Samstag, 10. Juni 2023

Kampf um Klicks: Singverbot bei Sexverdacht

Erst, wenn die Wolken schlafen gehen, kann man uns am Himmel seh'n. Wir haben Angst und sind allein. Gott weiß, ich will kein Engel sein. Zeichnung: Kümram

Seit den Sarrazin-Kriegen, Wulffs Bobby Car, dem ersten großen Corona-Ausbruch in Italien und dem Einmarsch der Russen in der Ukraine war so etwas nicht mehr da. Sonderseiten in den Wochenendzeitungen, Live-Reportagen von vermuteten Tatorten, Deutungskriege auf Twitter und Solidaritätsadressen aus Sachen: Im pünktlich zu Tourneebeginn ausgebrochenen Sexskandal um den Rammstein-Sänger Till Lindemann will jeder ein Stückchen vom Kuchen, es geht um das letzte Quäntchen Klick.

Der "Spiegel" hebt den mutmaßlichen Moralverbrecher als "Gott" (Spiegel) auf sein aktuelles Titelbild. Olaf Scholz beobachtet die Situation gespannt. Nach der EU-Einigung darauf, das "dreckige Spiel der AfD" beim Asylrecht mitzuspielen" (Nancy Faeser), muss auch dieses Thema vielleicht in Kürze zur Chefsache gemacht werden, weil die eigentlich zuständige Ministerin Claudia Roth auffällig laut schweigt. Günther Wallraff bereitet sich dem Vernehmen nach darauf vor, mit seinem gesamten Enthüllungsteam aus der Row Zero zu berichten. Der "Stern" ist gerüchtehalber an den Lindemann-Tagebüchern dran.  

Alle Mann an Bord

Es muss jetzt alles verdammt schnell gehen. Aller Erfahrung nach verraucht selbst ein so gewaltiger Ausbruch wie der rund um die mutmaßlichen Sexgewohnheiten des gebürtigen Sachsen Till Lindemann beinahe noch schneller als er im Scheinwerferlicht aufblitzt. Eine, höchstens zwei Wochen geben PR-Berater der Affäre Standzeit. Anschließend wird fast alles so sein wie zuvor, nur dass niemand mehr den Opfer zuhören kann. Jetzt also ist der Moment, sagten sich auch die selbsternannten Aktivistinnen Kim Hoss und Lise van Wersch, dass ein wenig Licht von der großen Rammstein-Lampe auch auf uns fällt. 

Kurzerhand legten die neurodivergente Influencerin, unter anderem Illustratorin eines Kamasutra-Buches, und die Bildhauerin, die als "Sirenen-Kollektiv" seit Jahren Missbrauchserlebnisse sammeln wie andere Briefmarken, eine Petition an. Die fordert: "Stoppt die Rammstein-Konzerte". Denn "sollten sich die Vorwürfe als wahr erweisen, hat Lindemann eine Missbrauchs-Maschinerie aufgebaut", über die "Medien übereinstimmend" berichten. Es sei also "inakzeptabel", so Kim Hoss, dass "Till Lindemann mit den geplanten Konzerten eine Plattform bekommen soll, als wäre nichts geschehen". 

Berufsverbote bei Verdacht

Wo man singt, da lass Dich ruhig nieder. Doch wo es Zweifel an der Lauterkeit des Sängers gibt, soll auch nicht mehr gesungen werden. Ehe der 60-jährige Lindemann wieder seiner Arbeit nachgehen und singen dürfen solle, müsse ihm eine Pause verordnet werden, "bis zur Klärung der Vorwürfe". Hoss, deren eigener trauriger "Cowboy"-Song bisher kaum Anklang fand: "Wir fordern eine genaue Untersuchung der Vorfälle und wir fordern, dass die Aussagen der Betroffenen ernst genommen werden." 

Wer genau der immer noch recht erfolgreichen Gruppe die Spielerlaubnis entziehen solle, wer die Millionen Euro Schaden durch die ausfallenden Konzerte zahlt oder die Hunderte von arbeitslosen Mitarbeitern über den Monat bringt, wird angesichts der grundsätzlichen Frage, ob in Deutschland weiterhin die Unschuldsvermutung gilt oder aber "übereinstimmende" Medienberichte jeweils direkt zu einem Berufsverbot führen müssen, zu einem Nebenaspekt. Fast 25.000 Unterschriften für die Petition entsprechen einem halben Rammstein-Stadion - allemal ausreichend für ein sofortiges Verbot von "systematischem Missbrauch und Misshandlungen auf Rammstein-Konzerten" (Hoss).


4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Kim Hoss – Cowboy

Das Thema ist bei Gitte Haenning - sagen wir 'geborgt': 'Ich will 'nen Cowboy als Mann', 1963, sicher nicht zufällig T. Lindemanns Geburtsjahr.
Die unkritische Glorifizierung des 'Cowboys' als Sexualpartner ist auch in der Version von K. Hoss immanent verbunden mit einer Verherrlichung von kruder Maskulinität und des raubtierkapitalistischen mittleren Westens der USA im 19. Jahrhundert, verbunden mit einer unreflektierten Affirmation einer expressiv nichtveganen Kultur und fragwürdigen Tierhaltepraktiken.
Ein paar Noten und Beats sind von 'Word up!' von Cameo (1986) abgekupfert, ein Track, in dem Frauen als Tanzpuppen objektifiziert und Sexualität utilisiert werden.

Textauzszug:
We need to dance.
We don't have that time
For psychological romance
No romance
No romance
No romance for me mama


Ich hoffe, zu diesem Ausrutscher von K. Hoss ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Von ihren Modeentscheidungen fangen wir besser gar nicht erst an.

ppq hat gesagt…

eine sehr gute analyse. ich muss gestehen, mir war auch unwohl beim zuschauen. teilweise ja wirklich sehr reaktionär und an eine thüringer fleischbeschau erinnernd. freiwillig hat sie sich sicherlich nicht dafür hergegeben, denn die ganze bildsprache ist doch sehr männlich.

ich hoffe, die kollegenden*innen vom spiegel sind da dran

Carl Gustaf hat gesagt…

"ich hoffe, die kollegenden*innen vom spiegel sind da dran"

Der innere unterdrückte Trieb der Journalistinnen und Journalisten beim Spiegel verlangt dann doch eher nach Till Lindemann.

Der lachende Mann hat gesagt…

@ ppq: Unwohl beim Zuschauen? Wo denn? Ich will die Thüringer Fleischbeschau auch sehen. Bitte Link oder Quelle!