Katar ist klein, aber weitgehend naturbelassen. Die versiegelte Fläche beträgt nur 0,001 Prozent der deutschen. |
Es hat etwas gedauert, bis die Wahrheit sich durchsetzen durfte. Vier, fünf, sechs Wochen lang kam alles ungeschönt ans Licht, was über das Wüstenemirat Katar zu sagen war, es wurde abgerechnet und vorgezählt, enthüllt und angeprangert, dass sich andere Reiche des Bösen in fast schon deutschlandgleiche Idyllen voller Menschenrechte, Freiheiten und hochentwickleter Sozialmoral verwandelten. Der Blick aus Europa hinunter an den Persischen Golf, ein Gewässer, das von Schurkenstaaten umgeben ist wie Wladimir Putin von Leibwächtern, zeigte dem deutschen GEZ-Zuschauer und dem neugierigen Zeitungsleser einen Abgrund an Verlogenheit, gefüllt mit Bosheit, brutaler Gewalt.Sklaverei und Ausbeutung überzuckerten die Mixtur aus unislamischem Islamverständnis, Terrorunterstützung gab der Unterstützung der Fifa die Hand und Harthörigkeit gegenüber allen wohlgemeinten Regenbogen-Ratschläge würzte einen Cocktail, der nicht einmal Alkohol enthielt, einen Grundbestandteil deutscher Fußballkultur.
Beruhigte Gemüter
Mittlerweile aber haben sich die Gemüter beruhigt, die Binden sind verschwunden, die Gesten, Zeichen und Symbole auf dem Heimflug. Und so macht sich 4.500 Kilometer nördlich von Doha langsam ein tieferes Verständnis von Land und Leuten breit: Katar, arabisch قطر , entpuppt sich nun vor aller Augen als ein Partner, den es zu respektieren gilt, wie Robert Habeck ihn bei seinem Besuch zum Abschluss des großen Gasvertrages respektiert hatte. Es verbietet sich, den Männer hier das Tragen von "Bademänteln" (Sandro Wagner) anzudichten, es ist nicht mehr angemessen, Fußballzuschauer bei ARD und ZDF wegen "Mithitlern" (Micky Beisenherz) zu beschimpfen und wenigstens als Ehrengast auf der Tribüne das Freiticket zu nutzen, um auf Untaten der Gastgeber hinzuweisen.
Ein Aufstand des Gewissens, der da auf einmal losbrach in der deutschen Medienlandschaft. Wie ein Sturmwind fegen die Vorwürfe über die endlich wieder siegreiche Fußballnation: "Spiele der Scheinheiligen" erspäht der "Spiegel", von den "Zwei Seiten des Regenbogens" berichtet die FAZ. Und die "Welt" wird richtig deutlich: "Der verlogene Regenbogen" sei es, unter dem spielt und fußballnationalistisch um Tore und Punkte gekämpft wird.
Nicht modern genug
Die Uefa, der größte Kontinentalverband der größten Sportart der Erde, dessen Europa bis hinüber nach Vorderasien reicht, steht in der Kritik. Nicht modern genug. Nicht eifrig im Dienst der Menschenrechte. Unstet in ihrer Definition, was gut und was richtig ist. Dabei war noch alles ganz einfach, als der deutsche Nationaltorwart sich eine Kapitänsbinde in Regenbogenfarbe überzog und München beschloss, die minderheitenfeindlichen Ungarn durch eine sechsfarbige Beleuchtung der Münchner Allianz-Arena bei deren Gastspiel darauf hinzuweisen, dass deren homosexuellenfeindlichen neuen Gesetze in Deutschland abgelehnt werden. Dann nahm der Kontinentalverband Ermittelungen gegen Neuer auf. Und er teilte mit, dass die geplante erzieherische Beleuchtung womöglich nicht genehmigt wird.
Es schlug die Stunde der Nachhilfelehrer. So laut das Schweigen gewesen war, so lange sich das im Kampf gegen die Corona-Depression so wichtige Turnier nur von Diktaturen aus der ganzen Welt finanzieren ließ, so energisch wurde nun Gesicht gezeigt. Ein Land, dessen Parlament ein Gesetz erlässt, das es verbietet, in Schulen über Homosexualität aufzuklären, gehört aus deutscher Sicht eines Besseren belehrt. Einem Land, "das sich weit weniger aufgeschlossen gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe zeigt als viele andere Länder in Europa" muss in Regenbogenfarben heimgeleuchtet werden dürfen, auf dass es sich korrigiere. Wenn er das nicht gestatte, "demaskiert sich der europäische Fußballverband", warnt der "Spiegel".
Diesen Mut gibt's gratis
Eine Bruchstelle zwischen Turnierbegleitern und Turnierpräsentatoren ist das allerdings nicht. Dass in Katar, Heimatland des EM-Hauptsponsors Quatar Airways und Austragungsstätte der Fußball-WM, sexuelle Handlungen unter Frauen wie unter Männern grundsätzlich verboten sind, spielt keine Rolle. Dass sie nach einem Artikel 201 des auf der Scharia beruhenden Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1971 als „Sodomie“ mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden, hat mit dem "Kampf um den Regenbogen" (FAZ) gar nicht zu tun.
Man trägt halt Haltung im Sommermärchen-Deutschland und der Regenbogen ist ein Signal, "das für unsere Freiheit steht", sagt Markus Söder, der den FC Bayern zu Hofe bittet, wenn es was zu gratulieren gibt. Das ist dann immer derselbe FC Bayern, der seine Trainingslager in Katar abzuhalten pflegt. Dort trägt Manuel Neuer dann immer keine Regebogenbinde, denn der Spieler wie sein Verein tragen wie der Fußball-Weltverband keine Verantwortung für "breitere gesellschaftliche Probleme".
Kein Wort gegen China
Die deutschen Medien nur für ausgewählte, je nach Gefühlslage. Opportun scheint es immer, Viktor Orban anzuprangern, der seit dem Abschied von Donald Trump von der Weltbühne und dem ausgebliebenen Untergang Großbritanniens und Boris Johnson zwei raufgerutscht ist in der Welthitparade der Bösewichte. Nicht angebracht ist es dagegen, auf die Partner hinzuweisen, die das große europäische Fußballfest erst möglich machen.
Sechs von zwölf Premium-Unterstützern stammen nach deutscher Lesart aus lupenreinen Diktaturen: Von Quatar Airways geht es über Putins vielkritisierten Staatskonzern Gazprom bis zu Vivo, einer Marke des chinesischen Smartphone-Hersteller BKK. Dazu kommen der chinesische Staatskonzern Hisense, Alipay und Tiktok, die Videoapp von Bytedance, einer Firma, die eng mit der kommunistischen Partei Chinas zusammenarbeitet.
Katar-Kritik wie abgeschnitten
Fertig war die Finanzierung des Fußballfestes der europäischen Werte-Demokratien. Und Katar zeigt sich nun, zwei Wochen nach Turnierbeginn, als das Traumland von Klimafreunden, Anhängern der Diversität und Verfechtern kleiner, regionaler Wertschöpfungskreise. Das Emirat verzichtet zum Beispiel konsequent auf die Nutzung der besonders klimaschädlichen Braunkohle, ist aber auch in die Nutzung der Hochrisikoenergie aus dem Atom nie eingestiegen. Stattdessen setzen die Scheichs von Anfang an auf Erdgas als Brückentechnologie in eine erneuerbare Zukunft - eine Strategie, die auch die Grünen in Deutschland noch im vergangenen Jahr in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl favorisiert hatten.
Beispielhate Klimanation
Beispielhaft, wie sich auch in den Verbrauchsdaten zeigt: Pro Kopf verbrennt jeder Katarer jährlich zehnmal so viel Erdgas wie der durchschnittliche Deutsche. Weil Katar seine Einwohnerzahl aber stabil bei 300.000 Staatsbürgern hält, ergibt sich daraus nur eine Gesamtbelastung von weit weniger als sieben Prozent der von Deutschland als einem der globalen Hauptsünder verursachten.
Auch in anderer Hinsicht kann sich Europas Führungsnation mehr als eine Scheibe vom Wüstenemirat abschneiden. Denn die 300.000 katarischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger bieten heute schon knapp drei Millionen Menschen aus dem Ausland eine zweite Heimat in einer überaus diversen Gesellschaft. Der Ausländeranteil auf der kleinen Landspitze, die aus Saudi-Arabien herausragt wie eine Warze, liegt bei knapp 90 Prozent. Pegida- und Querdenker-Demonstrationen, Proteste gegen den Zuzug so vieler Fremder vor allem aus Indien, Bangladesch, Nepal, Pakistan und Sri Lanka, die alle ihre Kultur und ihre für die Einheimischen verstörend wirkenden Gebräuche mitbringen.
Trotzdem gibt es nach Angaben des Auswärtigen Amtes kaum Kriminalität, die aus Deutschland bekannten "jungen Männer" und "Partypeople" sind kein Thema, dafür aber digitale Technologien, die wie in Deutschland nicht selbst hergestellt, im Unterschied zur Berliner Republik aber "intensiv genutzt (AA) werden. Doha gilt als sicherste Stadt der Welt, wohl Studien zuletzt nachgewiesen haben, dass der Klimawandel mit seinen steigenden Temperaturen "uns aggressiv und gewalttätig" (BW24) machen. Die Katarer und ihre Gäste aber trotzen selbst Sommern mit Höchstwerten von 50 Grad im Schatten und Durchschnittstemperaturen um die 40 Grad mit kaum kühleren Nächten, indem sie ihre bademantelnden Dischdascha-Kaftane tragen.
Kampfstart ohne Sonderschulden
Beispielhaft ist Katar auch militärisch. So klein das Land erscheint, so klein sind seine Streitkräfte. Aber kampfstark: Katar verfügt über mit 0,35 Prozent der Bevölkerung Deutschlands über 15 Prozent der des Bundeswehr-Bestandes an Leopard-Panzer und zwölf Prozent der Anzahl der Panzerhaubitze 2000, die im Kriegsfall die 30 Mal größere freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigen sollen. Katar hat sich weitgehend von Deutschland ausrüsten lassen, damals, als das Regime noch nicht im Verdacht stand, kein idealer Wertepartner zu sein.
In Sachen Klima aber ist der Kleinstaat kaum weniger bedroht als das große Deutschland. Mit einer durchschnittlichen Höhe von nur 28 Meter über Meeresspiegelhöhe gehört Katar wie Tuvalu und die ehemalige deutsche Kolonie Palau zu den Ländern, die der klimabedingte Meeresspiegelanstieg noch bereits beinahe komplett überspült haben wird, wenn der Kölner Dom noch immer nur auf dem "Spiegel"-Titel untergeht. Die Berglandschaft um den Qurain Abu l-Baul, mit 103 Metern die höchste Erhebung des Landes, erstreckt sich über nur wenige Kilometer. Zu klein, um selbst nur den 300.000 katarischen Staatsbürger Zuflucht zu bieten.
Entsprechend lehnt Katar das umweltzerstörende Fracking-Verfahren rundheraus ab. Es wird in Katar wie in Deutschland nicht angewendet. Stattdessen hat sich das Emirat bereiterklärt, Deutschland Wunsch nach Erdgaslieferungen aus gefrackten Vorkommen nachzukommen, indem Firmen aus Katar US-Fracking-Gas aus Texas nach Europa verschifft.
Deutschland und Katar, sie sitzen mithin in einem Boot, gefangen vom gleichen Schicksal. Wie Katar von Deutschland Fußballspielen und Moral lernen könnte, könnte Deutschland beim kleinen Gasland Nachhilfe nicht nur in Sachen Diversität und Verteidigung, sondern auch beim schonenden Umgang mit den begrenzten natürlichen Ressourcen nehmen. Bis heute beschränken sich die Katarer auf die Nutzung nur weniger Teile ihres Landes, die meisten Flächen sind naturbelassen, unversiegelt und so, wie sie vor hunderten Jahren schon waren. Waldsterben, Vernässung, saurer Regen, Plastiktrinkhalme und Silvesterfeuerwerk, das ganze alte Fachwerkstädte in Brand setzt - Probleme, die Katar nicht hat.
Beilegung der großen Streitfragen
Nun, da der große Dissenz um den richtigen Kurs durch das Fifa-Turnier beigelegt ist, wird es Zeit, dass Berlin und Doha sich an einen Tisch setzen und einander zuhören: Wie habt ihr, könnte die deutsche Seite fragen, eine französische Firma dazu gebracht, mit deutschen Maschinen binnen von nur neun Jahrenein U-Bahn-Netz in den Wüstenboden rammen? Und das nach einem Fahrplan der Deutschen Bahn? Und wie ist es Euch gelungen, würde Emir Tamim bin Hamad Al Thani wissen wollen,bei allem, was Euch nicht gelingt, immer zu glauben, ihr könnt es am besten?
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