Freitag, 19. Mai 2023

Bestes Deutschland: Schlaraffenland vor Armutsziel

Armut ist keine Schande, auch wenn Deutschland die angestrebte EU-Quote immer noch verpasst.

Viel besser wird es nicht mehr, jedenfalls nicht, so lange die angekündigte Wohlstandsexplosion nicht noch mehr Menschen mitnimmt. Das bislang beste Deutschland aller Zeiten aber kann sich auch so sehen lassen: Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, sind mittlerweile 17,3 Millionen Menschen im Land in der Lage, mit sehr wenig Geld auskommen zu können oder die Aussicht zu haben, das in Kürze zu schaffen. Das sind 20,7 Prozent der Bevölkerung, mithin jeder Fünfte. Etwa drei Viertel von ihnen gelten nach einer erst um die Jahrtausendwende erfundenen Definition als "armutsgefährdet", knapp über sechs Prozent sind heute bereits gezwungen, "erhebliche materielle und soziale Entbehrungen" zu erdulden, wie die Bundesstatistiker schreiben.  

Ermutigende Zahlen

Ein Grund dafür: Beinahe zehn Prozent aller Menschen in Deutschland leben inzwischen in Haushalten mit einer "sehr geringen Erwerbsbeteiligung". Sie sähen nicht, sie ernten nicht, doch im Schlaraffenland sind sie zwar von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Doch durch ihr Leid schaffen sie gute und sichere Arbeitsplätze nicht nur bei den Armutsstatistikern, sondern auch bei den Erstellern der alljährlichen Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (Europäische Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen / European Union Statistics on Income and Living Conditions, EU-SILC), mit der die EU in allen noch verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten abfragt, wie sich die Gemeinschaft den im Wirtschaftsprogramm Europa 2020 vereinbarten Zielen nähert, den Anteil der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Menschen auf unter 25 Prozent zu senken. 

Das beste Deutschland aller Zeiten ist hier auf einem sehr guten Weg. Lag die Quote der Armutsgefährdeten im Jahr 2005 im bundesweiten Durchschnitt noch bei 14,7 Prozent, konnte sie bis 2010 auf 15,1 Prozent gesteigert werden. Mit rund 21 Prozent im Jahr 2021 gelang zwar kaum noch eine weitere Steigerung Richtung 25-Prozent-Ziel. Doch im Kernbereich der am schlimmsten betroffenen Bevölkerungsgruppe konnten bedeutsame Fortschritte erreicht werden: Der Anteil der Bevölkerung, der von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen ist, stieg von 4,3 Prozent im Jahr 2021 auf  6,1 Prozent im Jahr 2022.  Das bedeutet, dass mittlerweile mehr als fünf Millionen Bürgerinnen und Bürger ihre Lebensbedingungen aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln bereits deutlich eingeschränkt haben. Das hilft, Ressourcen zu sparen und damit auch dem Klima.

Auch das Klima profitiert

Dass die konkreten Ziele von "Europa 2020" auch drei Jahre nach Ablauf des Zieldatums nicht erreicht werden konnten, liegt an einer nach wie vor bestehenden Spaltung, die sich mitten durch Deutschland zieht. Während die ehemaligen neuen Bundesländer einschließlich der Bundeshauptstadt Berlin mit einem Armenanteil von 19,5 Prozent durchaus auf Kurs sind, steht es in den Gebieten der alten Bonner Republik weiterhin nicht zum Besten. Hier sind im Durchschnitt nur 14 Prozent der Haushalte wenigstens armutsgefährdet, in Baden-Württemberg und Bayern ist es sogar nur jeder zehnte Haushalt.  Ein Ausreißer ist das prekäre Bremen, dem es unter der rot-rot-grünen Landesregierung gelungen ist, selbst die ostdeutschen Armenhäuser Sachsen-Anhalt und Berlin zu überholen und das gemeinsame EU-Ziel 25 mit einer Armutsquote von 28,2 Prozent sogar deutlich zu übertreffen.

Die Stärke des Gemeinwesens zeigt sich darin, dass es trotzdem auch in Bremen weder zu Hungeraufständen noch zu Plünderungen kam. Obwohl im kleinsten Bundesland beinahe jeder Dritte  über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt, fuchsen sich die Menschen bereitwillig in ihre Lage ein und sie beweisen zu Millionen: Eine alleinlebende Person in Deutschland kann mit netto weniger als 1.250 Euro im Monat durchaus überleben. 

Für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren sind 2.625 Euro im Monat ein Einkommen, das vielleicht nicht reicht, Miete, Hypotheken oder Versorgungsleistungen zu bezahlen und dazu noch eine einwöchige Urlaubsreise zu finanzieren, abgewohnte Möbel zu ersetzen oder einmal im Monat im Freundeskreis oder mit der Familie etwas essen oder trinken zu gehen. Aber wirklich verhungern muss niemand, selbst wenn er sich entschieden hat, "insgesamt sehr wenig oder nicht in den Arbeitsmarkt eingebunden" (Destatis) zu werden.

Wer nicht isst

Wer nicht isst, der muss auch nicht arbeiten, wer sich seine Freizeit nicht abkaufen lassen will, der muss das auch nicht. Nach den bislang vorliegenden Zahlen von EU-SILC gelingt es Bulgarien derzeit am überzeugendsten, seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Leben im Geist des kommunistischen Zukunftsversprechens von "Jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten" zu bieten. In dem ehemaligen Kernland der sozialistischen Völkerfamilie können heute bereits 32,2 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung auf eine Erwerbsbeteiligung so weitgehend verzichtend, in einem Haushalt mit zwei Personen einer überhaupt nicht arbeitet und der andere insgesamt nur in vier von zwölf Monaten erwerbstätig ist. Deutschland liegt hier mit 20 Prozent nur im europäischen Mittelfeld, steht aber deutlich besser da als Finnland, wo sich nur 16,3 Prozent der Bürgerinnen und Bürger dauerhaft frei nehmen können.


2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Sie sähen nicht, sie ernten nicht ...

Autsch! Aber lassen wir mal als Flüchtigkeitsfehler passieren.

ppq hat gesagt…

der war absicht