Sonntag, 16. Januar 2022

"Europäische Lösung": Bundesinnenministerin sagt Telegram-Abschaltung ab

Telegram gibt sich harmlos, stößt aber in Berlin auf Ablehnung.

Es war das Werkzeug der Opposition vielen Ländern, in denen Bürgerinnen und Bürgern mit von staatlichen Vorgaben abweichenden Vorstellungen kaum ein anderes Medium blieb, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Großes Lob erntete der Messengerdienst Telegram allerdings nur, solange er bunte Revolutionen in aller Welt befördern half: Weißrusslands Weg zum heutigen Bjelorussland wäre undenkbar gewesen ohne Telegram-Kanäle, im Iran und China und der Türkei öffnete das kleine Programm Andersdenkenden Wege, miteinander ins Gespräch zu kommen statt vereinzelt in gesellschaftlichen Nischen zu verkümmern.

Plötzlich staatsfeindlich

Der Blick auf Telegram änderte sich jedoch schlagartig, als Querdenker, Impfverbrecher und sächsische Leugner begannen, die App zur Organisation ihrer illegalen Spaziergänge zu verwenden. Aus dem wunderbaren Werkzeug des Widerstandes wurde nun der Bundeshetzkanal, dem nachgesagt wurde, Schauplatz der Propagierung eines "verlotterten Freiheitsbegriffes" zu sein. Die Weigerung der Macher der Anwendung, mit staatlichen Behörden zusammenzuarbeiten und sich an nationale Gesetze zum Meinungsfreiheitsschutz zu halten, erntete nicht mehr Lob wie früher. Sondern harsche Kritik: Telegram sei das Whatsapp der Feinde der Gesellschaft, wer die App nutze, gehöre zum "radikalisierten Teil der Leugner-Szene", die Telegram als Werkzeug schätze, "Angst und Schrecken" zu verbreiten und "Gewaltfantasien freien Lauf zu lassen" (Tagesschau). 

Die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser reihte sich umgehend ein in die Phalanx derer, die harten Maßnahmen forderten. Regulieren, mit Bußgeldern belegen, in den deutschen Rechtsrahmen zwingen und notfalls abschalten, so umriss die Sozialdemokratin ihre Pläne zum Umgang mit dem Chat-Dienst, der nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden besonders häufig von Rechtsextremisten und Verschwörungsgläubigen zur Mobilisierung benutzt wird. 

Rückmarsch ins Lager der Verharmloser

Nur einen Monat später aber hat Faeser die angedrohte Schließung nun bereits wieder abgesagt. Gemeinsam mit Bundesjustizminister Marco Buschmann und dessen Parteikollegen FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki verpackte sie ihren Rückzieher im Interview mit der Hamburger Illustrierten "Die Zeit" in die Floskel von einer angeblich notwendigen "europäischen Lösung", die allein in der Lage sein werde, Straftaten im Zusammenhang mit dem Messenger-Dienst Telegram gezielter zu ahnden.

Ein kluger Schachzug, denn sogenannte europäische Lösungen gelten als sichere Gewähr dafür, dass gar nicht und schon gar nicht gemeinsam gelöst wird. So steht die gemeinsame europäische Lösung der griechischen Staatsschuldenkrise seit inzwischen beinahe zwölf Jahren aus, auch die im Sommer 2018 von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel für "die nächsten 14 Tage" versprochene europäische Einigung auf eine gemeinsame Flüchtlingspolitik lässt seit nunmehr dreieinhalb Jahren auf sich warten. 

Europäische Lösung - ein Code für nie

Die "europäische Lösung" seitdem weitgehend aus dem Sprachgebrauch der Regierungspolitik und der angeschlossenen Abspielstationen verschwunden. Statt nahem "großen Aufschlag" (Die Zeit) beim jeweils nächsten wegweisenden EU-Gipfel gibt es nur noch ein stilles Jammern, warum Europa partout nicht zu gemeinsamen Lösungen in der Lage ist: Viktor Orban und die Polen sind davor, manchmal aber auch Franzosen, Dänen und Spanier, selbst Deutsche sind unter den Tätern. 

Der Ruf nach der europäischen Lösung ist so zum Code dafür geworden, alles zu lassen, wie es ist. Das europäische Flüchtlingsrecht, die europäische Einigung auf eine Prinzip der Mehrheitsentscheidungen, die europäische Gemeinsamkeit in einer einzigen Armee und das gemeinsame europäische Vorgehen gegen Telegram  durch eine "europäische Regelung" (Faeser), sie alle sind terminiert für den St. Nimmerleinstag, 

Fest entschlossen, nichts zu tun

Nancy Faesers entschlossene Initiative, eine schnellere Sanktionierung von Fehlverhalten des in Dubai beheimateten Unternehmens und drastische Maßnahmen bis hin zur Abschaltung von Telegram zu fordern, gleichzeitig aber ein gemeinsames europäisches Vorgehen zu verlangen, ist so gesehen die ultima ratio. Da ein Abschalten, wie es die Ministerin anfangs geplant hatte, technisch nur sehr schwer umsetzbar wäre und eine Verbannung der App aus den Download-Angeboten von Googel und Apple zweifellos Hetzer und Kritikaster auf den Plan rufen würde, die unangebrachte China-Vergleiche und Zensurvorwürfe vorbringen, garantiert der Ruf nach europäischer Einigkeit den status quo, ohne dass jemand dafür verantwortlich sein wird.

Ein gewieftes Manöver, denn wenn Nancy Faeser sagt, dass wir "als deutscher Nationalstaat alleine das nicht schaffen", ist sie sich der Tatsache bewusst, dass der deutsche Nationalstaat im Verbund mit 26 anderen Nationalstaaten stets noch viel weniger schafft. Einen "gemeinsamen europäischen Rechtsrahmen" für die digitale EU-Welt, den die Kommission seit 2000 arbeite, gibt es auch nach 22 Jahren noch nicht, ebenso keine EU-Armee oder eine gemeinsame Position zur Flüchtlingsfrage. 

Die Buddenbrooks aus Brüssel

Martin Schulz, der große Würselener, der stets unverdächtig war, nicht alle Vorteile der Gemeinschaft mitzunehmen, hat es einmal so ausgedrückt:  Er fühle sich, wenn er als Präsident einer europäischen Institution auf seine eigene Arbeit schaue und auf die Union, "erinnert an die Buddenbrooks von Thomas Mann". Im Buch werde der Verfall einer Familie und einer Firma beschrieben; "ein Verfall, der über drei Generationen erfolgt. Die erste Generation baut auf. Die zweite Generation verwaltet. Und der dritten Generation zerbröselt alles, was aufgebaut worden ist, in ihrer Hand."


2 Kommentare:

Carl Gustaf hat gesagt…

Ich habe die ständigen Vergleiche der aktuellen Zustände mit der früheren DDR immer für etwas übertrieben und deplatziert empfunden. Aber wenn jetzt sogar der BfV-Präsident öffentlich beklatschte Vergleiche zum DDR-Staat macht, dann kann es nicht mehr so schlimm sein.

ppq hat gesagt…

mir fiel damals angesichts der ersten vergleichsverbote überhaupt erst auf, dass irgendwas dran sein muss. das ist nun 13 jahre her. und wie sehnt man sich nach jenen tagen voller spiel und spaß https://www.politplatschquatsch.com/2008/08/es-war-nicht-alles-schlecht.html