Freitag, 2. September 2022

Baerbocks stolze Unabhängigkeitserklärung: Egal, was meine Wähler denken

Annalena Baerbock hat als erste Bundespolitikerin mutig Klartext gesprochen: Zwischen den Wahlen kommt es auf die Ansichten der Wähler nicht an. Abb.: Kümram, Genderkreise auf Velourpapier

Die hat es gesagt, aber auch nicht. Sie hat etwas ganz anderes gemeint, aber eigentlich doch genau das. Sie ist missverstanden worden, falsch zitiert, von den Falschen vorgeführt und von russischen Propagandabots aufs Glatteis. Sie würde das alles wieder so sagen, aber anders ausdrücken. Sie ist eben ehrlich und steht zu ihren Ansichten, aber auch zu ihren Aussagen - eine Diplomatin anderer Art, brüsk zuweilen, hemdsärmlich und darauf bedacht, die zuletzt regelmäßig abgelegten Schlipse der Männer im Kabinett auszugleichen durch einen handfesten Feminismus, der sich nicht scheut zu den Waffen zu rufen  und emanzipiert genug ist, die "klaren Regeln" (Olaf Scholz) zur Maskenpflicht in Regierungsfliegern einfach zu ignorieren.

Aufstieg durch die Gasumlage

Nach dem Umfrageabsturz ihres Parteigenossen Robert Habeck durch dessen Gaspreispleite ist Annalena Baerbock mit dieser ihrer zeitweise stur, zeitweise unbeholfen wirkenden Arbeitsmethode wieder dort angekommen, wo sie in den Wochen und Monaten vor der letzten Bundestagswahl schon einmal gewesen war. Die Außenministerin ist die beliebteste deutsche Politikerin, sie gilt als ehrlich, prinzipientreu und gutaussehend, ihr Englisch ist besser geworden und ihre Biografie kein Thema mehr. Baerbock selbst hat im Amt gelernt, wie sich Flexibilität und ein klarer Klassenstandpunkt miteinander vereinbaren lassen. 

Im Juli noch hatte sie die kanadischen Freunde noch mit dringenden Warnungen  vor drohenden Unruhen und Aufständen in Deutschland veranlasst, die gemeinsam von allen Partner im Westen beschlossenen Sanktionen gegen Russland zu unterlaufen und die mythische Siemens-Turbine, an der die gesamte deutsche Energieversorgung hängt, mit ein paar Tricks illegal ausreisen zu lassen. Nun aber hat sie verkündet, es sei ihr "egal, was meine deutschen Wähler denken", denn sie habe "den Menschen in der Ukraine das Versprechen" gegeben "'Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht‘". Und das werde sie auch einhalten. 

Charakterstarker Klartext

So kennt sie jeder, charakterstark und bereit, Klartext zu reden. Baerbock hat nie behauptet, mit ihrem Amtseid, "meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann" zu üben, etwas anderes geschworen zu haben als das grüne Wahlprogramm nahelegt. 

Dort schon waren steigende Energiepreise, ein Umstieg auf umweltverträglichen Wohlstand und eine Ausweitung der Bundesverbotspolitik unter dem Motto "Deutschland kann viel, wenn man es lässt" angekündigt worden. Aktuelle Klagen, das gehe alles zu schnell, bis auf die Lieferung Schwererwaffen, sind wohlfeil: Das Klima verträgt keine Verzögerungen, die Einhaltung der Pariser CO2-Ziele als höchster Staatszweck kann nicht Rücksicht nehmen auf die überkommenen Wohlstandserwartungen einer Bevölkerung, die zumindest in Teilen noch immer nicht begriffen hat, wohin die Reise geht.

Nicht mal mehr so tun

Zur Ehrlichkeit gehört, dass sich Annalena Baerbock nicht verstellt, wenn sie sagt, es sei ihr egal, was die Wähler - von Wählerinnen spricht sie nicht - denken. Wie Olaf Scholz, Robert Habeck und die Kompanie der im Regierungsflieger komod eingebetteten Berichterstatter scheint es ihr überhaupt nicht mehr notwendig, so zu tun als tue sie etwas anderes als das, was sie tut. Die einen tragen trotz allgemein geltender Regeln, die sie selbst erlassen haben, keine Maske, nicht einmal um den Anschein zu erwecken, sie selbst respektierten die Gleichheit aller vor Recht und Gesetz. Die andere fabelt ungebremst und ohne jeden Selbstzweifel davon, dass sie "bei jeder Maßnahme, die ich ergreife, muss ich mir darüber im Klaren sein, dass dies so lange anhält, wie die Ukraine mich braucht".

Wenn das klingt, als sehe sich Annalena Baerbock als Interessenvertreterin der Menschen in der Ukraine, nicht als die der Interessenvertreterin der Menschen in Deutschland, dann täuscht das freilich. In höchster Eile haben Faktenchecker mit klarem Klassenstandpunkt nachweisen können, dass Annalena Baerbock wohl gesagt hat, was sie gesagt hat. Aber zitiert worden sei sie zuallererst von russischen Einflussagenten, die ihren Satz von den egalen deutschen Wählern "aus dem Zusammenhang gerissen2 hätten. Eine "Schmutzkampagne, gestartet von Pro-Putin-Gruppen", die absichtlich ignoriere, dass Baerbock ihr Statement nicht so gemeint habe, sondern mit dem Begriff "Wähler" ausschließlich auf "mögliche Proteste von Rechts gegen Sanktionen im Winter" anspielte, "die Baerbock offenbar zu ignorieren gedenkt". 

Offenheit und Ehrlichkeit

Warum auch nicht? Helmut Schmidt, der Kanzler, der den Nato-Doppelbeschluss ungeachtet der Proteste Hunderttausender Demonstranten durchsetzte, Helmut Kohl, der die deutsche Wiedervereinigung gegen den Protest von SPD, SED und Grünen anstrebte, und Gerhard Schröder, der seine Hartz IV-Reformen weiterverfolgte, auch als die Leitmedien im Westen den gesamten Osten brennen sahen, exerzierten vor, was Standhaftigkeit und Kurshalten bedeutet. Sollen die Meckerer und Miesmacher doch nörgeln. Sollten die Nazis ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, ist das ein Preis, der gezahlt werden muss.

Baerbocks Satz "Egal, was meine deutschen Wähler denken, aber ich möchte den Menschen in der Ukraine etwas liefern", ist eine Unabhängigkeitserklärung vom liebedienerischen Populismus. Er steht in der großen deutschen Tradition von Martin Luthers "Hier stehe ich. Ich kann nicht anders", ein kompromissloses Lossagen von Umfragewerten, Gefallenwollen und dem Versuch, den Menschen draußen im Lande zu suggerieren, alles werde bald wieder gut. 

Autonomie und Stärke

Es geht ums "Arschlecken", wie der Sachse sagt, um innere Autonomie und äußere Stärke, die sich nicht an Umfragen bemisst und Medienapplaus, die nicht wegknickt, wenn der Wind von vorn kommt, und nicht alle naselang die Strategie wechselt, nur weil die bisher verfolgte komplett in die Hose zu gehen droht. Dass bestimmte Kreise der mutigen Ministerin nun gezielt absprechen wollen, gemeint zu haben, was sie gesagt hat, dass "Faktenfüchse" des Massagesesselfunks ihre Aussagen zu "im Netz kursierenden Behauptungen" russischer Einflussagenten herabwürdigen, zeigt, wie wenig Verständnis über die Funktionsprinzipien einer Demokratie in den Chefetagen der vierten Gewalt herrscht. 

Statt zu loben, wie deutlich sich Baerbock als erste Ministerin auch öffentlich davon lossagt, jedermann gefallen und jedem helfen zu wollen, kritisiert man an einzelnen Formulierungen, Übersetzungsvarianten und Bedeutungsabstufungen herum.

8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

OT - diese Schote musste einfach:

chikago44 1. September 2022 at 21:16
Erkläre einen dummen das er dumm ist??

Anonym hat gesagt…

Ich habe, wie unsere Faktenchecker hervorhoben, nur von denen gesprochen, die so doof waren, uns zu wählen. Dass auch alle anderen unter 'meiner' (lol) Politik leiden werden, also die, die nicht so doof waren, uns zu wählen, ist ja nun ein ganz anderes Thema. Und daran erkennt man Nazis.

gez.
Team Dr. Annalena B.

Jolina hat gesagt…

Diese Frau hat das Zeug, eine große Führer*:In zu werden.
Heil Lena!

Anonym hat gesagt…

Die Lotuseaters haben es schön auf den Punkt gebracht: Wenn alles teurer wird, bezahlt Annalena eure Rechnungen mit Kommunismus.

Die Anmerkung hat gesagt…

eeR4xoe9 02.09.2022 13:23

Sicherlich denken viele Spitzenpolitiker so, es ist ihr eben so rausgerutscht.
Um die Demokratiefassade aufrecht zu erhalten, sollte man sie trotzdem feuern.

https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/egal-was-meine-deutschen-Waehler-denken/Sicherlich-denken-viele-Spitzenpolitiker-so/posting-41545281/show/
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Warum sollte sich Führer Olaf die Hände mit Fassadenputz schmutzig machen?

Anonym hat gesagt…

https://kontrafunk.radio/de/sendung-nachhoeren/wiwi/audimax-das-kontrafunkkolleg/norbert-bolz-realitaetsverlust-und-kommunikationsmacht

N.Bolz über die Schneeflöckchenkultur der herrschenden Klasse .

Anonym hat gesagt…

Ihr Englisch ist besser geworden? Das ist hoffentlich nicht ernst gemeint.

ppq hat gesagt…

sagen wir mal so: man hört, dass sie geübt hat