfang.  "Für ein freies und sicheres Land!", unmittelbar danach. "Wir wollen die Sicherheit in Europa und den Binnenmarkt stärken." Und: "Wir wollen eine Gesellschaft, die zusammenhält." Wir-tschaftpolitik der anderen Art, in der "Wir" auch "für nachhaltiges wirtschaftliches
Wachstum" stehen. Das neue Grundsatzprogramm heißt "Zukunft gemeinsam gewinnen". "Gewinnen" aber kommt insgesamt nur dreimal vor.

Dienstag, 28. Mai 2024

Sylter Hassgesang: Im Rausch des Musikmissbrauchs

Die Welle der Berichterstattung hat dazu geführt, dass sich zahllose Menschen von der falschen Musik angezogen fühlen.

Wo man sang, da ließ man sich früher ruhig nieder, denn böse Menschen hatten keine Lieder. Schunkelnd und Pogo tanzend erkannte sich das bessere Deutschland jahrhundertelang selbst und gegenseitig. Aus vollem Herzen wurde gesungen, Sangeswettbewerbe, in denen die Mutternation der Meistersinger mit anderen Ländern um das bunteste Kostüm und den frechsten Lebenslauf konkurrierte, erfreuten sich allerhöchster Beliebtheit. Musik, das war das Blut Unschuldiger. Musiker avancierten zu Weisen, zu denen das Volk aufschaute, und zu Ratgebern der Mächtigen, die aus dem Elfenbeinturm der Verantwortung für alles oft nicht mehr spüren können, wie die tumbe Masse tickt.  

Sängern drohen fünf Jahre

Umso schrecklicher erscheint der Missbrauchsskandal, den die Vorfälle von Sylt ausgelöst haben. Überall, landauf, landab, kommt es zu gesungenen Übergriffen auf einen "20 Jahre alten Hit" (ZDF) des Italieners Gigi D’Agostino, den eine der größten Empörungswellen der jüngeren Mediengeschichte zum Symbol für Menschen gemacht hat, die aus der konformen Gesellschaft ausbrechen wollen und dazu bereit sind, Ansehensverlust, Karriere und selbst die "Höchststrafe" (Bärbel Bas) von bis zu fünf Jahren Gefängnis zu riskieren. Überwiegend im schon länger demokratisierten Westteil der Republik nutzen Angehörige der autochthonen Partyszene die stampfenden Rhythmen von "L'Amour Toujours", wie die Verbrecher von Sylt "Deutschland den Deutschen" und "Ausländer raus" zu "grölen" (DPA).

Zwei Jahre nach dem Ausbruch der "Layla"-Krise wirkt die Bundespolitik ratlos, die Behörden erscheinen überfordert, Staatsanwaltschaften und Polizei drohen mit "Ermittlungen". Doch die Bundesinnenministerin selbst ist ihnen bereits in den Rücken gefallen, als sie in der ARD verkündete, das Absingen der ekligen Parolen, wie sie der Bundeskanzler genannt hatte, sei nicht strafbar. 

Flickenteppich der Verbrechen

Ein Flickenteppich breitet sich aus. Städte versuchen auf eigene Faust, weitere Missbrauchsfälle zu verhindern. Andere sehen dazu keine rechtliche Handhabe. Gemeinden müssen ihre Freiwilligen Feuerwehren belehren, Polizeistreifen werden mit Musikdetektoren ausgestattet. Internate versuchen, Präzedenzfälle zu schaffen, um Nachahmer abzuschrecken. Volksfeste bannen ein Stuck europäischer Kultur, zwangsläufig, denn kein Veranstalter kann es sich leisten, in den Strudel des Sylter Hassgesangs gezogen zu werden. Doch selbst ein bundesweites Verbot des "Liedes" würde wohl nicht mehr helfen: Deutschland müsste Bilder von deutschen Urlaubsinseln fürchten, die sogenannte "Feiernde" nach altem Ferienbrauch schwer alkoholisiert zeigen, wie sie erst recht wider den Stachel löcken und Betäubung suchen im Rausch eines entgrenzten Missbrauchs.

Die Sprachbarriere und das Einstimmigkeitsprinzip der EU allerdings verhindern eine schnelle, gründliche und europaweite Lösung, wie sie etwa die rasche Einführung einer nach der EU-Verordnung über die Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit konzipierten Soundschutzkommussion (SSK) böte. Wie die ehemals in Deutschland arbeitende Reichsmusikkammer (RMK) und deren später über fast 40 Jahre erfolgreich arbeitenden DDR-Nachfolger Zulassungs- und Einstufungskommission könnte eine solche neue EU-Institution einen Musikschutzschirm über ganz Europa spannen. Wie der Meinungsshiled, an dem EU-Chefin Ursula von der Leyen bereits arbeitet, könnte er verhindern, dass irritierende, unerwünschte und öffentlich bereits verurteilte Musikstücke das Leben der Gemeinschaft stören. 

Es hakt bei den Details

Vorschläge für einheitliche Vorschriften für grenzüberschreitende Fälle im Zusammenhang mit dem Schutz von Erwachsenen liegen bereits vor, die EU-Kommission selbst hat schon festgestellt, dass die Umsetzung einmal mehr für mehr Rechtssicherheit sorgen wird, Kosten und Dauer grenzüberschreitender Verfahren verringert und die Rechte Erwachsener so gründlich wahrt, dass selbst ihr Recht auf Selbstbestimmung unbeeinträchtigt bleibt. 
 
Es hakt wie immer an Details. Während die einen in Berlin von einer nationalen Musikschutzliste träumen, die auflistet, welche Songs gerade verboten sind oder wegen Missbrauchsgefährung gesperrt wurden, wünschen sich andere eine umfassendere Regulierung. Danach habe der demokratische Rechtsstaat die Pflicht, für die Öffentlichkeit eine Liste der erlaubten Lieder mit den mitsingbaren erlaubten Texten vorzuhalten, so dass sich Feiernde in Echtzeit über Verstöße informieren können. Beide Lager blockieren sich, die europäischen Partnerländer aber ignorieren die Gefahr sogar.
 
Als der französische Präsident Emmanuel Macron jetzt in Dresden seine neueste große Europa-Rede an die Völker die 27 Mitgliedsstaaten hielt, erwähnte er das kollektive Geschehen rund um das Grölen und Skandieren des Sylter Hassgesangs ebenso wenig wie den Umstand, dass das "Lied" von den empörten Medienreaktionen inzwischen an die Spitze aller Hitparaden katapultiert wurde.


Doppelt hält besser: Einmal ist kein Mal zur EU-Wahl

Wer mehr als einen Pass hat, kann bei der EU-Wahl mehrfach abstimmen. Das EU-Parlament schaut dem kriminellen Treiben seit Jahren tatenlos zu.


Wäre es damals nach Guy Verhofstadt gegangen, müsste sich niemand mehr etwas einbilden. Der Belgier, einige Stunden lang heißer Anwärter auf die Nachfolge Jean-Claude Junckers als EU-Kommissionspräsident, hatte sie doch ausgerufen. Eine "EU-Staatsbürgerschaft", die "mehr bietet als nur offene Grenzen", wie das EU-Parlament bis heute schwärmt, ganz unabhängig von den längst abgelaufenen Höchstfristen für vorübergehende Grenzkontrollen, die vor sieben Jahren für so große Aufregung gesorgt hatten. Damals waren sie noch legal, allerdings in Brüssel anmeldepflichtig und von dort zu genehmigen. Das hat sich gegeben. Mittlerweile kontrollieren alle. Und niemand schert sich mehr um die Zustimmung der Kommission.

Durchlässig für Insassen

Dieses Europa bleibt durchlässig, zumindest für seine Insassen. Die anstehende EU-Wahl zeigt sogar, dass viel mehr möglich als sich die Schulweisheit der Gründer des Kontinents einst hatte träumen lassen: Wer heute zwei Pässe von zwei Mitgliedsstaaten besitzt, der kann um den 9. Juni herum - auf einen gemeinsamen Wahltag konnten sich die Partnerländer bisher noch nicht einigen - auch zweimal abstimmen. Das Ende der Demokratie ist das nicht. Ein begeisterter Sammler von Staatsbürgerschaften wie der auf Rügen lebende Jean Andreas Elferant kommt derzeit auf fünf Pässe, die ihm Zugang zu fünf Wahlurnen in fünf Staaten verschaffen würden. "Aber ich mache das nicht", sagt der Mecklenburger, "das ist mir zu mühsam, wo ich doch nicht mal hier zu Hause mitmache."

Seit der "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo nach der Europawahl 2014 offenherzig bekannte, dass er seine Stimmen sowohl in Deutschland, als auch in Italien abgegeben habe, herrscht dennoch Futterneid bei vielen, die durch ihr persönliches Schicksal an ein paar Wurzeln gefesselt sind. Wird es weitgehend hingenommen, dass deutsch-türkische Doppelstaatsbürger sowohl Olaf Scholz als auch Recap Erdogan ins Amt verhalfen, und US-Amerikaner, die ihren deutschen Pass sicherheitshalber (Trump!) behalten haben, sowohl hüben als auch drüben abstimmen können, stößt der Umstand der Wettbewerbsverzerrung durch die "Doppelwahl der Doppelstaatler" (BR) dem Fußvolk vor der Urne übel auf. 

Schräge Wahlregeln

One Man, one Vote, das vom EU-Wahlverfahren ohnehin zum Treppenwitz karikierte demokratische Grundprinzip, es werde schwer verbogen, wenn ein Teil der Bevölkerung einmal im Heimatland - der BR nennt es "Gastland" - und ein weiteres Mal im Herkunftsland einen Vertreter ins größte zumindest teildemokratisch gewählte Parlament der Welt entsenden dürfe. Nach Angaben der Bundesregierung könnten etwa 800.000 Menschen in Deutschland von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Sie besitzen mindestens zwei EU-Staatsbürgerschaften, haben also praktisch zwei Stimmen, während Krethi und Plethi genau überlegen müssen, wem sie ihre eine einzige geben.

Wie immer in der Wertegemeinschaft EU ist es kompliziert. Prinzipiell hat jeder Doppelstaatsbürger das Recht, bei der EU-Wahl sowohl in seiner einen Heimat als auch in der anderen eine Stimme abzugeben. Faktisch schließen Gesetze die Ausübung dieses Rechtes aus, seit bemerkt wurde, dass eine demokratische Wahl, die aufgrund ihrer ungerechten Regeln zum absurd ungleichmäßigen Gewicht der Stimmen der Wahlberechtigten in den einzelnen Staaten ohnehin unter schwerem Manipulationsverdacht steht, sich vollends unmöglich macht, wenn einer nur einmal, ein anderer aber auch drei- oder viermal abstimmen darf.

Eine echte europäische Lösung

Herausgekommen ist eine echte europäische Lösung. Gewählt werden darf nur einmal. Wer zweimal wählt, dreimal oder auch fünfmal, muss jedoch keinesfalls fürchten, sich damit Ärger einzuhandeln. Doppelwahl ist ein strafbares Vergehen, das zu 100 Prozent unentdeckt bleibt, weil die 27 Mitgliedsstaaten ihre Wählerlisten nicht abgleichen. Niemand darf, aber jeder kann unbehelligt von den Behörden wählen, so oft er möchte. Unterschiedliche Rechte für Staatsbürger im traditionellen Sinn, die etwa als Deutsche nur Deutsche mit einem einzigen Pass sind, und multinationale Weltbürger mit Wurzeln hier und Aufenthaltsstatus da, sind gelebte Wirklichkeit in der Gemeinschaft. 

Um die 20 Millionen Menschen mit solchen ganz besonderen Mitbestimmungsrechten beherbergt die EU, das sind stolze fünf Prozent der Wahlberechtigten. Vor zehn Jahren hatte sich die Gemeinschaft eigentlich entschlossen gezeigt, das Schlupfloch für Straftäter zu schließen, die es darauf anlegen, die Wahlergebnisse durch Mehrfachstimmabgaben zu delegitimieren. Auf das geplante Wahlgesetz aber hatten sich die in sieben Fraktionen vereinten 200 Parteien, die Europa im EU-Parlament vertreten, vor der letzten Wahl nicht einigen können. Vor den nun anstehenden versuchten sie es gar nicht erst.

Montag, 27. Mai 2024

Knapp nach ausgewählten Punkten: Der Sieg ist unser

Richtig betrachtet gibt es noch Hoffnung für Thüringen.

Es war am Ende denkbar knapp, um 0,3 Prozent nur musste die in Teilen als gesichert rechtsextremistisch vom Verfassungsschutz beobachtete Höcke-AfD sich bei den Kommunalwahlen in Thüringen der demokratischen Konkurrenz von der CDU geschlagen geben. Die seit dem Tag ihrer Gründung durch Euroskeptiker und Brüsselleugner immer weiter nach rechts gerutschte angebliche Alternative zahlt damit die Rechnung für eine beinahe endlose Serie an Skandalen, Gerichtsverfahren, Hausdurchsuchungen und Korruptionsvorwürfen, die der siegesgewissen Parteiführung unglücklicherweise mitten in Wahlkampf gehagelt waren.  

Wenigstens kein Durchmarsch

Nach der Auszählung der Hälfte der Stimmbezirke triumphierte die Union mit 27,6 Prozent. Die AfD muss sich nach einem Stimmenplus von 8,7 Prozent mit 26,4 Prozent bescheiden. Linke, SPD und Grüne, die seit den Ereignissen rund um die Rückabwicklung der Ministerpräsidentenwahl in Erfurt im Land ohne Mehrheit regieren, sacken weiter ab: Die Linkspartei von Ministerpräsident Bodo Ramelow verliert 5,6 Prozent, die Grünen 3,7 Prozent, die SPD 2,3. Zusammen büßen die drei Regierungsparteien 11,3 Prozent ein, verglichen mit der vorigen Kommunalwahl. Sie kommen nun noch auf 23,3 Prozent der Stimmen, ein Verlust von sagenhaften 18,1 Prozent seit der Bundestagswahl 2021, als Rot-Rot-Grün noch 41,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler von sich überzeugen konnte.

Die Erleichterung in den Parteizentralen und den angeschlossenen Medienanstalten, über die die unterlegenen Wahlkämpfer mit Blick auf das drohende noch größere Übel bei den EU-Wahlen einheitliche und möglichst optimistische Erklärmuster zu verbreiten, ist groß. 

Passend gemacht

Lässt man alle Anzeichen dafür beiseite, dass weder die machtvollen Manifestationen gegen die rechten Remigrationspläne noch die harten Vorwürfe an die AfD-Spitzenkandidaten noch die Verurteilung des Thüringer Parteichefs wegen des Absingens einer verbotenen Partyhymne offenbar irgendeine abschreckende Wirkung hatten, bleibt der Trost, dass es der AfD nicht gelungen ist "Landratsämter und Rathäuser im ersten Wahlgang zu erobern" (MDR). Zudem schafften es die Kandidaten der Rechtspartei nicht überall in die Stichwahl. 

Wird dann auch noch das Ergebnis zu den demokratischen Kreistagen und Stadträten weniger prominent behandelt als die Personenwahlen zu Landräten und Bürgermeistern, lässt sich durchaus das Bild eines Sieges malen, der nur eben erst einmal nicht rauschend ausgefallen ist. Aber dafür, dass das Ganze "mehr als ein Stimmungstest" (Taz) war, den offensichtlich beinahe jeder fünfte Wähler nutzte, um SPD, Grünen und Linkspartei den Rücken zu kehren, während jeder Zehnte sich entschloss, jetzt aber mal wirklich ein Kreuz bei den Feinden von Freiheit, Frieden und Demokratie zu machen, sei es noch halbwegs gut ausgegangen.

Dringender Trost

Solcher Trost tut dringend Not. Nach dieser Wahl, die die Zahl der Sitze der Linkspartei in den kommunalen Parlamenten halbiert hat und die Grünen zu einer Splitterpartei wegstutzte, die gerade mal noch 33 Abgeordnete stellt, kann die Stimmung nur hochgehalten werden, indem Einzelergebnisse betrachtet werden. Hier findet sich deshalb eine Eloge auf ein von der marginalisierten Sozialdemokratie verteidigtes Rathaus. Dort steht eine Hymne über das Stadtoberhaupt von Gotha ist, einen Parteilosen, dem es gemeinsam mit der CDU gelang, knapp vor dem AfD-Kandidaten in die Stichwahl einzuziehen. 

Sicher sähe es bei objektiver Betrachtung so aus, als gäbe es im Sorgenland der früheren Kanzlerin nur einen Sieger. Doch gerade nach Wahlen sind Interpretation und Wertung von Stimmanteilen, Zahlen und Statistiken wichtiger als das, was der Wähler womöglich hat sagen wollen: Bei dieser Wahl, so deutet es der "Spiegel", mag die AfD gewonnen haben. Aber sie verpasst deutliche Siege.

Nach Sylt-Gesängen: Klare Kante gegen reiche Rechte

Nach den Sylt-Gesängen regt sich überall Widerstand gegen die Normalisierung des Rechtsrutsches.

Empörung, Entsetzen und tiefe Scham überall, das waren die ersten Reaktionen auf die unsäglichen und ekligen Sylt-Videos. Die kurzen Filmschnipsel markieren einen nationalen Schockmoment, der vielen die Augen geöffnet hat. Selbst viele, die sich zuvor schon klar darüber waren, dass der Rechtsextremismus immer weiter anwächst, schon lange bis in die Mitte eingesickert ist und die führende in Teilen rechtsextreme Partei AfD sogar bei Wahlen antritt, fühlen sich durch die erneuten rechten Ausfälle aufgeschreckt.  

Erste Zählungen der Vorfälle sind gestartet.

Eine breite öffentliche Debatte hatte es zuvor schon häufiger gegeben. Diesmal aber wird darauf offenbar ein echter Aufstand der Mitte. Die Bundestagsvizepräsidentin hat für die höchstmöglichsten harten Strafen plädiert,  Leibwachen der Rechtsstaates wie Correctiv und der Volksverpetzer führen Meldeportale, das Magazin "Der Spiegel" berichtet in einem Liveticker von neuen Vorfällen mit "verbotenen Liedern", die nun offenbar eigens gedeckt bei privaten Feiern gesungen werden, um dem strafrechtlichen Vorwurf des "öffentlichen Zeigens" von volksverhetzenden Symbolen und Parolen und damit langen Haftstrafen zu entgehen.

Die Öffentlichkeit ist aufgeschreckt wie schon seit Januar nicht mehr. Die sektseligen Schnöselpaschas haben der Regenbogennation einen Spiegel vorgehalten, der von  Aperol Spritz angetriebene Aufstand der Reichbürger so kurz vor der Heimat-EM im Fußball lässt für das geplante Sommermärchen Schlimmes erwarten. 

Welches Bild wird Deutschland wohl in die Welt senden, nachdem die Partyszene so deutlich signalisiert bekommen hat, was gesungen werden muss, um die Mehrheitsgesellschaft zu provozieren und die Regierung in Erklärungsnöte zu bringen? 

Doch wo die Bedrohung wächst, wächst das Rettende auch. Überall auf Straßen und Plätzen herrscht in diesen Tagen dichtes Gedränge bei kurzfristige angesetzten und spontanen Demonstrationen für Toleranz und gegen den Rechtsextremismus Sylter Prägung. Beinahe überall kommen viel mehr Menschen, als von Veranstaltern erwartet worden war. Kein Zweifel: Das Thema "reiche Rechte" spaltet nicht nur, es zieht auch viel mehr als die Remigrationsplanungen der Wannsee-Gruppe Anfang des Jahres. 

Von Nord bis Süd und West bis Ost

Vom hohen Norden bis in den tiefen Süden, ganz im Westen oder tief im Osten: In zahlreichen deutschen Städten gehen Menschen für Demokratie und gegen Ausgrenzung, Rechtsextremismus und Luxustourismus auf die Straßen. Vielerorts kommen deutlich mehr Teilnehmende und Teilnehmerer als angemeldet. Demonstrationsareale mussten erweitert und Routen teils an den Stadtrand verlegt werden. 

Die Polizei nennt noch keine Zahlen, geht aber der größten Protestbewegung seit der Wiedervereinigung aus. Weder die Protestwelle gegen rechtsradikale Brandanschläge in den 90ern noch die monatelangen Montagsdemos gegen Schröders "Agenda 2010" oder der Widerstand gegen Deutschlands Beteiligung am Irak-Krieg mobilisierten ähnlich viele Bürgerinnen und Bürger.

Spitzenpolitiker zeigen sich in ersten Reaktionen begeistert davon, wie gut die demokratischen Reflexe immer noch funktionieren. Als "gelebter Verfassungsschutz", der "gemeinsam gegen Menschenfeinde" aufstehe, wurden die Demonstrationszüge gelobt, die sich bundesweit und oft über Stunden durch die Städte schlängelten. Unter dem Motto "Demokratie verteidigen -  gegen AfD und Rechtsruck" hatten überall breite Bündnisse aus Zivilgesellschaft, den demokratischen Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen dazu aufgerufen, den Menschenfeinden von Sylt zu zeigen, dass auf dem Festland andere, demokratische Regeln gelten.

Ein Zeichen gesetzt

Singverbote für den missbrauchten Nazi-Schlager und die postwendende Bestrafung der Täter*innen tun ein übriges an politischer Hygiene, um die gesellschaftliche Stimmung zu entspannen und Nachahmern zu zeigen: So nicht! Deutschland ist ein tolerantes Land, das viel erduldet und für eine ganze Reihe von Ansichten ein weitgefächertes Spektrum an Meinungsfreiheit bereithält.

Doch irgendwo ist Schluss, bei nationalistischen und rassistischen Parolen endet die Toleranz. Es ist diesmal nicht nur einfach ein weiteres Zeichen, das gesetzt wird. Die Demonstrationszüge unter aufrüttelnden Überschriften wie "Alle zusammen gegen Faschismus", "Keine Handbreit dem Sylter Hopfen" und "Singverbot für braune Brut" knüpfen vielmehr unübersehbar an bei jenem "Nie wieder ist jetzt" vom Jahresanfang, als die Zivilgesellschaft zuletzt klare Kante gegen alle gezeigt hatte, die versuchen, das Gemeinwesen mit den Werten von gestern zu spalten.

Sonntag, 26. Mai 2024

Zitate zur Zeit: Von der Umwälzung der Wissenschaft

Nippel, Lasche, dreimal kurz ziehen: 147 Jahre nach Engels "Anti-Dühring" zeigt sich die Weitsicht des bis heute hochverehrten marxistischen Klassikers.

Der Vernunftstaat war vollständig in die Brüche gegangen.

Friedrich Engels - Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft, 1877

Sylt-Krise: Paschajagd am Nordseestrand

Knapp am Liveticker vorbei: Die Reichbürger von Sylt.

Wenn das kein Grund ist, alles andere abzuräumen. Nach den empörenden Parolen von Berlin, Hassgesängen wie "Brennt Gaza, brennt Berlin", reagierte die "Tagesschau" umgehend: Mehr als zwei Minuten waren am Tag danach dem unerwarteten Hassausbruch gewidmet, von dem zuvor verstörende Bilder im Internet aufgetaucht waren. Junge Leute, aufgewachsen mitten im besten Deutschland, das wir jemals hatten, verhöhnen den Rechtsstaat, schreien verfassungsfeindliche Parolen und beschmieren Tisch und Wände wie betrunkene Pennäler.

Reichbürger am Sonnenstrand

Der Schock sitzt tief. Die SPD reagierte sofort. Kanzler, Justizminister, Innenministerin und Parteiführer äußerten Abscheu und ließen erkennen, dass Deutschland keinen Platz hat für diese Art Reichbürger, die sich auf Kosten der Gesellschaft kleiden und ausbilden lassen, nur um die Hand, die sie füttert, bei erster Gelegenheit zu beißen. Der Bundespräsident ist besorgt über "die Verrohung der politischen Umgangsformen".  Besetzungen. Angriffe auf die Freiheit von Forschung und Lehre. Er sehe da "eine Radikalisierung, die mindestens in Teilen in der Mitte der Gesellschaft auch stattfindet", hat Walter Steinmeier in einem klassischen Steinmeier-Satz gesagt.

Nein, Antisemitismus, das hatte Nancy Faeser allen infrage kommenden Verdächtigen bereits im vergangenen Jahr deutlich klargemacht, das geht gar nicht. "Das ist mehr als eine historische Verantwortung. Es ist unser Selbstverständnis von Menschlichkeit und Zusammenhalt."

Deshalb nun das ganz große Besteck. In der "Tagesschau" wurden Zeugen wie die renommierte  Amadeu-Antonio-Stiftung gehört. Ministerpräsident Daniel Günther erklärte, wie es überhaupt so weit hatte kommen können und was nun zu tun ist. Offener Antisemitismus und öffentlich von der Leitung einer Universität geduldeter Israelhass am Festwochenende für das Grundgesetz. Was, wenn nicht das, ist eine Bedrohung der Demokratie? Was, wenn nicht so, geht eine Staatskrise?

Die grölenden Paschas von Sylt

Natürlich, es sind die "die reichen, grölenden Paschas von Sylt", deren Namen die Süddeutsche Zeitung umgehend zu erfahren wünscht. Das Fake-News-Portal Correctiv hat ein Meldeportal für alle freigeschaltet, die von ähnlichen Vorfällen zu berichten wissen. Der "Spiegel" listet weitere ernste und akute Fälle auf, in denen Gigi D’Agostinos schrecklicher Hit "Immer lieben" brutal "missbraucht" (Der Spiegel) worden sei, um Hass zu säen.

Es ist dank all dieser Bemühungen dieses traurige Lied mit seinen vier stampfenden Akkorden, das die Debatte bestimmt.  Es empört um mehrere Größenordnungen mehr als die Manifestationen der Antisemiten und Israelhasser im Herzen Berlin, es siegt über den Ukrainekrieg, den DFB-Pokal und die allgemeine Krisenangst. Ein medialer Coup wie seinerzeit die Hetzjagd von Chemnitz, der grüne Veggie-Day und Eva Hermans Autobahn-Auftritt.

Nach dem Anforderungsprofil

Es passt einfach alles und das genau ins Anforderungsprofil einer hochentwickelten Klickbait-Kultur: Menschen, die anders sind als alle, brechen Tabus, die für alle gelten, sie halten sich für schöner, klüger und reicher, für eine auserwählte Elite, die sich alles erlauben kann und keine Rücksicht auf die Regeln nehmen muss, die sie selbst verordnet hat. 

In früheren Wahlkämpfen hatten "Manager" (Franz Müntefering), "Spekulanten" (Angela Merkel) und "Steuersünder" (SZ) ins Kostüm des Sündenbocks schlüpfen müssen, der nach dem traditionellen Ziegenbock-Bobesch-Prinzip der Augsburger Puppenkiste dazu auserkoren ist, das Volk der Puppenkiste zu einen, so dass alle größeren Probleme liegenblieben können und existenzielle Bedrohungen nicht mehr weiter beachtet werden müssen. 

Im kleinen Dorf Holleschitz herrschte nach dem Reinigungsprozesse immer schnell wieder eitel Sonnenschein.

Samstag, 25. Mai 2024

Im Fahrwasser der Nazi-Sänger: Propaganda-Unfall bei der SPD

Nationalistische Töne im Überlebenswahlkampf: Unmittelbar nach dem medialen Riesenerfolg der Nazi-Sänger von Sylt adaptierte auch die SPD den Nazispruch.

Noch sind nicht alle Hintergründe zur Besetzung des Sylter Nobellokals "Pony" durch reiche Rechtsextremisten bekannt. Wer hinter der Influencer-Aktion zur Verbreitung von Nazi-Parolen steht, ob der Auftrag aus dem Kreml kam, wie viel Geld aus den Kassen einschlägig bekannter Parteien floss: Alles unklar.  

Schande für Deutschland

Nur die wichtigsten Fakten zur neuerlichen "Schande für Deutschland" stehen fest: Mitten der Festwoche zu Ehren des Grundgesetzes und kurz vor dem Höhepunkt des Wahlkampfes um die Neubesetzung des Europaparlaments ist es jungen Leuten aus besseren Kreisen gelungen, mit dem gezielten Absingen einer Nazi-Parole aus der Zeit lange vor ihrer eigenen Geburt. 

Der mediale Erfolg der Aktion mag die Mitmachenden selbst überrascht haben: Während die pro-palästinensischen Besetzer*innen der Humboldt-Universität in Berlin Mobiliar zerschlugen, antisemitische Losungen brüllten und den Rechtsstaat demonstrativ vorführten, ohne große Aufmerksamkeit hervorzurufen, reichten den Aktivisten auf der Edel-Insel ein paar Liedzeilen und das Herzeigen verfassungswidriger Gesten, um eine Staatsaffäre auszulösen.

Wiedereinmal sind es die Bürgerkinder aus dem alten Westen, die Zweifel an ihrer demokratischen Gesinnung wecken. Ein Mann zeigt mutmaßlich den großen Hitlergruß, ein anderer den sogenannten kleinen. Beide sind dabei völlig unbefangen, sie gehören zu einer Generation, die "die Gnade der späten Geburt" (Helmut Kohl) nicht einmal mehr als leichte Last spüren. Hass, Hetze, Aperol Spritz und vermutlich auch Kokain, die Droge, die schon Hermann Görings Selbstbewusstsein in Unermessliche steigerte, verhelfen ihnen zum Gefühl, die Herren der Welt zu sein, die die Regeln bestimmen und die Ansagen machen.

Schrille Alarmglocken

Im Willy-Brandt-Haus schrillten sofort alle Alarmglocken. Seit weit mehr als 160 Jahren kämpft die SPD nun schon in vorderster Front gegen Rechte, Nazis und Populisten. Und das ist das Ergebnis: Ausgerechnet die, die von den Wohltaten am meisten profitieren, die ihnen der demokratische Rechtsstaat zu Füßen legt - die kostenlosen Interrail-Tickets, die Erasmus-Stipendien und die EU-Mobilfunktarife - beißen die Hand, die sie dickgefüttert hat. 

Wie die DDR, die kurz vor ihrem Ende auch die treuen FDJ-Kader verlor, stand die Kampa der deutschen Sozialdemokratie kurz vor dem Wochenende vor einem strategischen Dilemma: Bedingungslos verurteilen und damit womöglich eine ganze Generation Mitte-Nazis aus den Wohnvierteln des Bionadeadels verlieren? Oder Anschluss suchen an eine Jugendbewegung, die sich offenbar weigert, auf die "stärksten Stimmen für Europa" zu hören?

Die Wahlkampfzentrale der ältesten deutschen Partei reagierte prompt. Seit Martin Schulz vor sieben Jahren zum ersten Mal die nationale Karte spielte, um am rechten Rand zu punkten, hat sich die SPD in vielerlei Hinsicht radikalisiert. Generalsekretär Kevin Kühnert rief zum Aufbau des Kommunismus auf, ein Parteitag sang beseelt die alte Schlägerparole "Rot Front!" und die Spitzenkandidatin im Europawahlkampf ließ sich ein corporate design schneidern, das als zentrales Erkennungsmerkmal den Stern der früheren Sowjet-Armee nutzt. 

Zugleich zeigte sich die Partei aber auch nach rechts offen: Der sächsische Parteichef Martin Dulig zitierte mit der Parole "Sachsen ist unser Land" die Nazi-Initiative "Ein Prozent". Wenig später machte sich der Kanzler selbst Remigrationspläne der extremen Rechten zu eigen, indem er ankündigte, "in großem Stil abschieben" zu wollen.

 Punkten am rechten Rand

"Ausländer raus" also, eine der ekligen Forderungen der Partypeople von Sylt. Nach dem viralen Erfolg des Pony-Videos schaltete die SPD angesichts deprimierender Umfragewerte umgehend auf Attacke. "Deutschland den Deutschen" heißt es auf einem Plakat, das über die sozialen Netzwerke verbreitet wird. Eine Übernahme aus dem historischen Hetz-Vorrat der NPD

Der kleiner gedruckte Satz "die die Demokratie verteidigen" verweist allerdings darauf, dass die Sozialdemokraten weitergehende Pläne haben: Deutschland soll nur noch denen gehören, die die Demokratie verteidigen. Wer das nicht tut, wird gehen müssen, sobald die SPD die für entsprechende Grundgesetzänderungen notwendigen Mehrheit beisammen hat.

Ausbürgerungen, der Entzug der Staatsbürgerschaft, angekündigt ausgerechnet im Internet, das unter besonderer Beobachtung einer erst jüngst gegründeten Früherkennungseinheit des Bundesinnenministeriums steht. All das wäre eigentlich ein ausreichender Beleg für die Feststellung, dass rechtes Gedankengut keineswegs nur bei den Alten und Abgehängten im ostdeutschen Sachsen und beim einkommensstarken Millionärsnachwuchs auf Sylt zu finden ist, sondern auch mitten in der Fortschrittsmetropole Berlin, direkt in der Parteizentrale der größten Regierungspartei. 

Bedauerlicher Propaganda-Unfall

Aber nichts passiert, bis die Partei selbst den Versuch, nach Rechtsaußen Anschluss zu finden, schließlich als bedauerlichen Propaganda-Unfall deklariert.  Ein Klick, und die Anbiederung an die Nazi-Sänger*innen von Sylt war gelöscht. Niemand wird für die mutmaßlich volksverhetzende Parole angeklagt und verurteilt werden. Nicht einmal Demonstrationen einer breiten bürgerlichen Mehrheit gegen die Remigrationspläne wird es wohl geben. Was bleibt, ist eine weitere Facette einer schleichend um sich greifenden Normalität des Bösen: