Mittwoch, 27. April 2022

Verfassungsbruch: Organisiertes Versprechen

Selbst dem Bundesverfassungsgericht ging das schließlich zu weit. Hatten die Karlsruher Richtenden, gerade in den letzten Jahren in einer durchgehenden Besetzung mit Personal, dessen Akten über den Tisch der früheren Kanzlerin gegangen waren, kaum je noch erkennen lassen, dass sie gewillt sind, dem Gesetzgeber ab und an Grenzen zu setzen, liefert nun ausgerechnet der Erste Senat unter seinem Vorsitzenden Stephan Harbarth den Beweis dafür, dass der Rechtsstaat weiterhin funktioniert. Wenigstens, wenn es um die Normenkontrolle über die Gesetzgebung einzelner Bundesländer geht.

Organisierter Verfassungsbruch

Die gelten direkt nach dem Bund, den Bundesministern, dem Bundespräsidenten und dem Parlament als erste Adressen für organisierten Verfassungsbruch. Niemand anders als Bund und Länder mussten häufiger vom Verfassungsgericht zurückgepfiffen werden, wenn ihre gesetzgeberische Fantasie über die vom Grundgesetz erlaubten Grenzen hinausschoss. Mal war der Bundestag zu groß, mal ging die Speicherung von Telekommunikationsdaten ohne Anlass zu weit. Sogar der nun wirklich von jedem Verdacht der mutwilligen Kritik an der Macht und den Mächtigen gefeite "Spiegel" lamentierte zeitweise über den "programmierten Verfassungsbruch". 

Es störte die Kreise der Verfassungsbrecher kaum. In Sachsen-Anhalt speicherte der Verfassungsschutz trotzdem selbst die Daten minderjähriger Sprayer, um später Auskunft geben zu können, wer bedenkenlos MDR-Mitarbeiter, Pförtner in der Staatskanzlei oder Würstchenbudengewerbetreibender werden darf. In Sachsen gilt bis heute, dass die Versammlungsfreiheit an bestimmten Orten für bestimmte Gruppen außer Kraft gesetzt werden kann. Und ganz Deutschland erlebte mit den Pandemieregeln einen bis heute nicht komplett beendeten Ausnahmezustand, der zustandekam, indem das Ordnungsrecht gegen die Grundrechte in Marsch gesetzt wurde.

Der gebrochene Stab

Völlig in Ordnung, wenn auch noch nicht ganz perfekt, urteilte Karlsruhe dazu. Über die Regelungen des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes dagegen brachen die höchsten Richter*Innen nun demonstrativ den Stab: Zu weitreichend die Befugnisse, zu viele Vorratsdaten abrufen, zu einfach die Handyortung, zu schlicht die Kontrollmechanismen, um Menschen vor langfristiger Observierung zu schützen. Und das, obwohl die Kläger drei Mitglieder der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" (VVN-BdA) waren, die im bayerischen Verfassungsschutzbericht als "linksextremistisch beeinflusste Organisation" eingestuft wird.

Gleich sieben Punkte bemängelt des Verfassungsgericht als verfassungswidrig, alle betreffen wesentliche Teile des bayerischen Gesetzes, das verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vollständig erfülle, dafür aber gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht, gegen den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der informationellen Selbstbestimmung, gegen die Integrität informationstechnischer Systeme,  gegen das Fernmeldegeheimnis und gegen die Unverletzlichkeit der Wohnung verstoße. Andere Teile des Gesetzes wurden für verfassungswidrig erklärt, weil der Gesetzgeber Befugnisse so weit gefasst habe, "dass sie auch eine langandauernde Überwachung der Bewegungen der Betroffenen erlaubt", verdeckte Mitarbeiter ohne hinreichende Begründung eingesetzt werden dürften und keine "unabhängige Vorabkontrolle" von Maßnahmen vorgesehen sei.

Eine laute Ohrfeige

Viel lauter kann eine Ohrfeige nicht klatschen, viel gründlicher kann ein von einer Landesregierung verfassten und von einem demokratischen Parlament nach ausgiebiger Kontrolle durch Experten und mehreren Lesungen beschlossenes Gesetz nicht vor aller Augen zerfetzt werden. 

Markus Söder, der an Horst Seehofers Kabinettstisch saß, als das neue, weitreichende Verfassungsschutzgesetz beschlossen wurde, blieb nach dem Urteil aus Karlsruhe auch deutlich sichtbar in tiefer Deckung. Sein Innenminister Joachim Herrmann (CSU) musste antreten, die Schelte des Verfassungsgerichts zu relativieren. Hermann tat das, indem er Bayern zum Menetekel erklärte: "Ich kenne kein Gesetz, weder beim Bundesverfassungsschutz noch in den Ländern, das all den Anforderungen entspricht, die das Bundesverfassungsgericht heute formuliert hat", sagte er.

Bis alle überall alles geändert haben, bleiben die Befugnisse des Verfassungsschutzes in Bayern vorerst, wie sie sind, und die Grundrechte der Bayerinnen und Bayern insoweit ausgesetzt und eingeschränkt. Das Verfassungsgericht hat dem Landesparlament eine Frist bis zum Sommer kommenden Jahres gesetzt, um eine verfassungskonforme Rechtslage herzustellen. 

Fristen ohne Frist

Viel muss das nicht bedeuten, denn die erste Frist an den Bundesgesetzgeber, das Wahlrecht wieder in Übereinstimmung mit der Verfassung zu bringen, datiert aus dem Jahre 2008, der gesetzte Änderungstermin lag jeweils ebenso knapp hinter der Jahresgrenze. Und erst im vergangenen Jahr gelang es dann mit knapp zehnjähriger Verspätung, eine übergangsweise Neuregelung für einen halbwegs geordneten Wahlgang bei der letzten Bundestagswahl zu finden. Die ganz große Reform, die die Verfassungsrichter 2012 gefordert hatten, wackelt hingegen noch durch die eben erst neuberufene „Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Es ist alles eitel Affenkomödie für die Einfältigen, die noch daran glauben. Die Wähler und die niederen Chargen der "AfD" selbstverständlich inbegriffen.