Gesicht zeigen: Sozialdemokratie gegen die Pandemie

Zuerst waren da diese verstörenden Bilder des grün-liberalen Kennenlernens, vier Personen, ungezwungen lächelnd, eng beieinanderstehend schon beim ersten Date, ohne Maske und parteiübergreifend ohne jede Virenangst. Versehen oder Familienverband, der fauxpax ging in den eigentlich so verstoßsensiblen Medien glatt durch, so glatt, dass sich nur Stunden später Nachahmer fanden: Als die neue SPD-Fraktion im Bundestag, auch dank dessen endlich erreichter Rekordgröße nur noch knappe 100 Sitze kleiner als seinerzeit unter Franz Müntefering, sich zu ihrem Familienfoto zusammenfand, vergaß die bunte Truppe im Siegesrausch die Maskenpflicht.  

Umstrittene Einschränkung

Das wiederum wurde scharf kritisiert - irrigerweise, wie der Bundestagsarzt Werner de Gambio im Gespräch mit dem Newsdienst PPQ.li bestätigt. Das Bild zeige aus seiner Sicht zutreffend, wie auf niedrige Inzidenzen und hohe Durchimpfungsraten reagiert werden könne. Dass Bundestagsabgeordnetegewordene während der Pandemie im Hohen Hause hätten Masken tragen müssen, so lange Kameras in der Nähe gewesen seinen, habe zu den umstrittensten Maßnahmen der Corona-Politik gehört. "Denn das Mandat ist ja ebenso wie der Mandatsträger frei."

Für die neuen Abgeordneten, die nun erstmals in den Bundestag einzögen, sei dies nicht mehr zumutbar, glaubt de Gambio, der im selbstbewussten Auftritt von Grün, Rot und Geld ohne Maske ein Signal sieht, nun alle Vorsicht fahren zu lassen. "Ostbeauftragte und Karl Lauterbach schlagen zwar immer noch Alarm, aber dass die Maskenpflicht Abgeordnetinnen daran hindert, Gesicht zu zeigen, beeinträchtigt das Funktionieren unserer Demokratie doch schwer."

Freedom Day der Demokratie

Nach dem schwerregierbaren Thüringen, das bereits am 21. September die Maskenpflicht ab den 5. Klassen abgeschafft hat, und Großbritannien, das seit Monaten weitgehend ohne Corona-Auflagen lebt, steht nun auch der Bundestag vor seinen freedom day. Ab der ersten Sitzungswoche entfalle in Berlin die Maskenpflicht nicht nur für Schüler bis zur sechsten Klasse, sondern auch für gewählte Parlamentarier. „Wir begrüßen das – es ist ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität für die Volksvertreter“, sagt de Gambio. Dass diese Maskenpflicht im Parlament nichts gebracht habe, wie Kritiker oft behaupten, sieht der Mediziner allerdings nicht so. „Durch das Tragen der Maske haben die Abgeordnetinnen immer signalisiert, dass sie Menschen wie du und ich sind, die genauso Händewaschen und Abstand halten."

Deshalb habe man auch schauen müssen, dass man nicht zu früh lockert, weil ein falsches Signal nach draußen in die Städte und Dörfer nur Wasser auf die Mühlen von Leugnerinnen und Leugnern gewesen wäre. „Natürlich zahlen aber auch die Abgeordneten einen Preis dafür, aber im Großen und Ganzen sind sie mit dem Tragen der Maske gut zurechtgekommen - Kritik nach gelegentlichen Aussetzern inklusive." Es seien eher die Bürgerinnen und Bürger gewesen, die damit ein Problem gehabt hätten, erläutert er. Dass es nun auch innerhalb des Parlament aufgrund des Super-Spreader-Events beim Fototermin der SPD-Fraktion und der aufgehobenen Maskenpflicht künftig wieder zu erhöhten Infektionsraten kommen könnte, hält der Mediziner durchaus für möglich: „Wenn wir wieder einen Schritt im Infektionsschutz zurück gehen und die Maskenpflicht abschaffen, dann dürfen wir uns natürlich nicht wundern, wenn dann auch Infektionen wieder zunehmen“, sagt er.

Gefahr gering wegen geringen Anteils

Da aber nur ein geringer Anteil der Sozialdemokraten aus dem Osten Deutschlands komme, der aufgrund derzeit niedriger Inzidenzen viel stärker als westdeutsche Demokratiekerngebiete von Inzidenzanstiegen bedroht werde,  "glauben wir, dass die Infektionen nur in einem vertretbaren Maß und nicht übermäßig zunehmen werden". „Denn wir wissen ja mittlerweile, dass sich schon geraume Zeit kaum noch Prominente öffentlichkeitswirksam infizieren." 

Da zudem mittlerweile auch ein Großteil der Abgeordneten geimpft sei, verringere sich das Infektionsrisiko ohnehin und entstehende Infektionen verliefen in der Regel harmloser, so dass eine allmähliche Durchseuchung aller Fraktionen in Sichtweite komme. "Das ist zwar ein heikle Frage, aber das macht ja dann eigentlich sowieso keinen Sinn, es sei denn die Krankenhäuser füllen sich wieder mit schweren Verläufen.“ An eine Wiedereinführung der Maskenpflicht im Bundestag glaube er deshalb nur bei zunehmender Erkrankungsrate. 

Wenn wir wieder einen deutlichen Anstieg der Infektionen und schwerer Verläufe bei Parlamentarierinnen sehen, müssen wir natürlich die Maskenpflicht im Hohen Haus wieder erwägen", so der Mediziner. Zunächst müsse man aber einfach beobachten, wie sich das Infektionsgeschehen ohne die Maskenpflicht entwickele. „Wir freuen uns jetzt erst Mal, dass die Maskenpflicht hier im Bundestag entfallen ist", sagt der erfahrene Arzt, "und dass es die SPD-Fraktion war, die den Mut hatte, als erste wieder beinahe komplett Gesicht zu zeigen."