Donnerstag, 16. September 2021

Endspurt im Schneckenrennen: Die Gnade des Vergessens

"Aufarbeitung, Anerkennung und Aufbruch" hatte die SPD dem Osten vor zwei Jahren versprochen. Aber siehe. es geht auch ohne.

Es ist der Atem der Geschichte, der dem Kanzlerkandidaten der SPD in die Segel bläst. Seit Angela Baerbock als eigentliche Hoffnungsträgerin der der fortschrittlichen deutschen Medien im Zuge ihrer Plagiatsaffäre aus dem Schneckenrennen ums Kanzleramt ausscheiden musste,hat ein Favoritenwechsel stattgefunden, der an ein Zauberkunststück erinnert. So sagenhaft und unglaublich die Nachrichten im Frühjahr klangen, dass jeder vierte Deutsche plane, sein Kreuz am Wahltag bei der Partei des Bionadeadels, der Lastenradzukunft und der grünen Physik zu machen, so sehr übertrifft die aktuelle Sage davon, dass der in Jahrzehnten in allerlei Spitzenämtern unauffällige Olaf Scholz es nunmehr sei, dem die Herzen nur so zufliegen, jenes Frühlingsmärchen vom unaufhaltsamen grünen Erblühen.

Das Ende des grünen Erblühens

Doch es ist amtlich. Ein Wahlkampf, der inhaltlich zu annähernd 100 Prozent aus Umfrageergebnissen besteht,  die jeweils von Kandidaten, Parteien, Wahlkämpfern und weitsichtigen Kommentatoren gewichtet und bewertet werden, kulmuliert im Endspurt in der Auslassung jeder inhaltlichen Auseinandersetzung. Deutschland, nach 16 Merkeljahren im Begriff, sich aus der Riege der Industrieweltmächte zu verabschieden, diskutiert nicht die Fragen, die anstehen. Sondern die Illusionen, die es sich macht: Scholz tritt als "Klimakanzler" (Scholz über Scholz) an, Laschet will "ein zweites Wirtschaftswunder" und Baerbock ist sich sicher, dass "die Sonne kostenlos jeden Tag genug Energie auf die Erde schickt, um die Menschheit ein ganzes Jahr zu versorgen".

Die kleine Alltagsfrage, wie all die geschenkten Terawattstunden eingesammelt, gespeichert und dorthin verteilt werden können, wo "der Strom weiter aus der Steckdose kommt" (Baerbock) wird sich schon irgendwie lösen lassen. Kein Wort dazu, jeder Satz könnte Teile der Bevölkerung verunsichern. Wie auch ein Streit um die künftige Corona-Politik oder einer um die heikle Frage der Zuwanderung. Oder die Tatsache, dass die EU nach 20 Jahren Euro nicht mehr in der Lage wäre, ohne den deutschen Bürger zu überleben. Wie im Schlängellauf umkurven die drei hüftsteifen Kandidaten alle Zukunftsfragen, um sich gegenseitig mit Gendersternchen und Mindestlohnforderrungen zu beharken. 

Ausstieg aus allem

Zwischen CO2-Steuererhöhung und Benzinpreisbremse, Tempo 130 und Fahrradwegeausbau und der ganzen Liste der bis 2030 oder 2035 oder 2040 oder 2045 anstehenden Ausstiege von Braunkohle über Kernenergie und Verbrenner bis Ölheizung, Gasversorgung und Kurzstreckenflug bleibt kaum Kraft, einen Hauch Atem an viel näher liegende Probleme zu verschwenden, die sich ja doch nicht lösen lassen werden. Viel lieber als die Gegenwart regieren Politiker schon seit Jahren die ferne Zukunft: Eben erst beschloss der Bundestag nach vier langen Jahren Diskussion eine Rückkehr zum in der DDR bewährten Anspruch von Grundschülern, den ganzen Tag in der Schule verbleiben zu müssen, wenn das die Eltern wünschen. Umsetzungstermin ist 2026, bis dahin sind nun andere, heute noch gar nicht gewählte Bundestage  in der Pflicht, die Grundlagen für die Ausbildung hunderttausender zusätzlicher Erzieher und die Finanzierung von zehntausenden neuen Horten sicherzustellen.

Eine Methode, die immer klappt. Als die SPD, damals noch ein allgemein anerkanntes Auslaufmodell, das von den letzten Getreuen mehr aus Mitglied gewählt wurde, im Februar 2019 gar nicht mehr wusste, was man überhaupt noch tun könnte, um das unaufhaltsam näherrückende Ende wenigstens hinauszuschieben, beschloss der Parteivorstand, dass es Zeit sei, sich um den Osten zu kümmern, jenes fremde Land, das ein kauziger und immer wieder zu Kummer Anlass bietender Menschenschlag bewohnt. Das Grundsatzpapier  "Jetzt ist unsere Zeit: Aufarbeitung, Anerkennung und Aufbruch", dekreditierte das zentrale strategische Gremium der ältesten deutschen Partei damals, fest entschlossen, dort, wo "Sozialdemokrat" seit den hasserfüllten Olsenbande-Filmen als Schimpfwort gilt, ranzurücken an die verlorenen Seelen und kalten Herzen.

Schnelles und gründliches Vergessen

Olaf Scholz unterschrieb damals natürlich mit. Der gebürtige Osnabrücker mit Wohnsitz in Potsdam ist in seiner eigenen Vorstellung genauso Ostdeutscher wie Annalena Baerbock, die auf ihrer Webseite angibt "aus Potsdam" zu "kommen". Sich um seine Nachbarn und Wähler*innen zu kümmern, ist dem Herren der Cum-Ex- und Wirecard-Affären wichtig. So wichtig sogar, dass der Kandidat im Mai noch über eine spezielle Agenda für die Abgehängten und Aufgebenen verfügte: Die "Mission Zukunft Ost" wirkte sofort, die es gab einen "Ostkonvent", der selbst in den Gemeinsinnmedien wahrgenommen wurde. Ein riesiger Erfolg für den "Joe Biden von Deutschland" (WOZ), der ihn immer noch genießt: Seitdem gilt das Thema Ostdeutschland in der SPD-Kampa ebenso als abgearbeitet wie der große Ostdeutschland-Plan, von dem niemals wieder die Rede gewesen ist.  

Politikdarstellung lebt vom schnellen und gründlichen Vergessen, von der Betonung des Moments, vom Jetzt, vor dem nie etwas war und auf das nie etwas folgt. gemütlich leben die Kandidaten in der Gewissheit, dass gnädige Medien sie vielleicht eben so gerade noch auf etwas festnageln könnten, was sie eine Minute zuvor gesagt haben, niemals aber nach Dingen fragen, die länger zurückliegen als ein Wahlversprechen. Selbst dort, wohin "Aufarbeitung, Anerkennung und Aufbruch" adressiert waren, herrscht kein Bedarf an Aufklärung. Wozu im Vergangenen wühlen, wozu den aktuellen Favoriten auf die Hoffnungsträgerschaft mit Dingen konfrontieren, von denen er inzwischen sicher selbst nichts mehr weiß?



2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich wähle die Partei, die im Bietergefecht zuerst bei 100 Euro Mindestlohn und Energieausstieg bis Weihnachten 2021 ankommt.

Anonym hat gesagt…

@ 1. Anonym: Kurz und humorvoll auf den Punkt gebracht, aber mir bleibt trotzdem das Lachen im Hals stecken.
So sinnse, etliche jedenfalls: Och, die wollen die Mieten senken / Renten erhöhen! Die wähle ich!
Noch grausamer aber sind die Spießerlein, z.b. auf Pipi einige, die "taktisch klug" wählen wollen, "um RRG zu verhindern".
Was Athaulf Güttler Mitte der Zwanziger in "Mein Krampf" zum bürgerlichen Parlamentarismus schrieb, kann man mit grimmiger Genugtuung bestätigen, auch wenn dort sonst einiges an Mist steht.