Putschgerüchte in Berlin: Zweiter Streich

2022 flog die Putschistentruppe um den mutmaßlichen Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß auf, jetzt enthüllte der frühere Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble Umsturzpläne in höchsten Parteikreisen.

Sie waren Profis, sie hatten die besten Verbindungen, bis ganz nach oben sogar, Zugang nicht nur zum Bundestag, sondern bis ins Kanzleramt. Kontakte führten zu den Geheimdiensten, anders ist kaum zu erklären, dass dort auch dieser Versuch der Organisation eines Umsturzes unentdeckt blieb. Wer das politische Berlin kennt oder schon einmal besucht hat, weiß genau, dass hier über alles geschwatzt wird, jedes Gerücht einen wahren Kern hat und wie ein Lauffeuer umgeht. Wenn ein geplanter Putsch, eingefädelt von den Granden einer der großen Volksparteien, unentdeckt bleibt, dann steckt dahinter kein glücklicher Zufall, sondern minutiöse Planung.  

Abgeblasener Staatsstreich

Neun Jahre gelang es den Verschwörern dennoch, ihren seinerzeit kurzfristig abgeblasenen Staatsstreich unter der Decke zu halten. Im Gegensatz zum Verschwörerkreis Reuß, dem in Kürze der Prozess gemacht werden wird, arbeiteten die in die Pläne Eingeweihten weiter, als sei nichts gewesen. Der Öffentlichkeit zeigten sie ihre offizielle, demokratische Seite. Fast ein ganzes Jahrzehnt lang schien das wohl unter dem Decknamen "Schulmädchen" vorangetriebene Unterfangen vergessen und vergeben.

Doch nun hat der frühere CDU-Chef, Kanzleramts- und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble aus dem Grab heraus aufgedeckt, wie ein verschwiegener Zirkel aus Parteiarbeitern und Spitzenfunktionären mitten auf dem Höhepunkt der Flüchtlingspolitik der früheren Kanzlerin Angela Merkel einen Putsch gegen die mächtigste Frau der Welt plante. 

Enthüllung aus dem Grab

In seinen Memoiren enthülle der langjährige Kanzler im Wartestand, wie der damalige CSU-Chef Edmund Stoiber ihn 2015 zum Sturz von Kanzlerin Merkel aufgefordert habe. Ohne Umschweife gesteht Schäuble, was damals lief, als Deutschland gebannt auf den CSU-Parteitag schaute, auf dem Horst Seehofer der Ostdeutsche aus Hamburg 13 lange Minuten die Leviten las. Merkel ließ die Strafpredigt über sich ergehen. Und flüchtete anschließend direkt zurück nach Berlin.

Die Kanzlerin wusste, dass sie die Hauptstadt verteidigen muss. Denn nach Seehofer wurde Schäubles Bericht zufolge "auch Edmund Stoiber aktiv und feuerte Seehofer, seinen Nach-Nachfolger im Ministerpräsidentenamt, in dessen Attacken gegen Merkel an". Die Lage, von zahllosen embedded Reporter beobachtet, aber nie vollständig erfasst, eskaliert, als Stoiber seine Absichten offen formuliert. "Mich wollte er dazu bewegen, Merkel zu stürzen, um selbst Kanzler zu werden", schreibt Schäuble drei Monate nach seinem Tod.

Putschpläne in Süddeutschland

Nicht nur eine Staatsaffäre, sondern schon der zweite geplante Staatsstreich binnen eines Jahrzehnts. Entsprechend groß ist die Aufregung. "Putschpläne gegen Angela Merkel" titelt die Süddeutsche Zeitung aus der Hauptstadt der Bewegung, einen "Putschversuch" nennt es der Deutschlandfunk, der RND hält sich an die Vorschrift, nichts Schlechtes über Tote zu sagen. "Schäuble lehnte Putsch gegen Merkel ab", zeigt sich das Portal aus der SPD-eigenen Deutschen Druck- und Verlagsgesellschaft dankbar dafür, dass damals kein Aufstand aus dem innersten Kreis die Flüchtlingskrise beendete.

Die allein war Ausgangspunkt des Streits der beiden Chefs der Schwesterparteien gewesen, deren Ansichten zur Frage der Willkommenkultur nicht weiter hätten auseinanderliegen können. Stoiber wollte geschlossene Grenzen und Abschottung, Kabinett und Bundestag müssten mit der Frage befasst werden, ob Deutschland sich für sieben Milliarden womöglich schutzbedürftige Menschen öffnen solle. Die "Weltkanzlerin" (Horst Hallig) setzt auf offene Arme und weiche Herzen, es ist ihr Land, wie sie später einmal sagen wird, und damit tut sie, was sie will, auch wenn die mächtige Männerriege mit den Zähnen knirscht. 

Hoffen auf Gnade bis zuletzt

Wolfgang Schäuble, der ein ganzes Leben lang vom Einzug ins Kanzleramt geträumt hatte, sagte den Verschwörer seinerzeit ab, zumindest eigener Aussage nach. Edmund Stoiber musste als EU-Entbürokratisierungsbeauftragten (EU-EBüBA) nach Brüssel ins Exil gehen. Seehofer kam als Minister unter direkte Kontrolle der Kanzlerin, gegen deren Richtlinienkompetenz auch Schäuble nie wieder aufbegehrte. Der "Eiserne", in mehreren Medienkampagnen zuvor schon gezielt diszipliniert und domestiziert, rechnete sich immer Chancen aus, bei ausreichendem Wohlverhalten eines Tages zum Nachfolger bestimmt zu werden.

Das Erschütternde an den Nachrichten über den geplanten Sturz der Nummer drei im Staate ist der beteiligte Personenkreis. Es sind nicht verwirrte Rentner und Hinterbänkler,  Menschen aus dem adligen Milieu, aus dem AfD-Milieu, aus dem reichsideologischen Milieu, Querdenken-Milieu und aus den Sicherheitsstrukturen der Bundesrepublik, die da gezielt und offenbar in einer größeren Gruppe darauf hinarbeiteten, eine deutsche Regierungschefin zu stürzen. 

Der Kreis der Mitwisser

Nein, der Kreis der Mitwisser umfasste Parteichefs, Regierungschefs, Innenminister und andere Verfassungsorgane, wie aus einer Vorabmeldung der Illustrierten "Stern" hervorgeht. Zwar geht aus dem Bericht nicht hervor, wie genau die Umsturzpläne umgesetzt werden sollten, doch angesichts der namhaften Rädelsführer waren die Putschvorbereitungen wohl ernsthaft und weit fortgeschritten. Auch wenn die aktuellen Enthüllungen nur die Vorfreude auf Schäubles Buch wecken sollen, das wohl gezielt weitere politische Beben auslösen wird, bleibt die Frage, wie das hat geschehen können - unter den Augen des Verfassungsschutzes und der kritischen Medien.