Zahlen, bitte: Nichts wissen ist Macht

Raue Kehle: So wirkt Delta, vermutlich.

Eines ist gewiss in der Corona-Krise: Niemand weiß, wovon er spricht. Das aber in aller Entschiedenheit. Dass das Impfziel der EU von 70 Prozent auch einen Monat der feierlich verkündigten Zielankunft nicht erreicht ist, mag so auch nicht richtig sein: Neue Umfragen, bei denen Nicht-Geimpfte es besser fanden, anzugeben, dass sie geimpft sind, werfen Zweifel an der Buchhaltung des Robert-Koch-Institutes auf. Oder aber an der Ehrlichkeit der Bürgerinnen und Bürger, denen mehr daran liegt, guten Willen zu zeigen als brauchbare Statistiken erstellen zu lassen. Oder es ist andersherum und Millionen sind geimpft, ohne dass sich das in den Meldungen an das RKI niedergeschlagen hat.  

Wille und Vorstellung

Verwundern würde auch das nicht, denn immerhin hatte die Bundesseuchenbehörde über Monate hinweg nicht existierende Intensivbetten als tragenden Pfeiler der Pandemiebekämpfung mitgezählt, ohne auch nur ahnen, dass die fürchterliche Lage noch viel fürchterlicher hätte sein können, wären die wahren Zahlen bekannt geworden. Niemand weiß nichts, jedenfalls nichts Genaues, aber als Basis kommender Beschlüsse ist das genauso gut wie es als Grundlage der Strategie der Vergangenheit taugte. Annahmen und Theorien ersetzten beständig sicheres Wissen. 

Bis heute, 18 Monate nach Ausbruch der Seuche, https://www.quarks.de/gesundheit/was-man-ueber-schutzmasken-in-zeiten-von-corona-wissen-muss/ ist unklar, ob Masken schützen oder vor allem den Eindruck von Schutz vermittelt, wie viele der Infizierten tatsächlich an einer Erkrankung oder mit dem Virus sterben und ob ein positiver Antikörper-Test anzeigt, dass der Getestete COVID-19 durchlebt hat oder nur mit einem anderen, harmloseren Coronavirus der Art infiziert war, "die jeden Herbst auftreten und oft einen Schnupfen hervorrufen" (Universität Hannover). 

Ungewissheit erleichtert die  Regierung

Gerade die Ungewissheit aber erleichtert das Regieren in dunklen Zeiten. War der Wissendurst in der ersten Phase der Pandemie noch groß - ältere Überlebende der zurückliegenden Medienmonate erinnern sich an die Heinsberg-Studie, an Abwasserkontrollen und in Aussicht gestellte großflächige Erhebungen zur Ausbreitung des Virus - hat das RKI seit Juni 2021  keinerlei neue Erkenntnisse mehr vorgelegt.

Der Rückgang der Inzidenzzahlen im Sommer, in beiden Corona-Sommern um jeweils eine Zehnerpotenz -, die epidemiologisch kaum zu begründende Infektionsentwicklung in Indien und der Inzidenzabriss in Großbritannien, trotz voller Stadien bei der EM, bleibt so ebenso ein Rätsel wie das Ende der Nebenwirkungen beim AstraZeneca-Impfstoff quasi im selben Augenblick, in dem die EU den bis dahin guten Ruf des widerborstigen Herstellers und seines Vakzins zerstört hatte. 

Unheil droht überall

Sicher war nur, dass der ins "Unheil" laufen würde, der sich in falscher Sicherheit wog. Boris Johnson in Großbritannien riskierte alles und von Deutschland aus konnte man das schlimme Ende sehen. Auch Ungarn, von seinem Diktator zum Ruhm der Fußballnation ins Offene gezwungen, werde die Rechnung bezahlen müssen für nationalen Größenwahn und unerlaubtes Vertrauen in den falschen Impfstoff, diese Brühe aus Putins Laboren, der weltweit 30 oder 40 Millionen Mal verimpft wurde. Ohne dass die  europäische Zulassungsbehörde bislang Zugriff auf Daten hat, die  die "vielen offenen Fragen zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen" (BR) in gleicher Weise beantworten könnten wie sie für den Biontech-Impfstoff nach den klinischen Tests an "14.000 bis 18.000" (Paul-Ehrlich-Institut) für ausreichend erachtet worden waren.

Wissen ist wichtig, aber Wissen ist praktischer, wenn es nicht vorhanden ist. So lange Delta ein Schatten an der Wand ist, dem sich tödlichere Verläufe, schwerere Fälle und längeres Leiden zuschreiben lassen. Politisch ein Geschenk, denn auch wenn sich Delta dem Augenschein von sechs Monaten unter der Bedrohung nach langsamer ausbreitet als sich alle vorhergehenden Varianten zuvor ausgebreitet haben, ist doch die Ungewissheit hilfreich bei der Aufrechterhaltung eines zackigen Pandemieregimes. Nichts zu wissen ist so kein Fehler, sondern ein zentraler Baustein des Regierens mit der Angst. Kein Fehler, sondern das letzte bisschen Häppchen Plan, das es überhaupt gibt.