Montag, 4. Oktober 2021

Im Glashaus: Die Verstaatlichung der Erinnerung

Ein Familientreffen der alten Berliner Republik.

Als alles vorüber war, fast geschafft der große Akt mit dem "letzten Schlusswort" in der "letzten großen Rede" (Reiner Haseloff) der scheidenden Kanzlerin, hatte der Kommentator des Festaktes noch gute Nachrichten. Nun würden die "Bürgerdelegationen" aus dem ganzen Land noch von Bundespräsident Frank Steinmeier empfangen, um von ihren Erfahrungen in den vergangenen 31 Jahren zu berichten. Ein wenig Volk im Vorraum der Macht, handverlesen von den Staatskanzleien der 16 Bundesländer wie die "Einheitsbotschafter", die als vielfältige und bunte Borte um den Rand dessen genäht worden waren, was als "Fest der Deutschen Einheit" im "sächsischen Halle" (Badische Neueste Nachrichten) trotz pandemischer Lage von nationaler Bedeutung hatte vollzogen werden müssen, weil es eben so Brauch ist.  

Offene Türen hinter Barrikaden

Sie waren alle da, "außer Erich Honeka", wie die Fans des Stasi-Fußballklubs BFC Dynamo vor 30 Jahren bei Ausflügen ins Umland zu jubeln pflegten, um das gemeine Volk zu verwirren. "Leute, macht die Türen auf und schaut nach, was dahinter ist", wird Angela Merkel später in ihrer Rede eine der Einheitsbotschafterinnen zitieren - hier aber bleiben die Türen zu. Die Party findet im Saale statt, als Veranstaltung einer geschlossenen Gesellschaft, die die Erinnerung an die Vereinigung von Ost und West vollends verstaatlicht hat. Kein Würstchenstand und kein Popkonzert stören den Zweiklang aus Gottesdienst und Festakt. Die "Verfassungsorgane" (DPA) schweben ein, sie treffen sich hinter einem Polizeikordon zum Staatsbankett, hinter einem anderen zum erinnernden Gebet und hinter einem dritten schließlich, um im streng abgeschottenen Glashaus Merkels mahnenden Worten zu lauschen.

Die sind - ein Tribut vielleicht an das Gefühl, zum Abgesang etwas Besonderes bieten zu müssen - persönlicher gefärbt als bei der gebürtigen Hamburgerin üblich. Dass ihre DDR-Erfahrung als "Ballast" bezeichnet wurde, nennt die Rekordhalterin im Kanzleramt nachdenkenswert, ebenso die von einem Journalisten nach ihrem Satz "wenn man kein freundliches Gesicht mehr zeigen kann, dann ist das nicht mehr mein Land" vorgenommene Einordnung, in dieser Formulierung erkenne man die erst später demokratisch angelernte Bundesdeutsche und Europäerin. Merkel trägt einen unschuldig weißen Blazer, vor ihr sitzt die Kernfamilie der Berliner Republik: Schäuble und Pau, Steinmeier, die Ministerpräsidenten, Verfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth, allerlei Abgeordnete und Repräsentanten.

Die die Freiheit wollten

Die, die die friedliche Revolution betrieben, befördert und gewonnen haben, sind zu einer diffusen Formulierung zusammengeschrumpelt: "die Menschen in der DDR, die die Freiheit wollten" nennt sie Angela Merkel rituell, die sich dazuzählt und gesteht, wie schwer es ihr gerade deshalb gefallen sei, Freiheitsrechte in der Pandemie einzuschränken. Dann klagt sie doch noch, über "eine Öffentlichkeit, in der demagogisch mit Lügen und Desinformation Ressentiments und Hass geschürt werden - ohne Hemmung und ohne Scham" und sie fordert, die "verbale Verrohung und Radikalisierung, die da zu erleben sind", dürften "nicht nur von denen beantwortet werden, die ihr zum Opfer fallen". 

Die Einheit, sie sei auch nach 31 Jahren nicht vollendet, kein "abgeschlossener Prozess" (Merkel). Als sie die Bühne verlässt, die sie im März 1990 betreten hatte, erheben sich die Gäste von ihren Plätzen und spenden ausdauernden Applaus

Dann spielt Musik, erst Bach, dann die Nationalhymne. Mitgesungen wird nicht.


8 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Man kann in den Gesichern lesen: Schaffe ich es, genug beiseite zu schaffen und mich abzusetzen, ehe hier alles zusammenkracht und man jeden, der es nicht schafft, an die nächste Laterne bindet?

Jodel hat gesagt…

Ich glaube nicht, dass es etwas mit dem Anlass oder dem Ort der Feierlichkeiten zu tun hat, dass die Nomenklatura unter sich bleiben will. Man sprach ja auch schon im alten Westen vom Raumschiff Bonn, obwohl es dort noch um Größenordnungen geerdeter zuging als heute. Seit dem Umzug nach Berlin und dem woken Erwachen wurde auch noch die letzte Leine gekappt und die Elite ist auf dem Weg in Galaxien die noch nie ein Angehöriger des gemeinen Völkchens zuvor betreten hat. Im Osten war das wohl immer schon so. Also ist das dort sogar eher eine Rückkehr zur Normalität.

Gibt es denn noch einen Anlass bei dem sich die Volksvertreter und ihre Anhängsel einfach in die Menge mischen könnten und alle zusammen feiern, gedenken oder trauern. Was auch immer. Mir fällt keiner ein. Wir leben in strickt getrennten Welten und der Graben wird von Tag zu Tag größer. Wieso sollte das einmal im Jahr anders sein? So wie es in Halle abgelaufen ist, ist es wenigstens ehrlicher. Keine Seite muss der anderen noch etwas vormachen. Inzwischen kann man einander ganz offen zutiefst verachten.

ppq hat gesagt…

jodel, ich gebe dir recht, die entfremdung ist mit händen zu greifen. zwei parallele welten, zwei planeten fast

Anonym hat gesagt…

an die nächste Laterne bindet?
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Kommt nicht. Jamais. Auf Pipi blödeln sie über einen, in der Tat nicht unwahrscheinlichen, größeren Bläckáut, und dann würden die Schlafschafe aus Schmerzen lernen. Lächerhaft. Die Überlebenden würden sich aufhucken lassen, schuld daran wäre, daß die "Energiewende" so lasch und halbherzig betrieben worden wäre.

Anonym hat gesagt…

>an die nächste Laterne bindet?
>---------------------------------
>Kommt nicht. Jamais.

Ich hatte durchaus keinen Aufstand der Schlafschafe gemeint. Die Phantasie führt da zu wahrscheinlicheren Szenarien, Laternen betreffend.

Anonym hat gesagt…

zu wahrscheinlicheren Szenarien ...

Nicht feindselig gemeint, rein sachlich: Als da wären?

Anonym hat gesagt…

>Nicht feindselig gemeint, rein sachlich: Als da wären?

Wenn die importierten Armeen die Diskussion über Energiewenden beenden, indem sie den Diskursteilnehmern unter anderem das Wort abschneiden.

Anonym hat gesagt…

beenden, indem sie den Diskursteilnehmern ...

Jau. Ist angenommen.