Dienstag, 28. Februar 2023

Desaster-Area: Europa, 30 Jahre danach


Die EU, wie sie ihren Bürgern meist begegnet: Ein Schild im Nirgendwo, das stolz behauptet, EU-Geld mache das Nirgendwo schöner.
 
Es sollte der Vorzeigekontinent werden, ein Reich der bürgerlichen Freiheit, wachstumsstark und wohlhabend, friedlich, multikulturell und hilfsbereit. Mit der "Ode an die Freude" als Hymne startete die Europäische Union am 1. November 1993. Die Maastricher Verträge raten in Kraft. Eine Sternstunde der Menschheit, in der die einstmals verfeindeten Völker des Erdteils alle bisherigen „Formen der Zusammenarbeit“ (Artikel 2 EU-Vertrag) unter ein gemeinsames Dach stellten, gemeinsame Institutionen schufen und Kurs auf die Einführung einer gemeinsamen Währung nahmen.
 

30 Jahre wie ein Traum

 
Nie wieder Hader und Zwist. Sozialstaat statt Manchester-Kapitalismus! Demokratie und gemeinsame Werte statt innerer Konkurrenz, so lauteten die Ziele. Über die zwei Jahrzehnte danach nicht mehr gesprochen werden muss. Denn das Bild, das EU-Europa, das nur die knappe Hälfte des Kontinents umfasst, sich selbst aber am liebsten übergriffig nur "Europa" nennt, ist bedauernswert. Seit 2009 hatte die EU eigentlich kein Jahr mehr, in dem sie nicht Krisen bekämpfen und Klage über ihr schweres Schicksal führen musste. Die Arbeitslosenquote in Spanien  liegt über zwölf, in der Griechenland über elf Prozent. In der gesamten EU gilt ein Drittel aller Arbeitslosen zwischen 15 und 64 Jahren als langzeitarbeitslos. Die Kaufkraft der Gemeinschaftswährung Euro ist zusammengeschmolzen, die Armut gestiegen, die Gemeinschaft mit dem Brexit geschrumpft. Deutschland ist so arm wie nie zuvor.

Und nicht einmal die übriggebliebenen 27 Staaten, darunter einstige Riesen wie Deutschland und Frankreich, aber auch Zwergstaaten wie Luxemburg und von Machhabern beherrschte Gebiete wie Ungarn, können sich auf irgendetwas einigen. Zu lang die Entscheidungsketten, zu verschieden die Vorstellungen, zu divers die Interessen. Das Pandemiebekämfungsprogramm kam, als die Pandemie vorüber war, der Green Deal schmort immer noch irgendwo und nun schon so lange, dass das erstmals im Widerspruch zu den Maastricht-Verträgen gemeinsam geborte Geld nun gleich für den Krieg ausgegeben werden kann.

 

Nord und Süd  wie Hund und Katze

 
Der Süden ist verarmt, der Norden zahlt. Das alles hat, so zumindest glaubte einst der CSU-Politiker Hermann Gröhe, "erst der Euro ermöglicht". Der Erfolg ist vor Ort zu besichtigen: In griechischen Tante-Emma-Läden steht bis heute österreichische Dosenmilch neben Konfitüre aus dem Schwarzwald. Die Autos, die hier fahren, kommen aus deutschen Fabriken, und selbst der Orangensaft trägt einen Herstellervermerk aus Schwaben.

Europa ist zusammengewachsen und sieht nun aus wie der Glöckner von Notre Dame: Kurze Beine da unten im Süden, die den Körper kaum noch tragen können. Und oben im Norden, wo der Kopf sitzt, beult sich ein Wohlstandsbauch nach hinten heraus. Die Bilanz von 30 Jahren Europabemühungen ist ein einziges Desaster. Trotz aller "Pakte" zur Förderung des Wachstum hinkt Europa hinterher. Trotz aller Versuche, die Sozialsysteme zu modernisieren, wachsen Armut und Ungleichheit zwischen Kopenhagen und Nikosia. Die Schulden sind himmelhoch, die Wettbewerbsfähigkeit der meisten Länder dagegen ist niedriger denn je. Gewachsen ist die Uneinigkeit über Ziele und Wege und gesunken die Anzahl derer, die sich noch als Bewohner eines "gemeinsamen Hauses Europa" (Gorbatschow) empfinden.
 

Neid und Missgunst im 30. Jahr

 
Es herrscht Neid, es herrscht Missgunst, es herrscht sogar wieder der hübsche alte Hass zwischen den Völkern, die früher mehr als 40 Jahre friedlich nebeneinander herlebten. Griechen machen die Deutschen für ihre Misere verantwortlich, Deutsche beschuldigen Franzosen, nicht richtig wirtschaften zu können. Die einen machen Atom, die anderen spielen Vorbild. die Niederländer fühlen sich übersehen, die Italiener als Faschisten beleidigt, die Ungarn ausgegrenzt, die Polen warten auf Entschädigung, Slowenien und Kroatien streiten über den Grenzverlauf. Nach allgemeiner Lesart nützt Europa eigentlich nur "den Rechten", die als sogenannte "Rechtspopulisten" Wählerstimmen einfingen, bis der Begriff nicht mehr ausreichte und die Faschismuskeule geschwungen werden musste.

Jeder gegen jeden und alle gegen Europa, so sieht es aus in der Desaster-Area, in der deutsche Politiker ihre Schäfchen mit dem Argument bei der europäischen Stange halten, dass Deutschland zu den Profiteuren der Union gehören. dafür werden Summen gezahlt, die astronomisch erscheinen, selbst wenn die Rückflüsse abgezogen werden. Vom 100 Euro, die Deutschland nach Brüssel überweist, kommen 70 bis 80 Euro von dort als "Fördermittel" zurück. Das ist dann das Geld, auf das verwiesen wird, wenn es darum geht, die Vorteile der Gemeinschaft herauszustreichen.
 

Alle profitieren von allen


Doch wenn Deutschland so profitiert - was erzählt ein spanischer Politiker seinen Wählern? Gehört Spanien zu den Profiteuren? Mit welchen Vorteilen der EU überzeugt ein griechischer Ministerpräsident sein Volk? Oder  ein Italiener? Die Fliehkräfte sind vorstellbar, die von Rettungsstufe zu Rettungsstufe nur immer noch mühsamer im Zaum gehalten werden können. Der Preis dafür ist eine EU, die bei zunehmender Uneinigkeit von unten oben immer undemokratischer wird. Längst regieren Institutionen wie die EZB oder die Kungelrunde der Finanzminister, die dazu nie gedacht waren, während das zumindest halbdemokratisch zusammengestellte EU-Parlament damit beschäftigt ist, ums eigene finanzielle Überleben zu kämpfen.

Die Zeit 30 Jahre nach Gründung der EU ähnelt der Ära nach dem letzten richtig großen Krieg. Grundrechte sind suspendiert, völkerrechtliche Verträge ausgesetzt. Es wird mit Notstandsverordnungen regiert, Tabubrüche werden mit Hinweis auf eine allgemeine und immerwährende Alternativlosigkeit begründet. "Einige Machthaber der Europäischen Union würden zur Aufrechterhaltung des gescheiterten Währungsexperiments vermutlich auch mit leichter Hand die Demokratie vollends opfern", hieß es im April 2012 beim Bankhaus Rott. Und genauso ist es gekommen.
 

Geld regiert die EU-Welt


Die Einführung des Euro, sagt der Ökonom Kenneth Rogoff, gleiche einem Pärchen, "das sich nicht sicher ist, ob es heiraten soll, stattdessen aber probehalber schon mal ein gemeinsames Konto eröffnet". Dann habe man erst den Geschwistern und später auch den Cousins und Cousinen Zugriff auf das Konto gewährt. Die Euphorie war groß, so groß, dass sogar der Cousin dritten Grades mitmachen durfte, den noch nie jemand gesehen hatte, der aber sehr sympathisch sein soll.

Die gemeinsame Währung sollte alle anderen Gemeinsamkeiten erst herstellen, während sie es den Regierenden leichter machte, auf Kredit eingekaufte Geschenke an ihre Wähler zu verteilen. Rogoff: "Nur Deutschland und Frankreich als Pärchen zusammenzubringen, wäre schon ein äußerst mutiges Unterfangen gewesen, aber man nahm sogar Länder auf, deren Durchschnittseinkommen bei 25 Prozent des deutschen Niveaus lag". Es sei "ein Riesenfehler" gewesen, eine gemeinsame Währung einzuführen, "ohne gleichzeitig eine echte politische Union zu begründen", glaubt der Amerikaner. Allerdings wäre Europa für diese politische Union eben nicht bereit gewesen. Weshalb der Plan ja eben lautete, sie über die Währung herbeizuführen, eine Hintertür, von der niemand wissen sollte.
 

Keine nur griechische Tragödie

 
Nun hat auch das nicht geklappt, wie so vieles anderes. "Was als griechische Tragödie begann, ist zu einem Drama des gesamten Kontinents geworden", schrieb der notorisch europabegeisterte "Stern" schon vor Jahren, als er in einer Aufwallung von Europa-Zorn Politiker als "talentlose Laiendarsteller" bezeichnete, "die den Bürgern das Gefühl vermitteln, nicht zu wissen, was sie tun". Damals schon verspiele die EU damit "ein Kapital, das mehr wert ist als all die Milliarden, die zur Rettung Zyperns, Griechenlands, Spaniens, Portugals und Irlands draufgehen: Glaubwürdigkeit". Heute ist sie weg. Der Blick der Bürger nach Brüssel ist ein zumeist angeekelter, angewiderter, dessen überdrüssiger.

Als sei da noch etwas wie Glaubwürdigkeit! Als sei da noch Inhalt außer dem Gefäß EU selbst, das seinen Lebenszweck darin gefunden hat, einfach nur zu sein. Und das Gegenteil von dem zu bewirken, was es einst bewirken sollte: Selbst der "Stern" konstatierte schon vor langer Zeit, dass die europäische Idee Anhänger verliere, das Vertrauen in die Akteure schwinde, "Politikverdrossenheit, Argwohn und sogar Hass wachsen" und "die Deutschen in den Krisenstaaten als moderne Besatzer wahrgenommen" werden.

Das Reich der bürgerlichen Freiheit, wachstumsstark und wohlhabend, friedlich, multikulturell und hilfsbereit ist in 30 Jahren ein Reich nur noch deklamierter Freiheit geworden. Hier wird sich gezankt, als sei man verfeindet. Hier kommt niemand mehr auf einen grünen Zweig. Ein monströses Gebilde  undurchschaubarer Verwaltungsbehörden verfrühstückt den Wohlstand, den sich Generationen geschaffen hatten und trötet dabei fortlaufend auf einer Propagandatrompete, deren Dauerton allein schon zu Aufständen führen würde, würde sich nicht eine Mehrheit der Insassen der EU-Anstalt schon ewig die Ohren zuhalten.

Versagen auf allen EU-Ebenen

 
Ein Versagen auf allen EU-Ebenen, mühsam kaschiert von immer neuen Rettungspaketen und Wachstumspakts, Green Deals, Klimazielen, neuen Steuern und Bremsen für dies und das. Zugeben, dass das Experiment, einen Staat aus Staaten zu basteln, gescheitert ist, will und wird keiner der Entscheidungsträger, die ihren Platz in der Geschichte als "Europapolitiker" finden wollen. Dass nicht nur keines der postulierten Ziele der Union erreicht wurde, sondern darüber hinaus in vielen Fällen eine gegenläufige Entwicklung in Gang gekommen ist, gilt als eine Kinderkrankheit, die noch überwunden werden wird. Augen zu und durch, heißt es immer wieder, noch eine Rettung, noch einen Tabubruch, noch eine Hinterzimmervereinbarung, die gemachte Verträge aufweicht, aushöhlt und ersetzt.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

OT
Die Viet-Kurzen haben mich ent-täuscht. 1989 hatte ich versucht, deren seltsame Zunge zu erlernen. Wähnte, ein Volk von Kriegern, jeder ein kleiner Ninja. Wie wir, ein kleines zänkisches Waldvolk, das sich gegen ein übelwollendes benachbartes Imperium behaupten musste. (Was haben uns die Römer eigentlich gebracht? Äh, den Weinanbau? Ja, gut, aber sonst? Den Aquädukt? Ja schon, aber sonst? ) - Opportunisten, Vulgärmaterialisten vom feinsten.
Aus dem feinen Rittergut:
Joerg

28. Februar 2023 09:38
2. Ergänzung zu Mai Thi Nguyen-Kim:
Ihr Ehemann verdient sein (sehr gutes) Geld in der Pharmaindustrie.
Hat aber alles Nichts mit Nichts zu tun.