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Traurig schauen nachwachsende EU-Bürger*innen auf den aktuellen Zustand der Gemeinschaft. |
Jahre harter Arbeit äußerst hochbezahlter Beamter, unermüdlicher Einsatz von mehr als 770 Abgeordneten aus mehr als 200 Parteien aus 27 Staaten, die offiziell 24 Sprachen sprechen und - abgesehen von 51 fraktionslosen Parlamentariern - zu sieben Fraktionen zählen. Dazu die Mühen der Staatenlenker über Legislaturperioden und zahllose Regierungswechsel hinweg. Immer wieder musste mühsam nachjustiert werden. Immer wieder galt es, das Beste für die Bürgerinnen und Bürger im Blick zu haben, was sich mit noch mehr überbordender Bürokratie erreichen ließ.
Transparent im Hinterzimmer
Hoffnungsfroh stand das vereinte Europa dann vor dem finalen Beschluss. Formsache zumeist, denn in der Regel wird in der Gemeinschaft alles ganz transparent im Hinterzimmer beraten und beschlossen. Doch diesmal ging der Kommission im Grunde alles schief. Zuerst versagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen beim Versuch, eine Mehrheit für die meist nur knapp als "Lieferkettengesetz" bezeichnete sogenannte "Richtlinie zur nachhaltigen Unternehmensführung" (Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD)) auszuhandeln. Wenige Stunden später ging auch noch der Versuch der um ihre Wiederwahl kämpfenden Christdemokratin schief, den Mitgliedsstaaten mit Hilfe einer neuen EU-Zuständigkeit Pflichten bei der Gesundheitsprüfung von Bürgerinnen und Bürgern nach bestimmten Altersrastern aufzuerlegen.
Eine Katastrophenwoche für die EU, die sich im offen ausgebrochenen Dissens zwischen Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron und dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz ohnehin sofort in die Büsche geschlagen hatte. Ursula von der Leyen, Tage zuvor noch unterwegs, um ihre Idee eines "europäischen Verteidigungsministers" trotz anderslautender Bestimmungen in den EU-Verträgen wie der Bofrost-Mann durch die Medien zu klingeln, war wieder einmal verschwunden.
Abgetauchte EU-Chefin
Weder mahnte sie den mit den maßgefertigten Schuhen scharrenden Franzosen, der Nato beim Waffengang gegen Russland nicht ins Programm zu pfuschen. Noch wies sie dessen deutschen Widersacher darauf hin, dass er seine ihm von der deutschen Verfassung zugedachte Rolle missinterpretiert, wenn er versichert, dass er "als deutscher Bundeskanzler keine Soldaten unserer Bundeswehr in die Ukraine entsenden", weil es sich bei den Resten des deutschen Militärs um eine Parlamentsarmee handelt, die einzig und allein ein Beschluss des Deutschen Bundestages in Marsch setzen kann.
Zu hart hatte von der Leyen das vorläufige Ende an ihren beiden Lieblingsprojekten getroffen. Der erste Vorschlag für die europaweite Einführung einer strengen Aufsicht über Lieferketten bis in die Dörfer Bangladeshs, die Minen Afrikas und High-Tech-Fabriken, die dem chinesischen Militär unterstehen, datiert vom 23. Februar 2022. Zweieinhalb Jahre war die Nachfolgerin des in seinen letzten Jahren nur noch durch Altersmüdigkeit aufgefallenen Jean-Claude Juncker da im Amt, sie hatte alle Hände voll zu tun damit, der Kommission neue Arbeitsfelder zu erschließen und der Gemeinschaft neue Kompetenzen zu erobern.
Das Beispiel Weizen
Schon wieder stand die Aufgabe, alles zu vermeiden, das Einfluss und Größe der Führung der Gemeinschaft auf die Mitgliedsstaaten verringern könnte. Wie jede Entität ist auch die Europäische Gemeinschaft seit ihrer Gründung zuallererst mit einem Selbstzweck beschäftigt: Um das eigene Überleben zu sichern, tendieren Pflanzen, Tierpopulationen, Völker, Menschen und Organisationen aller Art dazu, die eigene Ausbreitung als Hauptaufgabe ihres Daseins zu interpretieren. Je mehr es von etwas gibt, desto geringer ist die Gefahr, ausgerottet zu werden.
Der Weizen, heute eines der am meisten genutzten Getreide der Welt, hat auf beeindruckende Art und Weise vorgemacht, wie sich zu diesem Zweck selbst der schlimmste Feind instrumentalisieren lässt: Erst als verlockende Speisepflanze wurde aus dem unbeachteten Gras, das nur im Nahen Osten wuchs, eine Pflanze, die weltweit so verbreitet ist, dass ihre Ausrottung nahezu unmöglich scheint.
Eine EU wie Getreide
Was der Weizen schon ist, würde die EU gern werden. Ein zentraler Pfeiler der menschlichen Zivilisation, ohne dessen Vorhandensein eine Fortexistenz der Menschheit nicht vorstellbat ist. Als die Briten die Union schmählich verließen, gelang es tatsächlich, den Verlust rückstandslos auszugleichen. Der Beitrag der Briten, um den der Finanetat der Gemeinschäft hätte schrumpfen müssen, damit alles wäre wie zuvor, wurde ausgeglichen. Die EU hatte zwar nun keine britischen Abgeordneten mehr, keinen britischen Kommissar, keine britische EU-Beiträge und keine EU-Mittel,
die auf die britischen Insel hätten fließen müssen. Statt aber alles einzusparen, was an Ausgaben anfiel, die die Summen überstiegen, die bisher aus dem britischen
EU-Beitrag in andere Mitgliedsstaaten als Großbritannien geflossen waren, gelang es, den verbliebenen Mitgliedern eine Lösung schmackhaft zu machen, die die fehlenden Miettel nun aus deren Kassen einzog.
Doch was das betrifft, ist die Europäische Union eine Institution wie
jede andere: Gehen die Briten, bleibt eine Gemeinschaft zurück, die
keineswegs daran denkt, angesichts des Verlustes an Verwaltungsaufwand, Demokratiekosten, Wirtschaftskraft und - vor allem - Beitragszahlungen entsprechend
zu schrumpfen. Nein, diskutiert wird ausschließlich über Wege, wie die
kleinere Union nach dem Brexit über deutlich erhöhte
EU-Haushaltsbeiträge der verbliebenen Staaten dazu kommen kann, mit
demselben Haushaltsvolumen weiterzuwirtschaften wie bisher.
Weniger Mitglieder, aber bloß nicht weniger Geld! Denn weniger Geld
bedeutete für die sogenannte Europäische Kommission weniger
Verteilungsmasse und damit weniger gekaufte Loyalität bei denen, die mit
Geld aus dem EU-Haushalt beglückt werden. 960 Milliarden Euro hatte die
EU im letzten Haushaltszeitraum von 2014 bis 2020 in ihrem Etat, durch
den Abschied der Briten fehlen nun schon 40 Milliarden, um den Wert
halten zu können. Sogar 80 Milliarden Euro groß ist die Lücke bis zur
magischen Billion, die Eurokraten wie Juncker, Timmermans und Oettinger
für eine angemessene Größe für die weltgrößte Staatengemeinschaft
halten.
Europa für die Welt
Dass Deutschland als weltweite Vorbildnation sich bereits im Corona-Sommer 2021 ein Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz verpasst hatte, um "internationale Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards besser durchzusetzen", wie der seinerzeit noch einer Großen Koalition unter Angela Merkel dienende Arbeitsminister Hubertus Heil sagte, störte die Kommissionspräsidentin nicht. Auch ihr geht es unter dem Deckmantel eines angestrebten "Wandels zu einer Wirtschafts- und Lebensweise, die die natürlichen Grenzen unseres Planeten respektiert" (Heil) vor allem um Prestige, um Schlagzeilen und Durchgriffsrechte. Auch ihr geht es keineswegs darum, "internationale Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards besser durchzusetzen". Sondern darum, europäische weltweit verbindlich zu machen, weil europäische aus europäischer Sicht die einzig möglichen sind.
Dazu braucht es einen beständig wachsenden Apparat, dem einen beständig wachsender Berg aus Bürokratie als Labsal dient. Die "unternehmerische Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten" auf dem gesamten Erdball bis hinunter zur letzten Schraube, zur letzten Prise Salz und zum dünnsten Baumwollfaden auf die Firmen zu verlagern, die in der EU wirtschaftlich tätig sind, war vor diesem Hintergrund ein Meilenstein. Und nicht der einzige: Auch die Idee, Ältere und Alte willkürlich unter den Generalverdacht zu stellen, sie seien nicht mehr in der Lage, am Straßenverkehr teilzunehmen, barg in sich das Versprechen umfassender neuer staatlicher Eingriffs- und Kontrollrechte. Millionen Gesundheitsprüfungen jährlich. Und Prüfungen der Prüfungen. Und Prüfungen der Prüfer.
Faire Löhne für Peru
In den schönen früheren Tagen Gründe genug, den globalen Lieferkettenschutz, das europäische Recht auf faire Löhne in Peru, die EU-Schutzgarantie für die Umwelt im Simbabwe und den Ausschluss altersverdächtiger Fahrzeugführer aus dem Straßenverkehr beiläufig durchzuwinken. Damals, in jenen EUphorischen Zeiten, als jeder wusste, dass Martin Schulz EU-Parlamentspräsident ist und eben dieser Sozialdemokrat die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa bis 2025 ankündigte, war jedes mehr Europa besser und jeder Zweifler ein Feind. Kaum mehr zwölf Monate vor dem von Schulz versprochenen Termin weiß europaweit niemand mehr, wer jetzt EU-Parlamentspräsident ist. Und die Mitgliedsstaaten versagen der Kommission die Gefolgschaft: Das Lieferkettengesetz haben sie abgelehnt, die Pflichtuntersuchungen für Ältere und Alte durchfallen lassen.
Schulz, inzwischen endversorgt als Vorsitzender der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, schweigt natürlich längst, er möchte an sein Versprechen nicht mehr erinnert werden. Doch auch die Kommissionspräsidentin scheint sich wehrlos in ein Schicksal zu ergeben, dass kein immer weiteres Zusammenwachsen und keine immer tiefer in die Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten hineinwuchernde EU-Bürokratie mehr haben mag. Den doppelten Nackenschlag der zwei durchgefallenen Großprojekte kommentierte die EU-Chefin mit keinem Wort. Stattdessen machte sie Schlagzeilen mit ihren eigentümlichen Reisegewohnheiten.
Laden noch im Griff?
Hat Ursula von der Leyen den Laden denn noch im Griff, fragen sich angesichts dessen immer mehr gute und gläubige Europäer. Wo ist die Frau aus Niedersachsen, wenn der Kontinent sie wirklich braucht? Nach den vielen Pannen rund um die Abschaffung der Sommerzeit, die Halbierung des Pestizideinsatzes, den "Buy European"-Klausel, die Resilienzregeln, den Green Deal, die Next Generation EU, den großen Corona-Wiederaufbauplan, den "Chips Act", "Horizont Europe, "Invest EU" und "React EU" entsteht der Eindruck, als gehe es der Kommissionspräsidentin nur um Außenwirkung, nicht um eine Verbesserung der Welt in Richtung Gerechtigkeit, Demokratie und nachhaltiger Transformation hin zu einer neuen Art Wohlstand.
Ursula von der Leyen ist neben der vollkommen chancenlosen deutschen Zählkandidatin Katarina Barley (SPD) bisher die einzige bekanntgewordene sogenannte "Spitzenkandidatin" für die EU-Wahlen im Sommer, auch wenn sie selbst nicht antritt. Doch ob die aktuelle Kette an Niederlagen, Pleiten und Rückschlägen als Argument für eine erneutes Hinterzimmervotum reicht, ist vorerst unklar.
3 Kommentare:
Altersmüdigkeit ist gut. Wenn ich nachts aus der Kneipe komme, bin ich auch altersmüde.
Immerhin produziert die EU weiter teure Witze, man muss als Kommentator nur noch zitieren.
Während in den meisten EU-Mitgliedstaaten ein Pkw-Führerschein ausreicht, um ein landwirtschaftliches Fahrzeug zu fahren, sieht die überarbeitete Führerscheinrichtlinie acht neue Führerscheine speziell für Traktoren vor.
...
Die neue Führerscheinrichtlinie ... soll Führerscheine harmonisieren, digitalisieren und vereinfachen.
Acht neue Führerscheine statt einer PKW-Fleppe ist die Art von Vereinfachung, die nur die EU hinkriegt.
Fertig? Pah, nein:
Eine einzige Kategorie würde den Flickenteppich der bestehenden Gesetzgebung beseitigen, grenzüberschreitende Aktivitäten erleichtern...
Also wenn Krzysztof aus Polen mal über die deutsche Grenze ackert, dann viel einfacher mit einem von acht Führerscheinen statt PKW-Schein.
https://www.euractiv.de/section/europa-kompakt/news/franzoesische-kommunisten-und-gruene-kritisieren-eu-plaene-zu-traktorfuehrerschein/
32.000 verwalter sollten bald nicht mehr reichen. dann wären endlich genug leute da, um sich noch mehr richtig wichtige bürokratische regeln auszudenken
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