Es ist die zentrale Parole der Retter, der Schlachtgesang der Mahner, das Graubrot aller Politiker, die noch etwas werden wollen. "Deutschland muss", rufen sie und meinen damit, die Deutschen müssten. Langsamer fahren, weniger heizen, mehr Gäste aufnehmen, sie länger bleiben lassen. Rücksichtsvoller zu Fahrradfahrern sein, überhaupt auch mal Fahrradbügel bauen, für Gerechtigkeit in Afrika sorgen und das Überleben auf unserer Welt sicherstellen.
Festlegung für alle
Seit CDU und CSU 1976 in ihrem Wahlprogramm den Kunstgriff wagten, die bis dato vollkommen ungebräuchliche Selbstaufforderung als Festlegung für alle zu erwähnen, hat "Deutschland muss" Karriere gemacht. 45 Jahre nach der semantischen Pionierttat vergeht kein Tag, an dem Deutschland nicht muss: Mehr ins seine Zukunft investieren und zugleich mehr oder klug sparen, sich entscheiden, führen und folgsam folgen, in der Nato bleiben und "Peking in Taiwan die Stirn bieten" (FAZ), mehr Auen und Moore renaturieren, beim Klima Vorbild sein und wegen verpasster Klimaziele zahlen.
Deutschland muss helfen, natürlich, aber sich auch erst mal an diese neue Unübersichtlichkeit gewöhnen, die dazu führt, dass sich das Land die Verwendung seiner eigenen Gelder von Brüssel genehmigen lassen muss, damit hier nicht jeder macht, was er kann. Sondern eben nur, was er muss.
Ein Stück Erde mit Sendungsbewusstsein
Das ist allemal genug, gerade für ein Land, das von sich selbst keine Vorstellung hat, weil es überhaupt nur in der Vorstellung seiner Einwohner existiert. Deutschland, ein Stück Erde ohne eigenes Bewusstsein, teilweise bewachsen, teilweise bebaut, muss seine Digitalstrategie trotzdem überdenken, um den Anschluss nicht zu verlieren, ohne Kopf, ohne Hirn. Es muss investieren. Und nachbessern. Ran an die Tonne. Und raus aus dem Impfstoffstau, der Konsequenzen aus der Tatsache verhindert, dass Deutschland bei Corona schleunigst von Dänemark lernen muss. Die Idee des "Deutschland muss" ist die Idee eines Stücks Erde mit Sendungsbewusstsein, einer Nation, auf die immer alle anderen schauen, um sich Orientierung zu holen, einen guten Rat und den Hinweis auf den besten Weg.
Nie zuvor musste Deutschland so viel und nie zuvor vermochte es so wenig. Bis in die 70er Jahre hinein hatte der Kernstaat des modernen und moralischen Muss-EUropa, um den sich derzeit noch Luxemburg und - mit Einschränkungen - die Niederlande gruppieren, keinerlei Vorstellung davon, wie es ist, zu müssen. Die Idee, dass Deutschland etwas müsse, entstand aktuellen Forschungen zufolge in der Sowjetunion, als das Nationalkomitee Freies Deutschland dem Verdacht der Sowjethörigkeit mit der streng nationalistischen Forderung widersprach, "Deutschland muss leben, deshalb muss Hitler fallen".
Das kollektive Ich und die Pflicht
Spätere Versuche, das kollektive Ich der Deutschen von der selbstauferlegten Pflicht zu erlösen und ein Gefühl des "Deutschland kann" zu etablieren, stellte sich als wenig nachhaltig heraus. Derdiedas Wahlbürger:in verlangt trotzig nach Führung, Leitung und Betreuung, er möchte erzogen werden. Der Deutsche will müssen, nicht dürfen und schon gar nicht selbst entscheiden. Er will Teil einer Pflichtübung sein, die seine ganze Lebensspanne umfasst. Von der Wiege bis zur Bahre, ein einziges Muss.
Auf der Autobahn höchstens 130 fahren, natürlich, jeder könnte das. Aber warum soll Deutschland es nicht für alle anweisen müssen? Das Klima retten durch neue Ziele, die im Wochenrhythmus durch neue Ziele verschärft werden? Warum soll Deutschland es nicht vormachen müssen? Deutschland muss lernen, strategisch zu führen, um bei der schicksalhaften Klimakonferenz im "schottischen Glasgow" (DPA) wenigstens "eine gemeinsame Überschrift zu kreieren" (Morgenmagazin), die so wichtig wäre, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen oder das mit 1,7 Grad oder wenigstens die zwei Grad in 29 Jahren.
Todeswünsche widerlegt
Pünktlich zum 80. Jubiläum des historischen Ratschlages des Amerikaners Theodore Newman Kaufman, der 1941 mit dem Vorschlag Aufsehen erregt hatte, dass "Deutschland sterben muss", wäre das Gegenteil erwiesen und auch die zentrale Hassbotschaft der Punk-Bewegung widerlegt. Deutschland muss in diesen Tagen zweifellos die Welt retten, einmal mehr und wieder fast ganz allein. Deutschland Deutschland muss sich eben auch immer wieder seiner Verantwortung stellen.
8 Kommentare:
"Deutschland muss..."
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Lersch
Wenn Deutschland muss, wahlweise 'wir' müssen, dann ist die Aufgabe ja schon von mir wegdelegiert. Deswegen ist dieses Müssen es bei Schwätzern so beliebt.
"Sprachcheck" beim MUSS-Sender "deutschlandfunk" : " Klimawandel klingt so harmlos- besser ist "Erderwärmung , Klimachaos usw" .
Der Vorschlag der Reichsklimasteuerung ("Klimaauschwitz" ) wurde aus unerfindlichen Gründen abgelehnt .
Am deutschen Wesen muß das Klima genesen.
Deutschland muß Vorbild sein!
Danke für die Erinnerung an Heinrich Lersch! Steht die Inschrift noch am Dammtorbahnhof, oder ist sie inzwischen befreit worden?
erneut "hart aber fair" - völlig unklar wen die Schwachmaten bekehren wollen .Frl. Reemtsma war heute wieder in Hochform .
fährt hin und wieder Learjet . fällt aber nicht ins zehohzwo-Gewicht
Bernd hat gleich einen Termin beim Geländewagenhändler .
https://www.vebeg.de/de/verkauf/suchen.htm?DO_SUCHE=1&SUCH_MATGRUPPE=1050&SUCH_KFZMARKE=236&SHOW_AUS=2145350&SHOW_LOS=11
fährt hin und wieder Learjet . fällt aber nicht ins zehohzwo-Gewicht ---
Das tut es in der Tat nicht - weder die 4% CO2, auf die der "gemeyne man" Einfluß hätte, noch auch die 96%, auf die er das nicht hat.
Drei Antworten, die ich darob empfahen hatte:
- Aber einer muß doch den Anfang machen!
- Aber die Kohlenkraftwerke sind doch Dreckschleudern!*
- Aber da muß doch etwas dran sein! (Muß - ist eine harte Nuß)
*Siehe "Pfaffentrick" www.avenz.de --- Nach Hoevels eine Antwort (im Rahmen einer Diskussion oder eines Dialogs), die weder wahr noch relevant (= zur Sache gehörig) ist.
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