Samstag, 2. Oktober 2021

Einheit mit Abstand: Warum die weißen Bordsteinkanten fehlen

Im sächsischen Halle wird mächtig gefeiert.

Zu ihrem 31. Geburtstag wird die deutsche Einheit mit Abstand gefeiert, im geschlossenen Raum, aber von einem handverlesenen Benutzerkreis. Das Jahr der großen Gemeinsamkeit, die schon den Wahlkampf in ein Schaulaufen ohne Anfassen verwandelt hatte, findet seinen Höhepunkt in einer zünftigen Party im "sächsischen Halle" (Abendblatt), der als zweiteiliges Triptychon gestaltet wird: Ein Festakt ergänzt einen Gottesdienst, das Volk bleibt "draußen vor der Tür" (Wolfgang Borchert), diesmal nicht mit den üblichen Würsten, Bierständen und Popmusikkonzerten ruhiggestellt. Dafür gibt es Hamburger Gitter, hinter denen die Anwohner der beiden Festivalgelände schon mal die Mobilität der Zukunft ohne eigenes Auto proben dürfen.

In der gefegten Stadt

Kein rein, kein raus auf vier Rädern, denn die Sicherheit der herbeigeeilten Elite steht auf dem Spiel. Schon Wochen zuvor wurde die Stadt aufgeräumt, selbst Ecken, in die keiner der hochwohlgeborenen Gäste auch nur einen Fuß setzen wird, wurden gefegt und gewienert, Fassaden wurden geputzt und Dächer repariert. Fünf Millionen ließ der finanziell eigentlich traditionell klamme Gastgeber Reiner Haseloff sich das kosten, schließlich geht es um nichts weniger als den Höhepunkt der Bundesratspräsidentschaft des Christdemokraten, die schon damals im Herbst 1989 Ziel und Traum unzähliger Montagsdemonstranten gewesen war.

So feiert sich hier nun die neue Republik wie ehemals die alte, nur die weißen Bordsteinkanten, die früher zu jedem feierlichen Moment gehörten, fehlen ebenso wie die Ehrentribüne und die vorbeidefilierenden Volksmassen. Während nebenan in Leipzig mehr als 30.000 ihrem österreichischen Fußballklub zujubeln, konnten zur Einheitsfeier zur 300 Gäste geladen werden. Zum Kostenpunkt von 16.000 Euro pro Nase gibt es für die aus allen Ecken der Republik herbeigeeilte Politikprominenz salbungsvolle Reden und innige Gebete, für die Bevölkerung eine Live-Übertragung auf Großleinwände und Glaskästen, an denen sich die Einheimischen beim Betrachten der Errungenschaften der altbundesdeutschen Bruderländer die Nasen plattdrücken können.

Klassentreffen der Merkel-Ära

Deutschland kann sich das leisten, denn die Bundesregierung hat gut genug gewirtschaftet, um mit diesem letzten Klassentreffen des Personals der Merkel-Ära Abschied zu feiern. Hier sind sie alle noch einmal beisammen, die Männer und Frauen der großkoalitionären Bundesrepublik, in der CDU oder SPD oder Grüne regieren oder mitregieren, manchmal auch die FDP oder die Linke, aber nie niemand sonst. Eine Gruppe von Menschen, deren Seilschaften durch die Jahre zurückzuverfolgen sind. Alle haben sie schon mal mit allen, keiner tut sich wirklich was, denn man teilt prinzipiell die gleichen Werte und Grundüberzeugungen: Besser, man leitet die Menschen als dass man sie einfach lässt. Besser, man selbst wirft das Geld zum Fenster hinaus als andere mit dieser Aufgabe zu belasten.

Immer war das so und immer enger rückte man zusammen, je kälter es draußen wurde und je weniger dankbar sich die Wählerinnen und Wähler sich zeigten. Doch seit Monaten fasert das Seil auseinander, die Ersten ziehen sich zurück, die Letzten werden die Letzten sein und auch ihr Schicksal wird sich jenseits von Festakt und Festgottesdienst und Fahrdienstlimousine zurück ins zivilisierte Berlin vollenden. Jetzt aber versammeln sie sich noch einmal hinter den Hamburger Gittern, die seinerzeit dem G20-Gipfel zu weltweiter Beachtung verholfen hatten und die nun dafür sorgen, dass das gemeine Volk nicht eindringt. 

Einheitsbotschafter sparen Klima

Als Ersatz sind ein paar Einheitsbotschafter und *innen da, aus jedem Bundesland zwei, das hilft Klima sparen und schafft Platz für  die Wahlsiegerin Annalena Baerbock, die strahlt, denn es sind Tage wie diese, die sie niemals vergessen wird. Auch Wahlsieger Armin Laschet ist gekommen, einer von der Sorte Anführer, die Konsequenzen aus einer Niederlage zieht, indem er seinen Hund vergiftet. Und Olaf Scholz, einer der Väter des Hamburger Gitters, wird sich vor Ort im Osten davon überzeugen, dass die Gittereinheit vollendet ist. Phoenix, das Ereignisfernsehen, wird anlässlich des großen Tages erstmals in den Osten schalten, der Bundespräsident wird sprechen, aufgestellt in einem Nostalgienachbau des Palastes der Republik. Mit Öffis wird die Festgemeinde dann zur Gedenkgottesdienstkirche gefahren, wo es dann noch einmal mit höchster Konzentration um "Erfolge, Chancen sowie Herausforderungen der Deutschen Einheit" (Haseloff) gehen wird.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Wenn der Werktätige im Bilde nur ahnte, wieviel Müll man da morgen wieder abladen wird.