Christian Lindner ist einer der drei Jenga-Spieler, die selbst gespannt sind, wann der Turm zusammenstürzt. |
Jenga ist ein Geschicklichkeitsspiel, das auch Ungeschickte spielen können. Sie sind dabei zumeist nicht allzu erfolgreich, zuweilen agieren sie sogar so unglücklich, dass sich jemand erbarmen und sie erlösen muss. Doch ist der Turm aus Bausteinen nur groß genug, zusammengesetzt auch vielen, vielen und noch ein paar mehr Teilen, möglichst viele davon möglichst unnötig für die Standfestigkeit der Struktur, dann lässt sich über Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre ein Stückchen nach dem anderen aus dem Bauwerk ziehen und dem verbleibenden Rest als Last aufzubürden, ohne dass das gesamte Werk auch nur zu wackeln beginnt.
Der innere Zusammenhalt
Es stört den Jenga-Turm nicht, dass es ihm an den inneren Zusammenhalt geht, so lange es ihm nicht an den inneren Zusammenhalt geht. Bis dahin dauert es, manchmal länger sogar als die Spieler denken. Der Name "Jenga" hat seinen Ursprung natürlich in Swahili, der Sprache der Architekten und Erbauer der Ruinen der ehemaligen Hafenstadt Kilwa Kisiwani im heutigen Öko-Energie-Musterland Kenia, die zwei Moscheen und ein großes Bürgerhaus besitzt. In dieser bekanntesten der 1.500 bis 2.000 afrikanischen Sprachen beschreibt das Wort den Imperativ von "bauen", signalisiert also die Aufforderung "bau!". Wobei das Spiel genau das Gegenteil zur Aufgabe stellt: Ein fertiges Bauwerk innerlich abzureißen und die ausgebauten Teile dem verbleibenden Rest aufzubürden. Und dabei so geschickt zu sein, dass es möglichst lange stehenbleibt.
Beim "Palast der Republik", mitten im Herzen des politischen Berlin gelegen und einst der Stolz der DDR-Politbürokratie, dauerte das Jenga-Spiel 28 Jahre. So lange war das Haus noch da, das schon weg war. Die gesamte Bundesrepublik wird vermutlich um einiges schneller fertig: Seit in der Mitte der Merkel-Ära eine große, allgemeingültige Lähmung über den früher dynamischeren Teil Deutschlands kam, beschleunigt sich der Rückbau all dessen, was einmal gewesen ist, mit zunehmendem Wegfall schmückender Fassadenelement.
Anfang einer neuen Beschleunigungsphase
2023, das Jahr nach dem Ende der Pandemie und dem Anfang des Ukraine-Krieges auch im neuen Deutschland, markierte den Anfang einer neuen Beschleunigungsphase. Nach dem "Booster" kam nicht die Zeitabschaltung durch die EU, aber die "Zeitenwende", und dann folgten "Wumms" und "Doppelwumms". Eine Fortschrittskoalition, in ihren ersten Monaten noch leidlich überfordert von der sie umgebenden Wirklichkeit, rutschte von einer Not in die nächste, von einem Streit in den anderen, von Kalamitäten in Katastrophen. Oberkante Unterlippe klang für den Kanzler und seine Vizes wie ein feuchter Traum. Die Vorstellung, dass sie doch endlich ganz untergehen mögen, ehe noch mehr Schaden angerichtet ist, für die Bürger wie eine Verheißung.
Immerhin konsequent blieben die drei Regierungsparteien auf Kollisionskurs mit allen, die ihren Rezepten von Anfang an misstraut hatten. Immer weniger Energie bei immer mehr Kosten, Ausstieg ohne Alternativen, Umbau mit Zielen, aber ohne Konzept. Waren es anfangs noch die üblichen Verdächtigen von Quertreibern, Sachsen, Hassern bis hin zu Zweiflern, die skeptisch auf die große Transformation schauten, schlossen nach "Zustrom" (Merkel), Atomausstieg, Inflationsschock, Heizungsumbaugesetz, Steuererhöhungen und all den anderen misslungenen Manövern immer mehr Menschen, dass die, die das machen, gar nicht wissen, was sie tun.
Absolut sicherer Ausgang
Ein Jenga-Spiel, wie jedes andere auch mit absolut sicherem Ausgang. Das Spiel, 1983 in Großbritannien erdacht und kurz vor der deutschen Einheit 1989 in Westdeutschland eingeführt,kennt keine Gnade mit denen, die es spielen. Ehe nicht alles zusammengebrochen ist, geht es weiter. Im richtigen Leben nicht mit 54 oder 60 gleichen hölzernen Bauteilen in Quaderform, die jeweils zu dritt nebeneinander liegen. Sondern mit Milliarden, Billionen, Gesetzen, EU-Verordnungen und queren Vorstellungen von staatlicher Planung, Lenkung und Leitung.
Denen zufolge ist eine Gesellschaft auch nichts anderes als ein ferngesteuertes Auto, das dorthin fährt, wo man es hinhaben will. Das kann direkt unten in den Turm hinein sein. Und einfallen muss der trotzdem nicht unbedingt. Die große Theorie von der Transformation sagt sogar, dass er gar nicht kann, wenn der Steuermann ihn nicht lässt.
Zerren an den Klötzchen
Wie manche Menschen an ihren Ohrläppchen zupfen und andere an ihrer Nagelhaut, zog und zerrte die Ampelkoalition also an den Klötzchen herum. Und keineswegs abwechselnd, wie es die Jenga-Regeln vorsehen. Nein, die drei Parteien griffen meist gleichzeitig zu. Der eine nahm hier, der andere zum Ausgleich dort. Der dritte wollte dann auch nicht zu bescheiden sein und hielt sich an einer dritten Stelle schadlos.
Das Publikum, sinnbildlich eingesperrt in jenem Turm, dessen kühnen Baustil, dessen formschöne Eleganz und dessen ingenieurtechnischen Finessen die Welt so lange staunend bewundert hatte, sah es erst mit leicht beunruhigt. Dann mit Sorge. Schließlich mit so viel unverkennbarem Widerstreben, dass nicht einmal mehr die vielen Versprechen vom neuen Wirtschaftswunder, die Vertröstungen auf bald ins Bodenlose fallende Strompreise und eine grüne Welle, die den Wohlstand in ungekannte Höhe heben werde die Stimmung noch zu heben vermochten. Jeder Versuch, mit dem rechtem Popanz zu drohen, um Gefolgschaft zu zu beschwören, erreichte nur noch das Gegenteil.
Ohne Nägel und Leim
Jenga funktioniert traditionell ohne Leim und Nägel, doch im Jenga-Spiel in der Wirklichkeit werden sie häufig durch nationalen Kleber, Appelle an die Moral und Aufrufe zu freiwilligen Opfern für einen sehr, sehr guten Zweck ersetzt. Angela Merkel etwa überstand die wackligsten Momente an ihrem schwer erschütterten Jenga-Turm, indem sie einfach ein offenes Gesicht zeigte, meist bei "Anne Will". "Ich bin's, Sie kennen mich", rief sie den Leuten zu. Jeder glaubte ihr, dass sie kein Wässerchen trüben wird. Und vor die Wahl gestellt, in einem Land leben zu müssen, das dann nicht mehr Merkels wäre, war es einfach viel einfacher, anzuerkennen, dass sich manche Dinge einfach nicht mehr ändern lassen.
Dann warn sie halt da. Und nun ist Merkel weg. Völlig sogar. Einen Orden gab es noch zum Abschied, das Trostkreuz, demonstrativ verliehen auf einem "Scherbenhaufen" (Spiegel) aus "mehreren Scherbenhaufen" (Spiegel), die es nicht einmal mehr zusammenzukehren lohnt. Ehe diese Arbeit beendet wäre, für die sich kaum mehr Fachkräfte finden lassen werden, bräche wahrscheinlich schon der Turm ein.
Olaf Scholz hatte nie diesen Kredit, seine Vizekanzler noch weniger. Wie der Kanzler aus Versehen ins Amt gescheitert war, hineingezwungen durch den unglaublichsten Unionskandidaten aller Zeiten als seinem besten Wahlhelfer, so stolperten seine Stellvertreter in viel zu großen Schuhen durch eine viel zu große Welt. Kapitäne ohne Kompass, ein Kursbuch der Deutschen Bahn in der Hand, um den Atlantik im Orkan zu besegeln, in einer Schaluppe aus Streichhölzern, die in Brand geraten sind.
Im ersten Jahr gelang es ihnen noch, alles auf Putin, den Krieg, die Inflation und die steigenden Zinsen zu schieben. Das Wahlvolk ist geduldig und seit der Pandemie gewohnt, dass ihm selbst seine unveräußerlichen Grundrechte nur nach Gutdünken gewährt werden. Doch nun, im zweiten Jahr, wollten immer weniger frühere Wähler hören, wie schwer alles ist, wie ungeheuerlich die Aufgabe, wie gut sie trotz anderem Anschein erledigt wird und wie viel Vertrauen die verdienen, die das erledigen, ohne viel Aufhebens darum zu machen.
Es fehlt an allem
Die Koalition fährt ihre Ernte ein. Es ist der Berg von Bauklötzchen, die den drei Ampel-Parteien abwechselnd, zuweilen aber auch gleichzeitig auf die Köpfe fallen. Die Wirtschaft liegt am Boden, die Rezession lässt sich selbst von den solidarischsten Blättern kaum mehr als "Wachstumsschwäche" verklären. Es fehlt an günstiger Energie, an Wohnungen, an intakten Straßen, Brücken und an Flüchtlingswohnheimen, an Fachkräften, Ideen und Technologien, an Exportschlager, an Digitalisierung und an sogar Konsumenten. Obwohl heute 2,5 Millionen Menschen mehr im Land leben als noch vor fünf Jahren, die alle essen und wohnen, sich kleiden, mobil sein, telefonieren und Urlaub machen müssen.
Dieschonlängerhierleben zweifeln derweil an ihrem Verstand. Wo sind sie denn alle hin? Was tun sie? Wie konnte das alles früher funktionieren? Und was wollen sieuns als nächstes noch wegnehmen, für einen höheren Zweck, ein ferneres Land, ein ehrgeizigeres Ziel?
Der Jenga-Turm steht noch, doch die Regierenden tanzen ihm polternd auf dem Dach herum. Unten führt eine fest verschlossene Tür ins Allerheiligste, diese fest verschlossene Tür ist zum Wappen dieser Regierungskoalition der Hinterzimmer geworden. Entscheidungen der drei Männer von der Zankstelle, welche Steine als nächstes aus Wohlstandsversprechen und Versprechen von Prosperität und privatem Glück gezogen werden sollen, dringen in der Regel als Klopfzeichen oder schwarze Rauchzeichen aus der Zentrale, üblicherweise immer eine Notoperation, mit keinem Staatsstatiker besprochen.
Oma Merkel ihr klein' Häuschen
Unglücklich, aber wahr: Die Grundlage des großen Plans dieser ganz Großen Koalition bestand von Anfang an darin, Oma Merkels ihr klein' Häuschen zu versilbern und sich mit dem eingenommenen Geld ein leuchtend grünes Denkmal zu setzen. Als der von der Vorgängerregierung üppig gefüllte Kreditspeicher sich im Herbst mit einem Schlag entleerte, blieb nichts übrig. Außer einer Bundesverwaltung, die heute doppelt so viele Mitarbeiter zählt als noch vor zehn Jahren, drei Männern im Tee, die gern können wollen würden, aber nicht wissen, was, und einem Staat, der an Staat im Endstadium leidet.
Das Spiel endet, wenn der Turm einstürzt. Sieger beim Jenga-Spiel ist, wer den letzten Stein unten aus den Turm ziehen und ihn oben als zusätzliche Last für die Statik auflegen konnte, ohne dass alles zusammenbricht.
Eine zeitliche Begrenzung gibt es nicht. Aber manchmal geht es gerade am Ende doch sehr schnell.
2 Kommentare:
Alles ungewollte Fehlentwicklungen, weil nämlich die Politiker unfähig sind.
"Alles ungewollte Fehlentwicklungen, weil nämlich die Politiker unfähig sind."
Glaube ich auch. Wenn an dem Ding mit hundert Ecken an allen hundert Ecken was kaputt geht, das muss Zufall sein. Jede andere Vermutung wäre irgendwas mit Verschwörung oder gar Delegitimierung.
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